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K. Mühlmeister

Im Urwalde Innerafrikas

. Wechselvolle Einzelbilder bringt der Urwald vor das Auge des Beobachters. Wer sehen kann und zu suchen versteht, erschaut in jedem Teile des Waldes mehr des Beachtenswerten, als er zu bewältigen vermag.

Aber nicht an jedem Orte kann man es beobachten. Hier, wo der Frühling auf Wochen, der Sommer oder der Herbst auf Tage zusammenschrumpft und der lange Winter fast unmittelbar nach dem Aufhören der Regen seine Herrschaft antritt, drängt sich das überquellende Pflanzen- und Tierleben auf kurze Frist zusammen. Sobald die Vögel ihr Brutgeschäft beendet haben, beginnen sie zu wandern und zu streichen; sobald die Säugetiere einen Teil des Waldes ausgenutzt zu haben glauben, suchen sie einen anderen auf. Demgemäß kann man an derselben Stelle zu verschiedenen Zeiten auch verschiedenen Geschöpfen begegnen oder doch verschiedene Bilder aus dem Tierleben wahrnehmen. So belebt sich der Strom in demselben Verhältnis, in dem der Wald sich entvölkert.

Während der Stromfülle bemerkt man wenig von den Tieren, die am und im Wasser leben. Alle Inseln liegen unter den Fluten begraben, alle Uferränder sind überschwemmt und die sonst dort hausenden Vögel infolgedessen verdrängt worden. Wenn wirklich einmal ein Krokodil seinen Kopf über die Oberfläche hebt, muß dies in geringer Entfernung vom Boote geschehen, wenn man es überhaupt bemerken soll. Es bleiben also, streng genommen, nur die stellenweise häufigen Nilpferde und die über dem Wasser fliegenden Vögel, vielleicht auch noch einige Taucher übrig, um den ersichtlichen Beweis zu liefern, daß am und im Strome höhere Wirbeltiere leben.

Wenn aber nach dem Aufhören der Regen der Stromspiegel sich senkt und alle Inseln, Sandbänke und Ufersäume frei hervortreten läßt, ändert sich das Strombild auch in bezug auf die Tierwelt. Jetzt ziehen sich die Nilpferde in die tiefsten Stellen des Gewässers zurück, bilden Trupps von bisweilen namhafter Stärke und machen sich, da jeder Atemzug sie an die Oberfläche treibt, durch weithin hörbares Schnauben bemerklich, treten auch wohl bereits übertags auf einzelne Sandbänke heraus, um sich im Sonnenschein zu recken. Die Krokodile holen begierig nach, was sie bei der Stromfülle entbehren mußten: sie sonnen sich stundenlang um die Mittagszeit. Bereits in den Vormittagsstunden kriechen sie auf flache Inseln heraus, fallen unter plumpendem Geräusch schwer auf den Sand, reißen den zähnestarrenden Rachen weit auf und schlafen zu zehn, zwanzig, dreißig auf einer einzigen Sandbank bis gegen Abend. Jetzt bedecken die Sandbänke oder beide Ufer des Stromes und seine größeren Inseln Vogelheere, die durch ihre Massen einen mächtigen Eindruck hervorrufen.

Die meisten einheimischen Strand- und Schwimmvögel haben in dieser Zeit ihr Brutgeschäft beendet und finden sich mit ihren Jungen am Strome ein, um hier bei reichlicher Nahrung zu mausern; um dieselbe Zeit haben sich zu ihnen die nordischen Wandervögel gesellt, die hier überwintern. Sie, die letztgenannten, bevölkern nunmehr auch alle Teile des Urwaldes, gelangen hier aber bei weitem nicht so zur Geltung wie am Strome, dessen Ufersäume und Inseln zudem von den größten, also am leichtesten ins Auge fallenden Zugvögeln besetzt sind. Hier kann es geschehen, daß der vorhandene Raum zu eng, die reichlich gebotene Nahrung zu knapp wird. Eine Folge davon ist, daß jeder Raum besetzt, jede nahrungversprechende Stelle von tausend Mitbewerbern besucht, selbst jeder Schlafplatz bestritten wird.

Drei Tage lang segelte ich bei gutem Winde stromaufwärts im Weißen Nil, und während dieser langen Fahrt waren beide Stromufer mit einem bunten, aus den verschiedensten Strand- und Schwimmvögeln zusammengesetzten Bande geziert. Inmitten der Urwälder des Blauen Stromes kann man ein ähnliches Schauspiel gewahren. Ausgedehnte Sandbänke sind hier von Grau- und Jungfernkranichen in Besitz genommen, dienen den hier in der Winterherberge weilenden Fremdlingen jedoch nur als Mauser- und Schlafplätze, von denen aus sie der Ernährung halber allmorgendlich in die Steppe hinausfliegen. Ihnen gesellen sich um die Mittagszeit regelmäßig einige Kronenkraniche, die jene stets in lebhafte Aufregung versetzen, da sie, wenn auch nicht bessere, so doch bei weitem eifrigere Tänzer sind als die Kraniche selber und bei ihrer Ankunft nie verfehlen, ihre Künste zu üben und dadurch zu Wettspielen anzureizen. Auf denselben Bänken finden sich oft auch Nimmersatte ein, storchähnliche Vögel, in weißem, rosenrot überhauchtem Gefieder prangend, die dann die äußersten Ränder des Eilandes oder die nebenliegenden seichten Stellen in Beschlag nehmen. Am Uferrande schreiten prachtvolle Riesen- oder Sattelstörche stolz einher, wandeln unschöne, absonderlich gestaltete Marabus würdevoll auf und ab, stehen schimmernde Klaffschnabelstörche in zahlreichen Gesellschaften, waten Riefen- und Silberreiher im Wasser, um einen Fisch zu erbeuten, stehen und lagern, schwimmen und tauchen, werden und gründeln, schnattern und schwatzen Tausende von Sporen-, Nil- und Lappengänsen, Witwen- und Spießenten, Schlangenhalsvögeln, Ibissen, Brachvögeln, Ufer-, Strand- und Wasserläufern, über dem Wasserspiegel aber fliegen außer den Genannten Seeschwalben und Möwen, Uferschwalben und Bienenfresser auf und ab, und ziehen in höheren Luftschichten Seeadler ihre Kreise.

Einzelne Arten dieser reichhaltigen gefiederten Strombevölkerung mußten den tiefsten Wasserstand abwarten, um zur Brut schreiten zu können, weil es ihnen während der Stromfülle an Nistplätzen gänzlich mangelte. Zu ihnen zählt ein ebenso schmucker wie kluger und regsamer Laufvogel, der schon den Alten wohlbekannte Krokodilwächter, von dem Herodot und nach ihm Plinius erzählt, daß er mit dem Krokodil in treuer Freundschaft lebe. Die Erzählung der Alten ist keine Fabel. Der Krokodilwächter, dessen Bild auf den altägyptischen Denkmälern oft dargestellt wurde, lebt auch in Ägypten und Nubien, übt aber heute erst im Sudan sein Wächteramt, das ihn berühmt werden ließ. Doch gilt sein Dienst nicht nur dem Krokodil, sondern allen Tieren, die seine Achtsamkeit ausnutzen wollen. Aufmerksam und neugierig, erregbar und schreilustig, eignet er sich vorzüglich zum Warner minder vorsichtiger Geschöpfe. Seiner Wachsamkeit entgeht weder das sich nahende Raubtier noch ein verdächtig erscheinender Mensch; seine Aufmerksamkeit wird sogar durch jedes Segel- oder Ruderboot gefesselt, und nie verfehlt er, seine Erregung hinauszuschreien. Hierdurch bringt er jedes ungewöhnliche Ereignis zu allgemeiner Kenntnis und bewirkt in vielen Fällen die Flucht der Gewarnten.

Sein Freundschaftsverhältnis mit dem Krokodil ist schwerlich gegenseitig, denn einem Krokodile Freundschaft zuzutrauen, hieße ihm doch wohl zu viel zumuten. Nicht weil das Kriechtier wohlwollende Gefühle gegen den Vogel hegt, sondern weil er jenes genau kennt und auch richtig beurteilt, behandelt er es wie ein harmloses Wesen. Von Jugend auf mit dem Ungeheuer vertraut, Bewohner der Sandbänke, auf denen es zu ruhen pflegt, geht er mit ihm um, als ob er der Herr und jenes der Diener wäre. Ohne Umstände betritt er den Rücken des ruhenden Ungetüms; ohne Besorgnis nähert er sich dem aufgesperrten Rachen und untersucht, ob sich hier etwa ein Egel festgesaugt hat oder etwa zwischen den Zähnen ein Brocken stecken blieb, und ohne Bedenken nimmt er ihn weg. Das Krokodil läßt sich alles dies ruhig gefallen, weil es dem achtsamen, kleinen Schelm nicht beikommen kann. Sah ich den Krokodilwächter doch einmal mit einem Schreiseeadler gleichzeitig von einem Fische speisen, den der Adler auf eine Sandbank getragen hatte.

Ein womöglich noch mannigfaltigeres Tierleben als am Strome selbst herrscht um die angegebene Zeit am Ufer und auf dem Spiegel aller Seen und Wasserlachen. Rings vom Walde umgeben, nicht selten so dicht umhegt, daß es kaum oder doch nur unter den erheblichsten Schwierigkeiten möglich ist, bis zu ihnen zu gelangen, bilden diese Regenseen ebenso vorzügliche Aufenthaltsorte wie Brutstätten der verschiedenartigsten Tiere. Ihre sichernde Abgelegenheit sagt dem Nilpferde zu, so daß es in ihnen seine Jungen zur Wett bringt, ihr dichter Ufersaum wie ihre in Sumpf und Bruch übergehenden Buchten ziehen Wildschweine und Wildbüffel herbei, ihre stillen Fluten dienen wasserbedürftigeren Antilopen als Tränken. Auf ihren Spiegeln versammeln sich Tausende von Pelikanen, um vor dem Schlafengehen einen ergiebigen Fischzug zu tun, auf ihnen tauchen Schlangenhalsvögel auf und nieder, schwimmen Gänse und Enten, finden die aus dem Norden eingewanderten Wasservögel eine zusagende Winterherberge. Ihre Buchten gestatten dem Riesenreiher, mühelos Beute zu machen; ihr saftig grüner Ufersaum gewährt zahllosem Kleingeflügel erwünschte Herberge. Kein Wunder daher, daß es um solche Seen zeitweilig geradezu von Vögeln wimmelt, erklärlich, daß solcher Reichtum wiederum Feinde herbeizieht. Den kleineren Vögeln folgen Falken und Eulen, den großen Adler und Uhus, den Säugetieren Fuchs und Schakal, Pardel und Löwe. Zuweilen geschieht es, daß ein von der Steppe hereinkommendes Heer der Wanderheuschrecke auf den frischgrünen Waldgürtel um solchen See fällt. Dann vermehrt sich die Vogelversammlung noch wesentlich. Von nah und fern erscheinen Falken und Eulen, Raben und Raken, Frankolin- und Perlhühner, Störche und Ibisse, Teichhühner und Enten, um sich an den Heuschrecken zu sättigen.

An solchem Regensee hatten wir mehrere Tage gejagt, beobachtet, gesammelt, in Bewunderung der großartigen Pflanzen- und Tierwelt geschwelgt, mit Nilpferden uns geneckt, an Krokodilen unsere Feindschaft betätigt, mit einem Worte Jagd- und Forscherfreuden in reichstem Maße genossen und darüber alles andere, selbst die Zeit vergessen, in der wir lebten. Als aber eines Tages die Sonne sich neigte und Gold in das Blattgrün des Waldes wob; als das Kreischen der Papageien verhallt war und nur noch der träumerische Gesang einer Drossel zu uns herüberklang; als der Seeadler am andern Ufer schlummermüde seinen weißen Kopf zwischen die Schultern zog; als selbst das Gegurgel einer Meerkatzenbande im nächsten Mimosenwipfel verstummt war und die Nacht hereinbrach, dämmerungshell und freundlich, kühl und milde, klangreich und duftig wie immer in jetziger Zeit, da wollte aller Farbenreichtum, Glanz und Schimmer der Bilder erbleichen. Unaufhaltsam flogen unsere Gedanken der Heimat zu und Heimweh ergriff unsere Herzen; denn in der Heimat feierte man heute die Christnacht. Wir hatten uns Punsch bereitet und unsere Pfeifen mit köstlichem Tabak gefüllt. Unser albanischer Begleiter sang seine weichen, klangvollen Lieder und die Nacht umschmeichelte Herz und Sinne. Aber die Gläser blieben ungeleert; die Wolken des Rauches nahmen die Wolken der Schwermut nicht mit sich hinweg, die Lieder weckten keinen Widerhall in uns, die Nacht umschmeichelte uns vergebens. Sie mußte uns unser Christgeschenk bringen und brachte es.

Die Nacht im Urwald ist immer erhaben, mag der Himmel in flammenden Blitzen aufleuchten, der Donner in ihm widerhallen und Sturm in ihm toben, oder mögen an dem dunklen, sternlosen Gewölbe ferne Sonnen strahlen und weder Blatt noch Halm sich regen. Wenige Minuten nach Sonnenuntergang umhüllt sie den Wald. Was am Tage klar hervortrat, ist nunmehr vom Dunkel umschleiert; was im Sonnenlicht in erfaßlichen Massen erschien, vergrößert sich zum Riesenhaften. Bekannte Bäume werden zu Trugbildern, die heckenartigen Gebüsche verdichten sich zu dunklen Mauern. Der tausendstimmige Lärm verstummt allmählich, und für Minuten tritt Stille ein.

Dann beginnt es sich wiederum zu regen. Hunderte von Zikaden heben ein Klingen an, vergleichbar dem Geläut kleiner unrein gestimmter Glöckchen. Tausende von Käfern umschwirren die blühenden Bäume und rufen ein tönendes Summen hervor. Frösche, die nur einen einzigen, für ihre Größe überraschend lauten Ruf ausstoßen, mischen sich darein, und ihre den Klängen eines langsam geschlagenen Gongs vergleichbaren Stimmlaute hallen auf weithin durch den Wald. Eine große Eule begrüßt die Nacht mit dumpfem Geschrei, ein Käuzchen antwortet mit gellendem Gelächter. Ein Ziegenmelker spinnt immer dieselbe Strophe seines schnurrenden Gesanges. Vom Strome her erklingt der klagende Ruf des Nachtvogels der Möwenfamilie, eines Scherenschnabels, der, hart an der Oberfläche des Wassers dahinstreichend, die Wellen zu durchpflügen begann. Auf sandigen Inseln und Bänken ertönt der laute, kreischende Schrei des Triel oder Dickfußes und der tonreiche Triller eines Regenpfeifers. über dem Röhricht und Geschilfe des unfernen Regensees krächzt ein Reiher. Hunderte von Glühwürmern leuchten im Dickicht der Gebüsche auf, und im Strome zieht ein riesiges Krokodil, das schon vor Sonnenuntergang seine Sandbank verlassen hat, im Mondschein silberne Streifen, über die höchsten Baumkronen schweben lautlosen Fluges Uhus und Eulen, am Ufersaume fliegen mit anmutigen Schwenkungen langschwänzige Nachtschatten, zwischen den Kronen der Bäume beschreiben Fledermäuse ihre geknitterten Flugbahnen, von einem Ufer zum andern ziehen Flughunde, fruchtfressende Flattertiere.

Und nun ist auch die Zeit gekommen, in der sich die übrigen Säugetiere des Waldes vernehmen lassen. Ein Schakal beginnt seine wechselvollen, bald kläglich anmutenden, bald erheiternden Weisen und trägt sie mit ebensoviel Ausdruck wie Beharrlichkeit vor; ein Dutzend anderer seiner Art stimmt augenblicklich ein und singt in edlem Wettstreit um des Siegers Kranz. Einige Hyänen scheinen nur auf diese unerreichbaren Vorsänger gewartet zu haben, um als vielstimmiger Chor einzufallen, zu heulen, zu lachen, zu jammern, zu jauchzen. Ein Pardel grunzt, ein Löwe brüllt dazwischen; selbst das noch im Strome weilende Nilpferd erhebt seine Stimme.

So redet und offenbart sich die Nacht im Urwalde; so beschäftigte sie Ohr und Auge auch an jenem mir unvergeßlichen Tage. Käfer und Zikaden, Eulen und Ziegenmelker hatten begonnen, da schmetterten grelle, kräftige, dröhnende Laute durch den Wald, als ob Trompeten von unkundigem Munde geblasen würden. Augenblicklich verstummten die Lieder unseres Albanesen, Geschwätz und Geplauder unserer Diener und Schiffer, und alle lauschten wie wir. Noch einmal schmetterte und dröhnte es vom anderen Ufer herüber.

»El fiuhl, el fiuhl!« riefen die Eingeborenen. »Elefanten, Elefanten!« jubelten auch wir. Es war das erstemal, daß wir die riesigen Dickhäuter, auf deren Pfaden wir bisher fast stets gewandelt, deren Spuren wir so oft verfolgt, belauschten. Vom jenseitigen Uferrande herab zum Wasser steigen gemächlich riesige Gestalten, um im Strome zu baden. Einer nach dem andern tauchte seinen Rüssel ins Wasser, füllte ihn, entleerte ihn dann über Schultern und Rücken und stieg zuletzt in den Strom hinab.

Als sei jenes schmetternde Getön nur ein Weckruf gewesen, so laut wurde es jetzt im Walde. Früher als je zuvor erhob der König der Wildnis seine Donnerstimme; ein zweiter und dritter Löwe erwiderte den Königsgruß. Entsetzt schrien die schlaftrunkenen Affen auf; angsterfüllt schreckten Antilopen. Dann reckte in unmittelbarer Nähe unseres Bootes ein Nilpferd sein ungeschlachtes Haupt über die Oberfläche des Stromes und brummte, als wolle es versuchen, mit dem Donner des Löwen zu wetteifern. Ein Leopard wagte ebenfalls, sich hören zu lassen, Schakale stimmten ihr wechselvolles Lied an, die gestreiften Hyänen heulten, die gefleckten erhoben ihr Mark und Bein erschütterndes Gelächter, und unbekümmert um allen Aufruhr, den die Herolde und der König des Waldes heraufbeschworen hatten, fuhren die Frösche fort, ihren eintönigen Ruf, die Zikaden ihr klingendes Geläute hören zu lassen.

Das war das »Hosianna in der Höhe«, das uns der Urwald sang.

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