Laurids Bruun
Van Zantens Insel der Verheißung
Laurids Bruun

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Erstes Kapitel

Daniel und seine Freunde

Pieter Goy war im Begriff, die Löwenhöhle zu fegen, die jeden Abend von neun bis ein Uhr für den Schriftsteller Daniel Hooch und seine Freunde reserviert war.

Es sollte ein Festabend werden.

Daniel war vormittags dagewesen und hatte drei Hummer in Mayonnaise bestellt, drei Chablis, einen Genever für den Maler und extra guten, kalten Aufschnitt. Außerdem Blumenkohl au naturel für Jakob Beer, der aus Überzeugung und gezwungenermaßen wegen eines schwachen Magens Vegetarianer war.

Bei der Büfettmamsell, die Order hatte, sich unwahrscheinlichen Bestellungen gegenüber vorsichtig zu verhalten, hatte Daniel einen Geldschein gewechselt und dem privaten Futtermeister des dreiblättrigen Kleeblattes, Pieter Goy, hatte er eine kleine Abzahlung auf ihre alte Schuld gemacht; und somit war alles in schönster Ordnung.

Die Sache war nämlich die, daß Daniels Lustspiel »Der Schoß der Natur« vor einigen Monaten von einem Vorstadttheater, das weit unter dem Niveau des Stückes stand, zur Aufführung angenommen worden war. Heut abend sollte die Premiere sein.

Die Spießbürgerpresse hatte wie gewöhnlich eigensinnig geschwiegen. In der radikalen Radaupresse aber hatte Daniel einen bewundernden Anhang von jungen, noch ungetauften Talenten, die versprochen hatten, in plenum zu erscheinen und Erfolg zu machen.

Daniel war nämlich auch Kritiker und handhabte seine Feder wie einen Dolch.

Der Verfasser selbst und seine intimsten Freunde – Jakob Beer, der eine kleine Anstellung als Organist bei einer Blindenkirche hatte, und der Maler Hendrik Koort, der einer Mädchenschule das Zeichnen beibrachte, – wollten aus Selbstachtungsgründen der Vorstellung fernbleiben.

Nur die eiserne Notwendigkeit hatte Daniel gezwungen, sein Stück zur Skalpierung auf der »Räuberburg«, wie das kleine Theater populär genannt wurde, herzugeben. Jeder der drei Freunde hatte nämlich die menschenmöglichste Grenze für Mietekredit überschritten, außerdem hatte der Wirt des Cafés das Konto der Löwenhöhle aufgemacht und sich entschieden geweigert, ferner etwas auf Kredit zu verabreichen, worauf auch Pieter Goy sich ein Herz gefaßt und Daniel mit vor Mitgefühl blutendem Herzen gebeten hatte, doch auch an ihn zu denken.

»Ich denke immer an Sie!« hatte Daniel geantwortet und ihn auf seinen fettglänzenden Frack geklopft. Geld aber hatte er keines bekommen – nicht vor heute, als ihm ein Zehner und etwas Silber ausgehändigt wurde.

Daniel war morgens am Theater gewesen und hatte den Rest seines Guthabens für die Premiere gehoben. Das Haus war bereits ausverkauft, und die Schauspieler, die zu einer letzten kleinen Extraprobe kamen, hatten ihn voller Achtung gegrüßt. Durch die festliche Zusammenkunft wollte Daniel sein schlechtes Gewissen betäuben, weil er seine literarische Ehre für eine lange Reihe von Aufführungen auf der Räuberburg verkauft hatte.

Daniel war ein junger Mann, der seinen Kopf wie ein Halbgott trug. Seine Augen blickten immer über den hinweg, mit dem er sprach; wenn er sich ereiferte, wurden sie blank und scharf, wählend seine Lippen sich höhnisch zusammenzogen und er sich mit den Händen durch sein dünnes, schwarzes Haar fuhr.

Er hatte seit frühester Jugend mit der menschlichen Gesellschaft in Streit gelebt. Er träumte beständig von einem freien Naturdasein unter offnem Himmel und stolzen Baumkronen, unter einer ewigen Sonne, in einem Land, wo es keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gab.

Das Leben aber störte seine Träume. Er mußte sie immer wieder hinunterschlucken, bis er so voll davon war, daß der innere Druck sich durch ein Ventil Luft verschaffte. Dann bekam er einen seiner bekannten Anfälle, wobei er gegen die Stäbe seines Käfigs raste, die wenigen Stunden in Französisch und Geographie, die ein alter Schulfreund ihm verschafft hatte, versäumte und in den Wald hinausfloh, wo er einige Tage das Leben eines vollkommenen Naturmenschen verwirklichte.

Draußen trieb er sich ohne Hut, mit offenstehender Weste herum, während sein Blick trunken zu den Baumwipfeln hinaufschweifte.

Während die Lyrik ihm in Strömen entquoll, fühlte er sich dazu berufen, durch sein Beispiel eine neue Menschheit zu gründen – ohne Staat, ohne Pflicht, ohne Moral.

Der Hunger trieb ihn nach Hause. Erschöpft und frierend kehrte er in seine Dachstube zurück, aber sein Gemüt hatte sich bis auf weiteres beruhigt. Er wurde fleißig, schloß sich ein, stützte seinen Kopf in die Hände und starrte auf das weiße Papier, bis der Teufel in ihn fuhr, und er eine dieser kleinen boshaften Humoresken schrieb, mit denen er sich an der Welt rächte, und die seinen Namen zwischen den Allerjüngsten, die noch aus aufrichtigen Herzen lieben und hassen können, so beliebt gemacht hatten.

Er selbst verachtete diese Zwangsarbeit aufs tiefste. Er schrieb mit zusammengebissenen Zähnen und gelobte sich selbst, wenn er dem großen Tier – das war das Publikum – das Maul gestopft hätte, dann wollte er die Meinung seines Herzens in ein alle Zeiten überstrahlendes Dichterwerk gießen, das die menschliche Gesellschaft in die Luft sprengen und ihn selbst als erstes Opfer fordern würde.

In dem »Schoß der Natur« hatte er zum erstenmal etwas von seinem Ureigensten eingeschmuggelt, obgleich er den Sprengstoff in kleine, glatte Pillen eingezuckert hatte. Keine der literarischen Bühnen aber hatte für dieses vorzügliche Werk Verständnis gehabt, und darum war er von der eisenharten Notwendigkeit gezwungen worden, zu der Räuberburg hinabzusteigen.

Daniel stieß in der Tür des Cafés mit Jakob zusammen.

Der Musiker war klein und verwachsen. In seinem mageren, blassen Gesicht, über den schwarzen Zahnstummeln lag immer ein Lächeln, das wie festgewachsen war. Wenn er in ein Zimmer trat, war es, als ob seine lange, spitze Nase wie ein Fühlhorn durch die Luft witterte. Man vergaß seine Anwesenheit sehr leicht; wenn er ab und zu etwas sagte, bekam man den Eindruck, als ob er plötzlich aus der Erde auftauche.

Er hatte trotz seiner siebenundzwanzig Jahre schon graue Fäden in seinem langen Künstlerhaar, das ihm – wenn er in Ekstase geriet – in die buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen fiel, so daß er es mit einer Kopfbewegung zurückwerfen mußte.

Er gehörte zu den stillen Genies, die sich wie das Veilchen schüchtern im Grünen verstecken. Der beste Teil seines Ichs bewegte sich immer in einem über dem Dasein schwebenden Tonreich.

Während er mit seinem festgewachsenen Lächeln vor sich hinstarrte, ahnte er nicht, was um ihn herum gesprochen wurde. Plötzlich aber begann er – berauscht und versunken, und mit graziösen Bewegungen seiner langen Spielhände, die seine Gedanken in Oktaven auszustreichen schienen – von irgend etwas Wunderbarem zu erzählen, das er auf einem Freibillet von einer Berühmtheit spielen gehört hatte.

Keiner war so unerbittlich in seiner Kritik wie er. Wenn jemand seine musikalischen Ideale anzutasten wagte, bewegte seine kleine Wieselgestalt sich in unheimlichen Schlangenbewegungen. Er flackerte wie eine Flamme im Zugwind, während sein Schatten unheildrohend über die schmutziggelben Wände der Löwenhöhle fuhr.

Der Futtermeister lauschte manch liebes Mal mit erschrockenen Augen, wenn der Geist plötzlich in den Krüppel fuhr, wie er ihn in Gedanken nannte.

Dann mußte er an ein Bild in einem alten Buch denken, daß er als Knabe bei seinem Großvater gesehen hatte. Es stellte Doktor Faustus vor, der durch den Bösen in Versuchung gebracht wurde, in einer düsteren Klosterzelle, mit einem roten Kaminfeuer und einem langen, gehörnten Schatten an der halbdunklen Wand.

»Na«, sagte Jakob und schob seine schmale Hand in die Daniels, »wie geht's?«

»Halt den Mund!« sagte Daniel und schubste ihn vor sich her die dunkle Hintertreppe hinauf. Wenn er hungrig war, war nicht gut Kirschen essen mit ihm.

Der Maler, Hendrik Koort, kam wie gewöhnlich, als die anderen bereits zu Tisch gegangen waren.

Man war so an seine Unpünktlichkeit gewöhnt, daß man nie auf ihn wartete. Hendrik aber wurde jedesmal beleidigt.

Er war untersetzt, stämmig und breithüftig. Sein Kopf war sehr groß, ungewöhnlich breit an den Schläfen, mit einer gewölbten Stirn, die den Eindruck machte, als würde er im nächsten Augenblick wie ein Widder stoßen. Er hatte kurzgeschnittenes, rotes Haar, das sein ganzer Stolz war.

Sein Streben und seine Sehnsucht waren ebenso wie Daniels auf die Natur gerichtet; während der Dichter aber davon träumte, sie zu beherrschen und zu besitzen, sehnte Hendrik sich danach, sein Ich in dem Mysterium der Natureinheiten aufzulösen.

Das Unberührte war das Ziel seiner Sehnsucht. Er wollte das malen, was noch nie von jemand in Farben ausgedrückt worden war, was französische Maler geahnt, aber nicht bewältigt hatten, die Ursprünglichkeit der Natur, von den falschen Symbolen entblößt, die die alles entstellende Menschenkultur in die Dinge hineingelegt hatte, so daß man sie nur noch durch eine Brille sah. An die Dinge selbst wollte er heran, wollte den nackten Eindruck an Stelle des verdrehten setzen. Daniel nannte es spöttisch die rothaarige Kunst.

Hendrik Koort hatte meistens einen harten Kampf mit seiner Bequemlichkeit zu bestehen, die mit dem Drang nach der Auflösung seiner Persönlichkeit in der Natur eng zusammenhing.

Wenn er auf seinen Morgenspaziergängen einen entsprechend einsamen Platz gefunden hatte, entledigte er sich des modernen Gesellschaftsmenschen und nahm ein Sonnenbad im duftenden Gras.

Zweimal war er von einem Landpolizisten notiert worden, aber der Instinkt forderte immer wieder sein Recht.

Er behauptete, daß er in solchen vollkommen nackten Augenblicken so nah an die Natur herangekommen sei, daß er momentweise ohne Menschenbrille gesehen und die Dinge in ihrer Ursprünglichkeit empfunden habe.

Leider lagen von solchen Augenblicken keine Skizzen vor.

Wenn es aber spät abends geworden war – so beim dritten Genever – dann pflegte er den anderen diese Linien vorzuzeichnen und in vagen, träumenden Ausdrücken, Vorstellungen von den seltsamen Urtönen zu erwecken, in denen die Farben sich vor seinem Blick aufgelöst hatten. Er starrte vor sich hin, die dicken Lippen öffneten sich in Verzückung und die breite, behaarte Hand zeichnete durch die Luft. Zu diesem Zeitpunkt hörte allerdings selten jemand zu. Jakob Beer war jenseits in seinem Reich, und Daniel beherrschte das Dasein auf Kosten seiner eigenen Träume.

Davon ließ sich indessen keiner stören; Blick und Rede aber richteten sich unwillkürlich auf den einzig Schweigenden, auf die treuen, blauen Augen des Futtermeisters, der – mit dem Schlaf kämpfend – von der Ofenecke, wo sein Stuhl stand, ganz benommen zu ihnen hinüberblickte.

Es war ganz von selbst gekommen, daß Pieter Goy zu ihnen gehörte.

Ursprünglich war es eigentlich der Ofen, der ihn gelockt hatte; denn in der Löwenhöhle war es immer herrlich warm.

Dann aber war es ihm zur Gewohnheit geworden, dabei zu sitzen und den vielen seltsamen, neuen Dingen zu lauschen. Jeden Abend, wenn die vorderen Zimmer und das Café geschlossen und die Löwenhöhle zu einem geschlossenen Privatkreis geworden war, der die Polizei nichts anging, stahl Pieter sich herein und setzte sich in seine Ecke.

Je mehr Pieter sich Daniel und seinen Freunden zugehörig fühlte, desto selbstverständlicher wurde es, daß er seine Mittel in konstanten Vorschüssen anlegte.

Anfangs hatte er es wie eine Ehre empfunden, wenn Daniel ihm auf die Schulter geklopft und um einen Gulden oder zwei gebeten hatte.

Später faßte er dies wie ein Entgelt dafür auf, daß er mit dabei sein durfte. Er bezahlte sein Entree und war berechtigt, der Vorstellung beizuwohnen.

Er amüsierte sich manches Mal köstlich, wenn die Gesellschaft in der lustigen Ecke war und Daniel die Berühmtheiten des Tages von ihren Piedestalen herunterholte.

Pieter Goy, der aus Groningen war, weidete sich daran und lachte, daß die Tränen ihm nur so über die roten Backen liefen.

Zu anderen Zeiten aber, wenn trüber Mißmut auf der Höhle brütete, und jeder auf seinem Instrument klagte, dann wurde er traurig und litt mit ihnen und saß mit gefalteten Händen dabei und dachte an die böse Welt und den Schiffbruch seines eigenen privaten Glücks.

Eine Bauerntochter seines Heimatdorfes hatte ihn einst mit einem Luftikus aus der Stadt betrogen.


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