Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Herrlich ist die Sonneninsel!« begann Jakob Beer mit seiner dünnen, begeisterten Stimme, die etwas heiser war von der Nachtluft, »herrlich, wenn die Sonne aus dem Meer emporsteigt, ihre güldnen Strahlen von Osten nach Westen spinnt und ihren ewigen Lobgesang in einem dämmernden crescendo über die Insel ertönen läßt.«
»Was ist crescendo?« fragte Pieter.
Hendrik hob den Kopf.
»Keine Unterbrechungen!«
Jakob Beer aber richtete seine klaren Augen auf Pieter und erklärte sanft:
»Crescendo ist, wenn Töne stärker werden, langsam und gleichmäßig, als wenn das Licht von Dämmerung zu helllichtem Tag übergeht, verstehst du!«
»Crescendo bedeutet ›zunehmend‹!« sagte Daniel.
Dann las Jakob weiter, während die kleinen Papageien über ihren Köpfen der merkwürdigen Stimme dieses merkwürdigen Tieres lauschten.
Jakob las von seiner ersten, suchenden Wanderung durch den Wald, von seiner Seele, wie sie losgelöst vom Körper in die grüne, unberührte Welt hinausschwamm und von ihren Urtönen erfüllt wurde, bis er, von der mächtigen Sinfonie überwältigt, in selige Träume versunken war.
Seine dünnen Finger griffen durch die Luft. Zwei rote Begeisterungsflecke zeichneten sich auf seinen mageren Wangen, während er beschrieb, wie die gewaltige Einsamkeit, die ihn zuerst schreckhaft und mutlos gemacht, ihn schließlich an ihr Herz genommen und wie eine Mutter ihr Kind in die Arme geschlossen hatte.
Er las vor, wie er sich sein Lager unter dem Dach der Palmen bereitet und Abend für Abend den geheimnisvollen Tönen gelauscht, die sich aus der unendlichen Stille unter den Bäumen auf ihn herabgesenkt hatten.
Goy sah ihn erstaunt an.
»Woher kamen denn die Töne, wenn es so unendlich still war?«
Jakob heftete seine traummüden Augen geistesabwesend auf Goys rundes Gesicht, Daniel aber verbot ärgerlich jede Störung.
Dann las Jakob Beer von der blendenden Klarheit des Morgenlichtes, wenn es durch die Stämme sickerte und seine Wangen küßte.
Er mußte seine Vorlesung unterbrechen, weil er einen Hustenanfall bekam. Als er wieder zu Atem gekommen war, erzählte er, wie er turmhohe Palmen hinaufgeklettert sei und die Trauben der Kokosnüsse getrunken habe. Er erzählte, wie er sich von dem Purpurfleisch der Bananen sättige, die gelb und schwer, in dichten Büscheln, unter großen wehenden Blattfahnen an den Stämmen hingen.
Pieter Goy hob interessiert den Kopf.
»Zeig mir bitte, wo sie wachsen, Jakob. Denn ich habe nur kleine grüne Bananen gefunden, die sich nur zum Kochen eignen.«
Daniel warf ihm einen strengen Blick zu, und Jakob beendigte seine Vorlesung, indem er die Einsamkeit als das größte Erlebnis seines Lebens pries.
»Einsamkeit mag ja ganz schön sein,« sagte Pieter Goy und kratzte seine Mückenstiche, »aber meiner Meinung nach ist es nicht so überaus amüsant, seine Stiefelspitzen zu beglotzen, anstatt eine ordentliche Zeitung zu lesen oder mit einem vernünftigen Menschen zu plaudern. Und mit der Stille ist es auch nicht weit her; denn jedesmal, wenn ich bei mir zu Hause ein Schläfchen halten will, machen die kleinen grünen Papageien einen heillosen Spektakel.
Niemand nahm Notiz von Goys Bemerkungen. Jakob steckte sein Tagebuch in die Tasche, während Hendrik Koort sich aufrichtete und mit seinem tiefen Baß vorzulesen begann.
Er berichtete, wie er blindlings unter hohen, düsteren Bäumen drauflos gewandert wäre, bis die Sonne plötzlich durch die Wolken gebrochen sei und ihre Strahlen durch den Blatthimmel gezwungen habe.
Er beschrieb das wundersame Farbenspiel auf den grünen Flächen und zarten Stengeln, und den Widerschein auf den reifen Früchten. Wie sein Auge sich mit einer Glut und einem Jubel gefüllt, von dem er nie geträumt und den er jetzt malen wolle.
Er sprach von der Sonne auf der Insel, als sei es eine ganz besondere Sonne, und von Farben, die noch kein Auge vor ihm gesehen hatte.
Dann berichtete er von seiner ersten Mahlzeit im Schoß der Natur, wie ein wunderbares Tier aus dem Laub aufgetaucht sei, sich ihm zutraulich, wie seinem Bruder genähert und aus seiner Hand gefressen habe.
»Da hast du mehr Glück gehabt als ich,« unterbrach Goy, »denn als ich aß, kam auch ein Tier. Es war eine Eidechse, mit klaren, grünen Augen und widerlichen Zacken auf dem Rücken. Sie mißfiel mir sehr. Sie saß da und gönnte mir mein Essen nicht, wollte sich nicht verscheuchen lassen. Ich aber hab sie ordentlich auf den Schwung gebracht und – –«
»Halt den Mund, bis du an die Reihe kommst!« zischte Hendrik und las weiter.
Er schilderte, wie er, gleich Robinson, in einem Baum Wohnung genommen habe, und entwickelte des weiteren, daß dies die ursprüngliche und ideale Menschenwohnung sei. Vor Gewürm und wilden Tieren geschützt, frei in der Luft schwebend und dennoch dicht am Herzen der Natur, von den ersten errötenden Strahlen der Natur geweckt.
Goy sah ihn erstaunt an.
»Hast du sieben Nächte in einem Baum geschlafen?«
»Ja.«
»Tun dir da nicht alle Glieder weh?«
Hendrik würdigte ihn keiner Antwort. Nachdem er über die Ereignisse der folgenden Tage leicht hinweggegangen war, schloß er mit einem Lobgesang auf die Sonneninsel, die ihre Kinder so mütterlich empfangen habe, wodurch diese nun endlich ihre richtige Heimat gefunden hätten.
Daniel hatte Jakobs und Hendriks Bericht aufmerksam angehört und seinen Beifall durch Nicken und kurze Ausrufe zu erkennen gegeben. Es befriedigte ihn, daß keiner der anderen der Insel so nahe gekommen war oder sich so gut eingerichtet hatte, wie er. Das bestärkte ihn in dem Gefühl, daß er der wahre Herr der Insel sei.
Im Bewußtsein dieses erhebenden Gefühls zog er sein Tagebuch aus der Tasche, setzte sich zurecht und fing an zu lesen, während Pieter näher rückte, um besser zu hören.
Er gab eine lange, poetische Schilderung von seiner Wanderung durch die Insel, die ihn stetig aufwärts geführt hatte. Er verweilte bei der einsamen Kokospalme und erzählte so feierlich von ihrer symbolischen Bedeutung, daß Goy aus alter Kindergewohnheit die Hände faltete.
Er sprach davon, wie alle Dinge der Sonneninsel ihm jetzt dienen sollten. Die Kokospalmen und die Bananen, die Tarokpflanzen mit ihren Wurzelknollen – vorausgesetzt, daß sie auf der Insel zu finden seien. Er beschrieb sie bis ins kleinste, falls einer der anderen auf sie gestoßen sei.
Er erzählte, wie er den wilden Yams gefunden habe, dessen Wurzel so nahrhaft wie Kohl sei und monatelang aufbewahrt werden könne. Er wüchse vor seinem Haus, von der Terrasse seines Gartens schlänge er sich zu ihm herauf.
Hendrik machte große Augen.
»Die Terrasse?« wiederholte er fragend.
Dann berichtete Daniel von seiner einsamen Burg, die er aus Erde und Stein, unmittelbar unter dem Gipfel der Felsenhöhe erbaut habe, von wo er sein ganzes Reich übersehen könne.
»Unser Reich!« verbesserte Hendrik.
Er beschrieb seine Burg, so daß Goy ein ganzes Haus, mit Mauern, Fenstern und Türen vor sich sah. Er beschrieb die Terrasse und den Garten, als seien sie das Werk seiner Hände. Er erzählte von der Treppe, die von der Burg heranführte und aufgezogen werden konnte, wie eine Zugbrücke des Mittelalters; aber er sagte nicht, daß sie aus gebrechlichen Lianen geknüpft sei.
Er sprach in den schönsten Worten von Freiheit und Herrschergefühl, so daß Pieter Goy beim Zuhören das Herz schwoll.
Als er aber von dem Zauber der Abendstunden sprach, wenn er wie ein König vor seiner Burg saß und übers Wasser blickte, während die Mücken sich in summendem Tanz vor seinen Augen schwangen, da konnte Pieter nicht an sich halten.
»Na, ich danke!« sagte er und kratzte seine dicken Arme, die voll von roten und schwellenden Erinnerungen waren.
Als Daniel seine Lektüre beendigt hatte, sah er sich mit erhobenem Kopf im Kreis um.
»Alle Wetter!« sagte Goy und sah ihn bewundernd an.
Er hatte von jeher zu Daniel aufgesehen; aber daß er all das in so kurzer Zeit ausrichten konnte, das war doch mehr als er erwartet hatte.
Auch Jakob gab rückhaltlos und mit vielen Worten seine Bewunderung zu erkennen.
Nur Hendrik Koort saß schweigend da und blickte anscheinend unberührt vor sich hin. Er war überzeugt gewesen, daß keiner der anderen seinen Robinsonbaum übertrumpfen würde, und statt dessen wartete Daniel mit Burg, Treppe, Garten und Terrasse auf.
»Na ja, du bist ja Dichter!« sagte er spöttisch.
»Was soll das heißen?« fuhr Daniel auf.
»Das soll heißen, daß Papier geduldig ist.«
Daniel wollte gerade eine heftige Erwiderung geben, besann sich dann aber, daß er ja der Herr der Insel sei; von dem Selbstbeherrschung und Überlegenheit verlangt würde.
»Zwischen den Sonnenbrüdern sollte Vertrauen und Eintracht herrschen!« sagte er bedächtig und wandte sich Pieter Goy zu.
»Jetzt kommst du!«
Pieter war es nicht gewohnt, sich schriftlich auszudrücken. Voller Respekt vor den prachtvollen Worten und wunderbaren Beschreibungen der anderen fürchtete er, sich lächerlich zu machen.
Er sah von einem zum andern und bat, ob es ihm nicht erlassen werden könne.
»Nein!«
»Ich glaub', ich hab' mein Tagebuch zu Haus vergessen«, versuchte er sich herauszureden und bekam einen roten Kopf.
»Unsinn! Du hast ja dein ganzes Gepäck mitgebracht.«
Da half Pieter kein Sträuben mehr.
»Man kann leicht über jemand lachen, der nicht wie ihr ans Schreiben gewöhnt ist!« sagte er, um vorzubeugen.
»Kein Mensch lacht!« sagte Daniel. »Fang an!«