Laurids Bruun
Van Zantens Insel der Verheißung
Laurids Bruun

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Dem Unbekannten entgegen

Nachdem die Sonnenbrüder gesehen hatten, wie der letzte Rest der menschlichen Gesellschaft sich mit dem Rauchstreifen des Dampfers in dem blauen Gesichtskreis aufgelöst hatte, begannen sie den Strand zu untersuchen.

Nördlich von der Bucht, in der sie an Land gesetzt waren, fiel die Insel sanft zu dem kristallklaren Wasser ab, das Daniel die Lagune nannte, weil es innerhalb des Korallriffs lag.

Dort, auf einer kleinen Landzunge, gingen die Palmen ganz bis an den Strand. Sie klammerten sich an den Korallboden und reckten ihre schlanken Körper über das Wasser, das sie mit einer durchsichtigen Klarheit spiegelte.

Auf der anderen Seite der Landzunge entdeckten sie einen kleinen Fluß, der sich versteckt zwischen Ufern dahinschlängelte, die so dicht von Gebüsch und hochgewachsenen Gräsern bestanden waren, daß sie undurchdringlich schienen.

Der Rücken des Flusses bebte in dem flimmernden Sonnenschein, wie ein junges Mädchen, das nackt zum Strand läuft, um ein Bad zu nehmen.

Während Daniel in Betrachtungen über diese Unberührtheit, die sich zum erstenmal vor bewußten Menschenaugen entkleidete, versunken stand, ging Pieter Goy hinunter und schmeckte das Wasser. Es war süß und lau wie Regenwasser, das nachts in einer Tonne im Garten gestanden hat.

Der Maler bahnte sich einen Weg längs des Ufers. Die Gräser reichten ihm bis an die Brust; aber sie gaben willig nach; und je höher er den Felsabhang hinaufkam, desto niedriger wurden sie. Schließlich schimmerte der Korallboden durch, nur von etwas steifem, grünem Moos bewachsen.

Er winkte den anderen. Sie folgten ihm im Gänsemarsch längs des Flusses, zwischen Palmen und Gras, bis das Ufer sich zu einer Kluft senkte, die von Korallblöcken ausgefüllt war.

Hier teilte der Fluß sich in unzählige kleine blitzende und springende Bäche.

Sie hüpften von Stein zu Stein und folgten der Kluft bis in ihre Tiefe.

Breite, dunkelgrüne Bäume reichten sich über den Steinen die Hand. Zwischen den Blättern, die so groß waren wie eine Männerbrust, hingen spiralförmige Kätzchen herab, die im Wind schaukelten. Früchte, so groß wie Kokosnüsse, aber kugelrund, leuchteten saftiggrün durch das Blätterdunkel.

»Das sind Brotfruchtbäume!« rief Daniel, der gründliche Studien vor seiner Abreise gemacht hatte, – »und die großen, grünen Flügel, die dort höher oben winken, sind Pisang-Bananen. Könnt ihr die Dolden dicht an den violetten Stämmen sehen? Sie sind beinah reif.«

Als sie die Pisangs erreichten, sahen sie, daß die Kluft von einem steilen, mannshohen Abhang geschlossen wurde.

Von dort war gewiß mal ein Wasserfall heruntergestürzt, denn die Erde war ganz weggewaschen, und der bloße Korallenkalk guckte in Knoten und Knollen und Warzen hervor.

Irgendwo trat der Abhang wie ein Dach hervor. Daniel schlug vor, daß sie die Höhle, die dadurch gebildet wurde, als gemeinsames Depot benutzen wollten, denn sie hatte den Wald im Rücken, den Fluß zu ihren Füßen und lag dicht am Meer.

Außerdem war sie gegen Regen geschützt und ließ sich mit einem Wall von Steinblöcken, die massenweise herumlagen, leicht bis zum Dach schließen; den Wall konnte man mit Laub dicht machen, so daß das Ganze in die Umgebung hineinpaßte.

Sie machten sich gleich daran, ihr Gepäck hierher zu schaffen. Paarweise trugen sie Koffer und Kisten längs des Weges, den sie gekommen waren. Als sie endlich damit fertig waren, hielten sie Feierabend.

Pieter Goy machte Feuer vor der Höhle, es waren trocknes Gras, verwelkte Lianenschnüre und trockne Reiser in Menge da.

Der kräutrige Rauch stieg unter den dunklen Brotfruchtbäumen in die Höhe, während die Flammen in dem starken Tageslicht verblaßten.

Sie selbst saßen im Schatten unterm Abhang und blickten über die Kluft mit ihren leuchtenden, wehenden Pisangflaggen, dem dunklen, massiven Brotfruchtlaub, über den blauen Himmel, an dem eine weiße Wolke jenseits der Bäume in dem hellen Sonnenschein leuchtete.

Pieter Goys guter Kaffee dampfte ihnen aus dem Kessel, der auf Zigeunerart an drei Zweigen aufgehängt war, entgegen. Sie rauchten den letzten Rest ihres holländischen Tabaks und nahmen schweigend Platz, um sich in die Herrlichkeiten der wohlwollenden Natur hineinzuträumen, die sie verwundert mit geheimnisvollen, dunkelgrünen Augen anstarrte.

Hendrick sprang in die Höhe.

»Wer hat da gelacht?«

Keiner von den anderen hatte etwas gehört. Sie geboten ihm ärgerlich Schweigen; der Maler aber starrte noch lange in die Baumstämme unten in der Kluft, denn ihm schien, als ob sich etwas lebendes Braunes von dem Grünen abhob; er war überzeugt, daß es die Affen seien, die sie von neuem begrüßten und im verborgenen hinter den Bäumen beobachteten.

Sie konnten es kaum abwarten, ihr neues Leben zu beginnen. Bevor die Sonne unterging, öffneten sie die Kisten und nahmen heraus, was jeder von ihnen auf seiner einsamen Wanderung durch die Insel mitnehmen sollte.

Das Ganze war schon längst von Daniel geordnet worden. Sein Gehirn hatte mit all diesem getummelt als wäre es eine Vorbereitung zu einem neuen Schauspiel und nicht die Einweihung zur Morgenröte der Menschheit, zur Wiedererstehung des ursprünglichen Lebens an dem klopfenden Mutterherzen der Natur.

Schiffszwieback und Konserven für eine Woche, ein Topf, um Wasser und Gemüse zu kochen, Löffel, Messer, Streichhölzer, eine wollene Decke, eine Axt. Das war alles. Der Maler hatte außerdem seine Malutensilien, Jakob Beer seinen Violinkasten. Zum Schluß bekam jeder ein Tagebuch ausgehändigt. Daniel verlangte als Leiter und Bezahler der Expedition, daß sie ein Tagebuch führen, dessen Inhalt sein unbedingtes Eigentum sein sollte.

Die Sonne ging mit Purpurwolken unter, die sich wie Flecke in einem Tigerfell über den ganzen westlichen Himmel verstreuten.

Keine Dämmerung ebnete den Weg zwischen Tag und Nacht. Alles Grüne um sie her wurde plötzlich zu Schatten, die das Licht aussperrten.

Das zarte Glockenspiel von tanzenden und summenden Insekten verklang. Ein ferner Vogelschrei. Kleine unbekannte Tiere starrten sie unter dem schwarzen Hut der Nacht mit leuchtenden Phosphoraugen an.

Das war das letzte, was sie sahen, bevor sie im Schutz des Abhanges in ihrer neuen Welt einschliefen, in wollene Decken eingehüllt, den Kopf auf dem Rucksack.

Vogelschrei weckte sie.

Das Licht glitzerte bereits in den Bächen auf dem Grund der Schlucht. Durch die Kristallglocke der Luft leuchtete der Himmel wie ein blauer Diamant, mit unendlich vielen Blinkflächen.

Ein frischer Luftzug kam über die Kluft von dem schimmernden Meer herüber. Die Luft war so rein und dünn, daß sich selbst die fernsten Baumwipfel klar und scharf vom Himmel abhoben.

Hendrik Koort sprang auf und jauchzte den lauschenden Baumkronen entgegen, die noch nie die Zauberei einer menschlichen Stimme gehört hatten.

Daniel, der nicht singen konnte, sprang wie ein junger Widder herum, stolz über sein Werk. War er es nicht gewesen, der die Sonneninsel gefunden hatte? Jetzt nahm er sie wie sein rechtmäßiges Erbe in Besitz.

Jakob Beer vergaß seine Seekrankheit; er hatte die ganze Nacht davon geträumt. Er warf die Decke ab und streckte seinen schiefen Körper in dem allgütigen Licht, das ihn umfloß.

Selbst Pieter Goy vergaß das notwendige Bedürfnis des Körpers und starrte verwundert mit seinen runden, blauen Augen in die schwellende Üppigkeit.

Hendrik ging zum Fluß hinunter, um Wasser für Kaffee zu holen, vergaß es aber und nahm statt dessen ein Bad.

Es dauerte lange, bevor Goy Feuer angezündet und Kaffee für das Frühstück gemacht hatte, das ihre letzte gemeinsame Mahlzeit sein sollte.

Als sie gegessen und getrunken hatten, gab Daniel das Signal zum Aufbruch.

Sie entledigten sich ihrer modernen Toilette, behielten nur Strohhut, Hemd, Hosen, Strümpfe und Schuhe an; es war aber beabsichtigt, daß sowohl Schuhe wie alle übrigen Kleidungsstücke später durch selbstgefertigte Naturbekleidung ersetzt werden sollten.

In der starken Wärme war es eine wahre Wohltat, all das unnötige Zeug loszuwerden. Der Maler ging noch einen Schritt weiter, indem er sich auch des Hemdes und der Socken entledigte, die er in seinem Rucksack einpackte.

Die Kisten, die eine Reserve von Eßwaren, Medizin und dergleichen Dingen enthielten, wurden geschlossen und die Öffnung der Höhle sorgfältig verdeckt. Vor wem sie ihr Hab und Gut auf dieser Insel, wo es weder Menschen noch andere große Tiere gab, versteckten, das machten sie sich selbst nicht klar. Es war wohl nur eine alte europäische Angewohnheit.

Sie erstiegen den Abhang über der Höhle. Von hier hatten sie einen Blick nach Südosten durch die Kluft über den Fluß hinweg, der zwischen den Korallblöcken glitzerte. Die Aussicht zu den drei anderen Weltecken wurde von den Wäldern versperrt. Im Nordwesten standen sie so dicht wie eine grüne Hecke, in der Ferne hoben Brotfruchtbäume sich stark hervor, und hier und dort ließ eine vereinzelte Kokospalme ihre Blattfinger über dem Gehölz erzittern. Im Nordosten stieg das Terrain sehr stark, und die Bäume standen dort verstreuter. Im Süden konnte man eine Lichtung zwischen den Stämmen unterscheiden.

Daniel hatte es so angeordnet, daß Jakob Beer zuerst wählen sollte, dann Hendrik Koort, darauf er selbst und zuguterletzt Goy. Jeder sollte in die von ihm erwählte Himmelsrichtung wandern, bis er einen Ort gefunden hatte, der ihm am besten als Wohnort geeignet schien.

Sie sollten sich den Weg gut merken, genau Rechenschaft über die Tage führen, und jeden Sonntag morgen wollten sie allesamt zum Depot zurückkehren und sich gegenseitig ihre Erlebnisse anvertrauen.

Jakob Beer trippelte lange auf seinen dünnen Beinen hin und her, bevor er sich entschließen konnte. Sein Rucksack und seine Violine drückten ihn jetzt schon. Dann entschloß er sich, nach Südosten zu gehen, wo es längs der Kluft, die er bereits kannte, bergab ging, und hinter der es Palmen gab, wie er wußte.

Hendrik Koort wußte dagegen sofort, wo er hin wollte. Im Nordwesten, wo das Gebüsch am dichtesten stand, lockte der Urwald ihn mit seinen verborgenen Schätzen.

Daniel wählte das steigende Terrain nach Nordosten. Er wollte den höchsten Punkt der Insel suchen, von wo er sein Reich überblicken konnte.

Pieter Goy blickte mit Ergebung nach Südwesten, – die Himmelsrichtung, die die anderen ihm gelassen hatten. Dort war nichts anderes als Wald und abermals Wald zu sehen. Goy aber war gleich mit sich im reinen, daß er am Wasser wohnen wollte. Da die Insel nur klein war, so mußte das Meer ja auch nach dieser Richtung zu erreichen sein. Und hatte er erst das Wasser erreicht, so wollte er der Küste folgen, bis er einen Fluß fand.

Sie gaben einander die Rechte. Daniel stand mit der Uhr in der Hand. Punkt Zwölf kehrten sie einander den Rücken, und jeder wanderte in seiner Richtung dem Unbekannten entgegen.


 << zurück weiter >>