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Als Jakob Beer Montag morgens zu seinem Schlafpisang zurückwanderte, war seine Stimmung nicht halb so hoffnungsfreudig wie damals, als er zum ersten Mal dem Unbekannten entgegenschritt.
Er dachte an die Wilden, die das Zeug gestohlen hatten, und meinte, jeden Augenblick ein braunes Gesicht zwischen den Stämmen zu sehen.
Als aber die Wolken sich verteilten und das Licht zunahm, während die Wärme durch die Baumkronen sickerte, da wurde auch seine Laune heller.
Bald wurde ihm so warm, daß er Hendriks schwarzgestreifte Wolljacke übern Arm nehmen mußte.
Er hatte vergessen, sich den Weg zu seinem Pisanggebüsch zu merken. Rings herum hingen Lianen, die durchschnitten zu sein schienen, und überall drängten sich junge Pisangschößlinge zwischen den einzelstehenden Kokospalmen; aber jedesmal, wenn er sich einem der Gebüsche näherte, sah er, daß er sich geirrt hatte.
Er kehrte zur Lichtung zurück, ging von Baum zu Baum und prüfte jede neue Öffnung; das Resultat aber blieb dasselbe.
Schließlich sank er totmüde unter einigen Büschen nieder, aß, was er vom Sonntag übrig hatte, trank Regenwasser, das sich in einigen tiefen, dunkelgrünen Becherblättern angesammelt hatte, und schlief ein.
Als er erwachte, war die Sonne im Begriff, unterzugehen. Die Lichtung war fast ganz von dem Schatten des Waldes bedeckt. Wieder wurde er von Furcht vor den Wilden befallen und meinte, daß er ihre schleichenden Schritte zwischen den Büschen hören konnte.
Er starrte sich fast die Augen aus dem Kopf, während sein Herz so stark zu klopfen begann, daß er es selbst hören konnte. Dann nahm er sich zusammen und beschloß, einen letzten Versuch zu machen.
Er eilte zur Lichtung zurück und spähte nach dem Kokosstamm aus, der ihm auf seiner ersten Wanderung mit seiner schlanken, hellen Schönheit zwischen dem Dunkelgrün gelockt hatte. Damals aber war er von der Sonne beleuchtet gewesen, und jetzt war es Halbdunkel.
Er drehte sich von einer Seite zur anderen, bis er schließlich nicht mehr ein noch aus wußte.
Jetzt hatte nur der Himmel über ihm noch einen Tagesschimmer; aus den Stämmen, die die Lichtung umstanden, starrte ihm überall Dunkelheit entgegen.
Er dachte an seine gute, alte Violine, die er vielleicht für ewig verloren hatte. Was blieb ihm dann noch? – Was konnte ihm das sanfte Sausen wehender Palmen, die tiefe Unschuld grüner Schatten, das Gezwitscher der Vögel über hängenden Früchten helfen, wenn er keine Zunge mehr hatte, um sie zu preisen!
Er fing an zu weinen und sehnte sich nach Holland zurück.
Es war jetzt ganz dunkel geworden. Er war so müde vom Gehen und von der Gemütsbewegung, daß er auf allen Vieren zwischen jungen Stämmen vorwärtskroch.
Er zog Hendriks Wolljacke an, rollte sich in seine Decke ein und suchte sich einen Platz unter dem dichten Blätterdach. Dort saß er mäuschenstill, mit dem Rücken gegen einen elastischen Stamm, die Beine unter sich hochgezogen, und lauschte nach allen Seiten, bis die Müdigkeit ihn überwältigte und der Schlaf ihn bleiern überfiel.
Als er beim Tagesgrauen erwachte, waren ihm die Glieder so steif von der krummen Stellung, daß sie ihn schmerzten; aber er war glühend heiß in der warmen Luft und hatte große Schweißperlen auf der Stirn.
Er sah sich erstaunt um und wußte nicht, wo er war. Erst nach und nach tauchte in seiner Erinnerung das Umherirren des gestrigen Abends auf. Da fiel ihm seine verlorene Violine wieder ein und er fing bitterlich an zu weinen.
Die Sonne ging auf. Die Papageien riefen ihm über seinem Kopf guten Morgen zu. Drüben in den Brotfruchtbäumen begann etwas zu pfeifen und zu stöhnen. Die obersten Zweige bewegten sich und wippten auf und nieder. Die fliegenden Hunde – er meinte, es seien Vögel – spannten ihre Flughäute aus und bahnten sich einen Weg durch die großen Blätter.
Wie er so lag und mutlos durch die Pisangbüsche starrte, die seine Schlafstelle umstanden, fiel sein Auge auf eine hohe, schlanke Kokospalme, die sich in schräger Richtung aus dem Gebüsch emporhob.
Das war ja der Baum, den er während der ersten Tage vergeblich zu erklettern versucht hatte, von den reifen Früchten gelockt, die in Büscheln unter den Blattfächern saßen.
Dann mußte er ja ganz dicht bei seiner alten Schlafstelle sein!
Er sprang mit klopfendem Herzen in die Höhe, brach durch Kräuter, Gras und Lianen, bis er die Kokospalme erreichte.
Kaum hundert Schritt von dem Ort entfernt, wo er sich gestern abend verzweifelt zur Ruhe gelegt hatte, erhob sie sich mit stolzen, wehenden Blättern; und zwischen den Stämmen der Pisangbüsche erblickte er jetzt den Blätterhaufen, der Rucksack und Violinkasten verbarg.
Er schrie laut auf vor Freude und eilte dorthin. Er drückte den Violinkasten an seine Brust und küßte ihn, als sei er ein geliebtes Kind, das der Tod ihm zurückgegeben hatte.
Er lächelte seinem Pisanggebüsch zu. Die Insel war wieder hell und schön. Sie sah ihn mit strahlenden Augen an, von dem Nachtschlaf erfrischt, während die Papageien über seinem Kopf sich halbtot lachten, als seien sie es, die ihn irregeführt hatten.
Jakob dachte weder an Essen noch an Trinken. Er setzte sich mit dem Rücken gegen das Pisanggebüsch, öffnete den Violinkasten und stimmte das teure Instrument.
Die Augen auf die Krone der Kokospalme gerichtet, auf die schweren Büschel von Nüssen, die von hier unten so unansehnlich aussahen, spielten seine langen, dünnen Finger Wiedersehensfreude und Entzücken über die Insel, aus seiner dankbaren Seele heraus.
Die Papageien schwiegen erstaunt. Sie setzten sich in Scharen in die Nachbarbäume, flogen auf die untersten Zweige und streckten die Hälse nach dem wunderlichen Tier, das da unten jammerte.
Auch die Bäume schienen zu lauschen. Die Pisangbüsche richteten sich auf und hielten vor Staunen den Atem an. Die Kokospalme spreizte ihre Blattfinger durch die Luft, als wolle sie ihren Kameraden im Walde Schweigen gebieten.
Das Tier mit den glasklaren Augen und den Zacken auf dem Rücken, das Jakob Beer bisher keine Beachtung geschenkt hatte, kam unter seinem Baumstumpf hervor, setzte sich auf seinen Schwanz und bewegte seine gespaltene Zunge nach dem Laut.
Als er aufhörte, begannen die Papageien im selben Augenblick mit ihrem Geschrei. Sie flogen in die Höhe und vollführten einen Lärm, als ob sie beleidigt seien. Vielleicht aber wollten sie nur zeigen, daß sie es ebenso gut machen konnten wie er.
Jetzt merkte Jakob, daß er hungrig sei. Er streifte herum, um etwas Eßbares zu finden. Und siehe da, als er die Kokospalme erreichte, da lagen drei frische Kokosnüsse, so groß wie Kinderkopfe im Gras; der Sonntagswind hatte sie heruntergeweht. Er schnitt der einen mit seinem Taschenmesser die Augen aus, trank die kühle Kokosmilch und aß von dem frischen Kern. Das war sein Frühstück.
Er fühlte sich leicht und froh zumute und beschloß, sich ein Haus zu bauen nach Pieter Goys Muster.
Er machte sich auf die Suche, bis er einen Baum mit geraden Ästen fand. Nachdem er einige davon abgeschlagen und einen Haufen gesammelt hatte, zeichnete er mit dem Fuß ein Viereck in den Waldboden, legte sich auf die Knie und reinigte den Platz von Gras und Moos, so gut er es vermochte.
Dann stellte er in jede der vier Ecken einen Ast und rammte ihn tief in die weiche Erde ein.
Während er stand und sich über sein Werk freute, begann ein Vogel über seinem Kopf zu singen.
Es war eine Mischung von Flöte und Cello. Drei lange, tiefe Töne, von einem zwitschernden Moll gefolgt, so jubelnd und schön, wie nur eine sonnenbeschienene, lustbebende Vogelkehle sie hervorbringen kann.
Er vergaß seine Arbeit und sah nach oben; aber es war ihm nicht möglich, den frohen Sänger zu entdecken.
Er lauschte mit strahlenden Augen und offenem Mund. Es war, als ob die Töne aus dem klopfenden Herzen der Natur kämen.
Liebe war es, die ihre Verzauberung hier heraussang. Liebe, die rief und jubelte und lockte – die bat und flehte. Das waren die Urtöne, von denen er so lange geträumt hatte.
Dann verstummte der Gesang. Von einem Nachbarbaum aber antwortete eine andere Vogelstimme, kurz und sanft, halb berauscht, halb schmerzerfüllt.
Sie hielt mitten in einem Akkord inne, und sofort fiel die andere siegessicher ein, während das milde Sausen der Palmenfinger mit ihren gedämpften Zitherklang die Begleitung dazu spielten.
Es waren die ureigensten Töne der Natur, die mit ihren gebrochenen und sprunghaften Akkorden allen Regeln der Harmonielehre spotteten. Dennoch drückten sie in einer geheimnisvollen, unergründlichen Gesetzmäßigkeit, nicht nur das Gefühl für Leben und Natur aus, wie ein menschliches Ohr es empfindet und in Schmerzen auf einem toten Instrument wiedergebiert, sondern das Leben und die Natur selbst schienen sich hier in Tönen zu ergießen.
Ach, wenn es ihm doch gelingen würde, diese Töne so in seiner Seele aufzunehmen, daß sie all das mühsam Erlernte, das ihr anhaftete, verdrängten, daß nicht er es war, der über das Leben spielte, sondern daß das Leben seine Urtöne durch ihn wiedergab, wie sie aus dieser glücklichen, unwissenden, allmächtigen Vogelkehle ertönten.
Er versank in Sehnsuchtsträume und lauschte in sich selbst hinein, ob es sich nicht jetzt erfüllen, ob die Natur sich nicht durch ihn Antwort geben würde.
Aber es blieb alles leer und öde in ihm. Er schloß voll Schmerz die Augen und versuchte sich der Vogelstimmen zu erinnern. Vergeblich. Es war, als ob sie vor der künstlichen Musik, dem überflüssigen Wissen, das die Falten seines Gehirns erfüllte, scheu zurückwichen.
Er gab es jedoch nicht auf. Er wollte den Tönen in seinem Innern ein Haus bauen und geduldig warten, bis sie Wohnung nehmen würden.
Eine Sinfonie sollte es werden. »Die Natur« – schlecht und recht »Natur« sollte sie heißen. Und darin sollte das gedämpfte Sausen der Palmen widerklingen, der Liebesgesang der Vögel, das Spiel der Sonne auf blanken grünen Flächen, das Tröpfeln des Regens von Blatt zu Blatt, das Reifen der Früchte – alles das sollte darin zum Ausdruck kommen, durch die allerursprünglichsten Akkorde der Natur vertont.
Dieses Werk sollte durch ihn vollbracht werden. Zu diesem Zwecke war er hergekommen.