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In Nordland ist nicht das Land, sondern das Meer der Acker, auf dem man pflügt; man sät nicht im Sommer und schwingt nicht die Sense, sondern man erntet inmitten der Winterszeit, ohne gesät zu haben. Wenn die lange Nacht des Nordens ihre Herrschaft ausübt und nur der Mond statt der Sonne leuchtet, dann heimst dort der Mensch seine Ernte ein.
Um die Zeit der herbstlichen Tag- und Nachtgleiche rüsten sich in allen Küstenorten ganz Norwegens kräftige Männer, um den reichen Segen des Meeres zu bergen. Jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dörfchen entsendet reichlich bemannte Schiffe hinauf zu den Inseln und Schären jenseits des Polarkreises, um in geeigneten Buchten für Monate Anker zu werfen. Während des Hochsommers ist das Land dort oben still und menschenleer; während des Winters wimmeln die Buchten, die Inseln und Sunde von geschäftigen Männern, und arbeitsame Menschenhände regen sich Tag und Nacht. So geräumig auch die Gehöfte erscheinen, sie können die Menge der Leute nicht fassen, die dort zusammenströmen, und neben den Schiffen müssen noch roh gezimmerte Strandhütten Unterkunft bieten.
Wenn wir unser Weihnachts- und die Normannen ihr Julfest feiern, regt das Getriebe sich am lebendigsten. Schon seit Wochen spendet das Meer seinen Segen. Beherrscht von dem mächtigsten Drange, der lebende Wesen erregt und bewegt, geleitet von dem unwiderstehlichen Triebe, Samen zu streuen für kommende Geschlechter, erheben sich aus den tiefsten Gründen des Meeres unschätzbare Scharen von Fischen, Kabeljaus, Schellfische und andere, steigen zu den oberen Wasserschichten empor, nähern sich der Küste, dringen in alle Straßen, Sunde und Fjorde ein und erfüllen den Spiegel des Meeres auf Meilen hin mit ihrer Menge. So dicht schwimmen die gleichsam betörten Fische, daß sich das Boot buchstäblich zwischen ihnen Bahn brechen muß, daß das Netz, überfüllt von ihrer Last, der Reckenkraft der Fischer spottet und ein in die Masse der Fische gestoßenes Ruder steil stehen bleibt. Soweit die tosende Hochflut die Felseninseln freigespült hat, bedeckt sie ein Ring von zerspaltenen Fischen, die dort zum Trocknen ausgelegt wurden, und über diesem sieht man Gerüste, an denen gleichfalls Fische hängen.
Monatelang währt das Getriebe, monatelang ein unterbrochener Markt; monatelang tauschen Süden und Norden die Schätze aus. Erst wenn um die Mittagszeit ein heller Schein im Süden der noch verborgenen Sonne vorausgeht, endet allmählich der reiche Fang. Aus den Speichern hinab zu den Schiffen trägt man getrocknete Stock- oder Klippfische, füllt alle Räume vom Kiel bis zum Deck und rüstet zur Heimkehr, zur Fahrt in die Welt. Eins der Schiffe nach dem andern hißt seine braungesäumten Segel und steuert davon.
Stiller wird es im Norden, einsamer das Land, öde das Meer. Endlich, um die Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, haben fast alle fremden Schiffer die Erntestätte verlassen und alle Fische sich wiederum nach dem Grunde des Meeres zurückgezogen. Aber schon sendet das Meer neue Kinder aus, um wiederum Sunde, Buchten und Fjorde, Schären und Inseln zu beleben; Millionen von hellen Vogelaugen schauen von diesen hinab auf das Meer.
Es ist ein ergreifender Zug im Leben der Seevögel, daß nur zweierlei Ursachen sie zum Besuche des Landes bewegen: das freudige Gefühl der neuerwachenden Liebe und die düstere Ahnung des nahenden Todes. Nicht der Winter mit seiner langen Nacht, seiner Kälte und seinen Stürmen treibt sie zum Lande; sie sind gefeit gegen alle Unbill des hohen Nordens, gewohnt, ihre Tätigkeit auf den Wellen zu betreiben. Auch nicht die Furcht vor dem drohenden Zahne des Raubfisches scheucht sie aufs Land. Erst wenn sich im Herzen die Liebe regt, strebt alt und jung jener Stätte zu, auf der sie das Licht der Welt erblickten.
Ebenso eigenartig wie fesselnd ist das Schauspiel, das eine mit Eiderenten und anderen Seevögeln besetzte Brutinsel gewährt. Eine dichte Wolke von blendendweißen Möwen umhüllt das Eiland. Ohne Unterlaß kommen neue Schwärme an auf der Insel und fliegen wieder aufs Meer hinaus, besuchen auch wohl die benachbarten Schären und werden unter Umständen den zu grünen Rasenflächen verwandelten Mooren vor den Häusern der Inselbewohner zu einem wunderbaren Schmuck. Mit gerechtem Stolze deutete ein Bewohner der Lofoten auf mehrere Hunderte von Sturmmöven, die dicht geschart vor dem Hause nach Kerbtieren suchten. »Unser Land ist zu arm und zu rauh,« sagte er, »als daß wir Hausgeflügel halten könnten. Mit ›Tauben‹ aber versorgt uns das Meer.« Diese »Tauben«, die weißen und zartgrauen Möwen, sind es, die vor allem die Brutholme sichtbar machen. Von der übrigen gefiederten Bevölkerung bemerkt man wenig, obwohl sie nach vielen Tausenden zählt.
Erst wenn man in einem der unübertrefflichen Boote des Landes vom Ufer stößt und dem Holme zurudert, ändert sich das Stilleben der Vögel. Einige Austernfischer, die unmittelbar über der Flutmarke ihre Nahrung suchten, haben das Boot bemerkt und fliegen ihm eilig entgegen. Denn diese kaum einer größeren Insel, kaum einer Schäre fehlenden Vögel sind Sicherheits- und Wohlfahrtsbeamte. Neugierig und regsam, vorsichtig und bedachtsam, vereinigen sie alle Eigenschaften, um sie zu tonangebenden Mitgliedern gemischter Siedlungen zu erheben. Jedes ungewöhnliche Ereignis reizt ihre Neugier. So fliegen sie jedem Boote entgegen, umschwärmen es fünf- bis sechsmal in immer enger werdenden Kreisen, schreien dabei ohne Unterlaß und erregen schon jetzt die Aufmerksamkeit aller übrigen Vögel. Haben sie sich vom Vorhandensein einer Gefahr überzeugt, so eilen sie rasch zurück und teilen das Ergebnis ihrer Untersuchung in warnenden Tönen den Bergvögeln mit, die auch in der Tat darauf achten. Einige Möwen überzeugen sich ebenfalls durch Augenschein von der Ursache der Störung. Ihrer fünf oder sechs fliegen dem Boote entgegen, stellen sich in der Luft nach Falkenart auf und kehren schneller, als sie gekommen, zum Holme zurück.
Und nunmehr erhebt sich die doppelte, drei-, vier- und zehnfache Anzahl von Vögeln. Schon bildet sich eine aus Möwen bestehende Wolke über dem Boote. Sie verdichtet sich immer mehr und wird immer bedrohlicher, da die Vögel nicht nur nach den Insassen stoßen, sondern sie auch mit Stoffen begaben, die nicht gerade zum Schmuck gereichen. In der Nähe der Brutinsel steigert sich die Erregung zu scheinbar sinnlosem Wirrwarr, das Geschrei der einzelnen zu sinnbetörendem Lärm. Noch ehe das Boot gelandet ist, sind die männlichen Eiderenten, die zum Besuch ihrer Weibchen kamen, wieder dem Strande zugewatschelt und schwimmen jetzt unter warnendem »Ahua ahua« aufs Meer hinaus. Ihnen folgen Schopfscharben, Kormorane und Säger, wogegen Austernfischer, Regenpfeifer, Möwen und Seeschwalben das Eiland noch nicht verlassen mögen. Aber die Laufvögel rennen am Strand auf und ab, wie von einem bösen Feind getrieben, und die brütenden Eiderenten bereiten sich vor, im geeigneten Augenblick zu verschwinden.
Das Boot landet und man betritt den Holm. Tausende von Stimmen kreischen gleichzeitig auf. Die aus fliegenden Vögeln bestehende Wolke verdichtet sich bis zur Undurchsichtigkeit. Hunderte von brütenden Möwen erheben sich krächzend, um sich mit den fliegenden zu verbinden. Dutzende von Austernfischern schreien laut, und das Gewirr der sich bewegenden, der Lärm der kreischenden, rufenden Vögel wird so betäubend, daß man des Blocksbergs Hexenwirrwarr mit leiblichen Sinnen zu hören meint.
Hörst du Stimmen in der Höhe,
In der Ferne, in der Nähe?
Ja, den ganzen Berg entlang
Strömt ein wütender Zaubergesang.
Mephistos Worte werden zur Wahrheit. Das Lärmen und Brausen, das Wirrsal der Gestalten und Töne ermüdet alle Sinne; es schwirrt und flimmert vor den Augen, saust und braust in den Ohren, daß man zuletzt weder Farbe noch Lärm mehr erfassen kann. Wohin man sich auch wenden mag, da umhüllt einen die lebendige Wolke.
Minder geräuschvoll ist das Leben auf den eigentlichen Vogelbergen, wo Alken, Lummen und Lunde brüten und höchstens hier und da eine Möwe und Scharbe. Im Norden der großen, zur Lofotengruppe gehörenden Inseln liegen, einige dreihundert Meter vom Strande entfernt, drei glockenförmige Felseneilande, die Nyken, die schroff und steil dem Meere entsteigen, sich etwa dreihundert Meter über dessen Spiegel erheben und ringsum von einem Kranz kleiner Schären umlagert sind. Einer dieser Felsenkegel ist ein Vogelberg, wie er in seiner Art kaum großartiger gedacht werden kann.
Es war an einem wundervollen Sommertage, als wir uns anschickten, ihn zu besuchen. Das Meer war glatt und ruhig wie selten, der Himmel klar und blau, die Luft warm und angenehm. Zwischen zahllosen Schären hindurch ruderten kräftige Normannen unser leichtes Boot. Wohin das Auge blickte, traf es auf Vögel. Fast jeder Stein, der über die Meeresfläche emporragte, zeigte sich belebt. Einzelne waren weiß übertüncht von dem Kote der Scharben, die dort regelmäßig einige Stunden des Tages zubrachten, um zu ruhen.
Reihenweise geordnet, wie ausgestellte Soldaten, saßen sie zu zehn, zu zwanzig, zu Hunderten in den seltsamsten Stellungen, die langen Hälse gedehnt und gereckt, die Flügel ausgebreitet, um jedem Teile ihres Leibes die Wohltat der Besonnung zu verschaffen, mit ihnen fächelnd, als wollten sie sich gegenseitig Kühlung zuwehen, aufmerksamen Auges nach allen Seiten spähend. Unter dumpfem Schreien stürzten sie sich bei unserer Annäherung plump in das Meer, nunmehr schwimmend und tauchend unserer Annäherungsversuche spottend. Andere Schären waren von brütenden Möwen bedeckt, immer von Hunderten und Tausenden derselben Art, auch von männlichen Vögeln, die von irgendeinem Eiderholme gekommen sein mochten, um sich nach Männerart zu unterhalten, derweil die Weibchen dem Brutgeschäft oblagen. Um andere Felseneilande hatten sich die blendenden Eiderenten geschart und stellenweise einen Kranz gebildet, vergleichbar den großen Wasserrosen unserer stillen Teiche. In den nicht allzutiefen Sunden sah man fischende Säger und Seetaucher, von denen der eine oder andere seinen weithin gellenden Schrei zum besten gab, einen Ruf, so lang ausgezogen, wie ihn nur ein Kind des Nordmeeres vortragen kann, das dem Heulen und Brausen der Winterstürme gelauscht und vom dröhnenden Wogenschwalle gelernt hat. Stolz, wie ein Fürst auf seinem Throne, saß hier und da ein Seeadler, der Schrecken aller gefiederten Wesen des Meeres; pfeilschnell durcheilte der Jagdfalke sein meilenweites Gebiet, und gaukelnde Sturm- und Stummelmöwen, fischende Seeschwalben zogen auf und nieder. Austernfischer begrüßten uns mit ihren trillernden Rufen. Alken und Lummen erschienen und verschwanden rings um uns her.
Unter solcher Gesellschaft zogen wir weiter. Nachdem wir etwa zehn Seemeilen zurückgelegt hatten, gelangten wir in den Schwarmbereich der Nyken. Wohin wir unsere Blicke wandten, allüberall sahen wir zeitweilige Bewohner des Berges, fischend und tauchend, durch unser Boot erschreckt auffliegend und so hart über dem Wasser wegziehend, daß die brennendroten Ruderfüße den Saum der Wellen streiften. Wir sahen Schwärme von dreißig, fünfzig bis hundert Stück, sahen sie vom Berge kommen und zu ihm hinströmen und konnten nicht im Zweifel sein, daß wir uns einer stark bevölkerten Brutansiedlung näherten.
Aber man hatte von Millionen brütender Vögel gesprochen, und solche Massen entdeckten wir nirgends. Endlich, nachdem wir einen vorspringenden Felsenkamm umrudert hatten, lag die Nyke vor uns. Im Meere ringsum traf das Auge auf schwarze, am Fuße des Berges auf weiße Punkte. Jene zeigten sich ohne Ordnung und Regel, diese meist in Reihen oder scharf umgrenzten Trupps. Was wir erblickten, waren die schwimmenden, mit Kopf, Hals und Nacken über die Oberfläche ragenden, und die auf dem Berge sitzenden, mit der weißen Brust dem Meere zugekehrten Alken. Es waren sicherlich Tausende, keinesfalls aber Millionen.
Nachdem wir auf der gegenüberliegenden Insel gelandet und uns im Hause des Besitzers der Nyke erquickt hatten, fuhren wir nach dieser hinüber, sprangen an einer nicht allzu arg umbrandeten Stelle auf den Fels und kletterten nun rasch bis zur Torfhaube empor, die die ganze Nyke bis auf wenige Zacken und Winkel überdeckt. Hier fanden wir zunächst, daß die Torfrinde überall nach Art unserer Kaninchenröhren mit Bruthöhlen durchlöchert und daß kein einziges tischgroßes Plätzchen ohne die Mündung solch einer Röhre war.
Mehr kletternd als gehend schritten wir in Schraubenlinien zum Gipfel des Berges empor. Die unterwühlte Torfschicht zitterte unter unseren Tritten. Und aus allen Höhlen lugten, krochen, rutschten und flogen übertaubengroße, oberseits schieferfarbene, auf Brust und Bauch blendendweiße Vögel mit phantastischen Schnäbeln, kurzen, spitzigen Flügeln und stummelhaften Schwänzen. Aus allen Löchern erschienen sie, aus Ritzen und Spalten des Gesteins. Wohin man blickte, nichts als Vögel, und leise dröhnendes Knarren, das vereinigte schwache Geschrei der Tiere, traf das Ohr. Jeder Schritt weiter entlockte neue Scharen dem Bauche der Erde.
Vom Berge herab nach dem Meere begann es zu fliegen; vom Meere nach dem Berge hinauf schwärmten unübersehbare Massen. Aus Dutzenden waren Hunderte, aus Hunderten Tausende geworden, und Hunderttausende entwuchsen fortwährend dem braungrünen Boden. Eine Wolke umhüllte uns und den ganzen Berg, so daß sich dieser zauberhaft wohl, aber doch noch den Sinnen begreiflich, zu einem riesenhaften Bienenstocke verwandelte, um den nicht minder riesenhafte Bienen schwebten und gaukelten.
Je weiter wir kamen, um so großartiger wurde das Schauspiel. Der ganze Berg wurde lebendig. Hunderttausende von Augen sahen auf uns herab. Aus allen Enden und Ecken, von allen Winkeln und Vorsprüngen her, aus allen Ritzen, Höhlen und Löchern wälzte es sich hervor, zur Rechten, zur Linken, ober- und unterhalb; in der Luft wie auf dem Boden wimmelte es von Vögeln. Von den Wänden wie vom Gipfel des Berges herab stürzten sich ununterbrochen Tausende in das Meer, in so dichtem Gedränge, daß sie den Augen ein Dach vortäuschten. Tausende kamen, Tausende gingen, Tausende saßen oder tänzelten unter Zuhilfenahme der Schwingen in wundersamer Weise dahin. Hunderttausende flogen, schwammen und tauchten, und neue Hunderttausende harrten des auch sie aufscheuchenden Fußtritts. Es wimmelte, schwirrte, rauschte, tanzte, flog, kroch um uns herum, daß uns beinahe die Sinne vergingen und das Auge den Dienst versagte, daß die erprobte Fertigkeit selbst den Schützen, der unter den Tausenden aufs Geratewohl Beute zu machen versuchte, im Stich ließ. Betäubt, kaum unserer selbst noch bewußt, schritten wir weiter, bis wir den Gipfel erklommen hatten.
Unsere Erwartung, dort oben wieder Ruhe, Besinnung und Betrachtung zu gelangen, erfüllte sich nicht. Auch hier wimmelte und schwirrte es, wie es weiter unten an den Wänden gewimmelt und geschwirrt hatte; auch hier umlagerte uns die aus Vögeln gebildete Wolke so dicht, daß wir das Meer unter uns nur im Dämmerlicht, unklar und unbestimmt vor uns sahen. Erst ein Jagdfalkenpaar, das in einer benachbarten Felsenwand horstete und das ungewohnte Getriebe gesehen haben mochte, veränderte plötzlich das Schauspiel. Uns hatten die Alken, Lummen und Lunde nicht gefürchtet, beim Erscheinen ihrer wohlbekannten Feinde aber stürzte die Wolke mit einem Schlage hinab auf das Meer und der Blick wurde frei. Zahllose dunkle Punkte, die Köpfe der schwimmenden Vögel, unterbrachen die blaugrüne Färbung der Wogen. Ihre Menge war so groß, daß wir von der Spitze des Berges aus nicht zu entdecken vermochten, wo der Schwarm endete und das Meer von den Vögeln frei war. Die Millionen, von denen man gesprochen, waren vorhanden.
Nur auf Augenblicke bot sich den Blicken ein Bild scheinbarer Ruhe dar. Bald flogen die Vögel wieder aufwärts, und wie vorher entstiegen Hunderttausende dem flüssigen Element, um zum Berge emporzuklettern, wie vorher entstand eine Wolke, die Sinne verwirrend. Betäubt durch das unbeschreibliche Geräusch um mich her, warf ich mich auf den Boden, und von allen Seiten herbei strömten die Vögel. Aus den Höhlen krochen noch immer neue, in sie hinein die früher aufgescheuchten: rings um mich her ließen sie sich nieder, betrachteten die fremde Gestalt und näherten sich mir bis auf so geringe Entfernung, daß ich nach ihnen zu greifen versuchte. Es war, als wollten sie die Harmlosigkeit, mit der ich mich ihrer Beobachtung hingab, durch unbeschränktes Vertrauen vergelten. Ich verkehrte mit den Tausenden wie mit Haustieren, und die Millionen schenkten mir zuletzt nicht mehr Beachtung, als sei ich einer der ihrigen.
Achtzehn Stunden verweilte ich auf diesem Vogelberge, um das Leben der Alken kennenzulernen. Als die Mitternachtsonne groß und blutig am Himmel stand und ihr rosiges Licht auch auf die Wände unseres Berges warf, trat die Ruhe ein, die auch im hohen Norden die Mitternacht zu bringen pflegt. Das Meer um die Berge war leer geworden, alle bis dahin fischenden und tauchenden Vögel waren zum Berge hinaufgeflogen. Dort saßen sie jetzt in langen Reihen zu Hunderten, Tausenden, Hunderttausenden, blendendweiße Linien bildend, da alle die Brust nach dem Meere kehrten. Ihr »Arr« und »Err«, das trotz der Schwäche der einzelnen Stimmen unsere Ohren betäubt hatte, war verklungen, und nur die Brandung, die sich tief unten am Felsen brach, rauschte und tönte nach wie vor zu uns herauf. Erst als die Sonne sich erhoben hatte, begann das alte wirre Getriebe von neuem, und als wir endlich heimkehrend abwärtsstiegen, umhüllte uns nochmals die dichte Wolke der gescheuchten Tiere.
Nicht nur die Massenhaftigkeit des Auftretens ist es, durch die die Alken zu fesseln wissen, auch ihr Leben und Treiben bietet des Anziehenden viel. Ihre geselligen Tugenden erreichen während der Brutzeit eine unvergleichliche Höhe. Als echte Seevögel leben sie vorher ausschließlich auf hoher See, dem strengsten Winter wie den wütendsten Stürmen gleichmütig trotzend. Auch in der langen Winternacht verlassen sie nicht oder doch nur vereinzelt ihre nordische Heimat, streifen vielmehr in Flügen von Hunderten und Tausenden von einem Fischgrund zum andern und wissen alle offenen Stellen zwischen dem Eise zu finden. Wenn aber die Sonne sich wiederum hebt, regt sich in ihnen nur ein Gefühl, das der Liebe, nur eine Sehnsucht: so bald wie möglich den Berg zu erreichen, auf dem sie das Licht der Welt erblickten. Jetzt, um die Osterzeit etwa, ziehen alle, mehr schwimmend als fliegend, dem Berge zu.
Nun aber gibt es auch unter den Alken mehr Männchen als Weibchen, und nicht jedes Männchen ist so glücklich, eine Gattin zu finden. Unter anderen Vögeln führt dieses Mißverhältnis zu ununterbrochenem Streit, unter den Lummen wird der Friede nicht gestört. Die Hagestolze wandern ebenso wie die glücklichen Paare dem Berge zu, fliegen mit ihnen zur Höhe hinauf und ziehen mit ihnen zur Jagd auf das Meer hinaus. Sobald die Witterung es gestattet, beginnen die Paare ihre alten Höhlen neu herzurichten und zu vertiefen, die Kammer zu vergrößern, erforderlichenfalls auch eine neue Brutstätte auszugraben, und dann legt das Weibchen sein einziges großes, buntgetüpfeltes Ei auf den nackten Boden der am hinteren Ende ausgewölbten Brutkammer und beginnt abwechselnd mit dem Männchen zu brüten.
Für die Junggesellen bricht eine traurige Zeit herein. Die Weibchen sind samt und sonders vergeben, und alles Werben ist deshalb umsonst. So betätigen sie denn ihren guten Willen dadurch, daß sie sich glücklichen Paaren als Hausfreunde aufdrängen. Wenn in den Mitternachtstunden das Weibchen brütet und vor dem Neste das Männchen sitzt, gesellen sie sich zu dem letzteren, und wenn das Männchen die im Meere fischende Gattin ablöst, halten sie außen Wache, wie vorhin das rechtmäßige Männchen. Wenn aber beide Eltern gleichzeitig zum Meere fliegen, rutschen sie ohne Zögern ins Brutnest hinein und wärmen das verlassene Ei.
Diese selbstlose Hingabe hat eine Folge, um die wir Menschen die Alken beneiden könnten. Auf den Bergen, die diese Vögel bewohnen, gibt es kein Waisenkind. Verunglückt der Gatte eines Paares, so bietet sich der Witwe augenblicklich Ersatz, und sollte der seltene Fall eintreten, daß beide Eltern eines Jungen ihr Leben verlören, so sind die gutmütigen überzähligen sofort bereit, das Ei nun vollends auszubrüten und später das Junge aufzuziehen.
In dichtem, graulichem Daunenkleide entschlüpft das Alkkücken der Eihülle, muß aber noch wochenlang in seiner Höhle verweilen, bevor es imstande ist, den ersten Ausflug zum Meere zu wagen. Dieser Ausflug ist, wie zahllose Leichen auf den Klippen am Fuße der Berge beweisen, ein sehr gewagtes, gefahrbringendes Unternehmen. Von beiden Eltern geführt, ängstlich die noch ungeübten Beine und die erst eben entwickelten Schwingen gebrauchend, folgt das Junge seinen Erzeugern, die es nach und nach bergabwärts geleiten, zu einer Stelle, von der aus der Absprung ins Meer leicht erfolgen kann. Auf solchem Vorsprunge verharren beide Eltern oft längere Zeit, bevor es ihnen gelingt, ihr Kind zum Sprunge zu bestimmen. Der Vater wie die Mutter reden förmlich zu, allein das sonst wie alle Vogeljungen gehorsame Kind achtet nicht ihrer Zurufe. Der Vater stürzt sich vor den Augen des zögernden Sprossen in das Meer – der unerfahrene Sprößling bleibt sitzen. Neue Versuche, neues Zureden, förmliches Drängen, da endlich wagt er den gewaltigen Sprung, stürzt wie ein fallender Stein in das Meer hinab, arbeitet sich, unbewußt einem Triebe gehorchend, wieder zur Oberfläche empor, schaut sich um, blickte über das unendliche Meer – und ist ein Seevogel geworden, der fortan keine Gefahr mehr scheut.
Anders ist das Leben und Treiben auf den Vogelbergen, die die Stummelmöwe als Brutplatz erwählt. Ein solcher Berg ist das Vorgebirge Swärtholm, hoch oben im Norden, unweit des Nordkaps. Ich wußte wohl, wie diese Möwen sich auf ihren Brutplätzen verhalten. Faber, der treffliche Kenner hochnordischer Vögel, hat es mit wenigen Worten geschildert: »Sie verbergen die Sonne, wenn sie fliegen; sie bedecken die Schären, wenn sie sitzen; sie übertäuben das Donnern der Brandung, wenn sie schreien; sie färben die Felsen weiß, wenn sie brüten.« Ich glaubte dem trefflichen Faber, nachdem ich die Eiderholme und Alkenberge gesehen, und dennoch zweifelte ich, wie jeder Naturforscher muß, und war eifrig bestrebt, Swärtholm zu besuchen. Ein liebenswürdiger Normanne, der Führer unseres Postdampfschiffes, erfüllte gern meine Bitte, am Brutort der Möwen vorüberzufahren. In den Spätstunden des Abends näherten wir uns dem Vorgebirge.
Schon in einer Entfernung von sechs bis acht Seemeilen überholten uns fortwährend Flüge von dreißig bis hundert, zuweilen auch zweihundert Stummelmöwen, die sämtlich nach ihrem Nistplatze flogen. Je näher wir Swärtholm kamen, um so rascher folgten sich diese Flüge und um so zahlreicher waren sie. Endlich zeigte sich dem Auge das Vorgebirge, eine fast senkrecht abfallende, von unzähligen Höhlen durchbrochene Felsenwand von etwa achthundert Meter Länge und anderthalb bis zweihundert Meter Höhe. Aus weiter Ferne erschien sie grau; mit Hilfe des Fernrohres unterschied man eine unzählige Menge von weißen Pünktchen und Linien. Es sah aus, als wäre eine riesige Schiefertafel von einem scherzenden Riesenkinde mit allerlei Zeichen bekritzelt worden; es schien, als trüge der ganze Felsen ein sonderbares Geschmeide von Kettengewinden, Ringen und Sternen. Aus den dunklen Gründen größerer und kleinerer Höhlen leuchtete es weiß hervor – es waren die brütenden Stummelmöwen. Und als der Wahrheit entsprechend erwies sich das Wort des vortrefflichen Faber: »Sie bedecken die Felsen, wenn sie sitzen.«
Unser Schiff schreckte, hart an dem Felsen dahinfahrend, einen Teil der Möwen auf, und nun entwickelte sich vor meinen Augen ein ähnliches Bild, wie ich es auf zahlreichen Eiderholmen und anderen Inseln gesehen hatte. Da donnerte der Hall eines Schiffsgeschützes gegen die Felsenwand. Wie wenn ein tosender Wintersturm durch die Luft zieht und schneeschwere Wolken aneinander schlägt, bis sie, in Flocken zerteilt, sich herniedersenken, so schneite es jetzt lebendige Vögel. Man sah weder den Berg noch den Himmel, man sah nur ein Wirrsal ohnegleichen. Eine dichte Wolke verhüllte den Himmel, und erfüllt war das Wort: »Sie verbergen die Sonne, wenn sie fliegen.« Heftig blies der Nordwind und wütend brandete das Eismeer am Fuße der Klippe, aber lauter noch klangen die kreischenden Schreie der Möwen, damit auch das letzte Wort Fabers zur Wahrheit werde: »Sie übertäuben das Tosen der Brandung, wenn sie schreien.«
Die Wolke senkte sich endlich aufs Meer, die Umrisse von Swärtholm traten wieder hervor, und ein neues Schauspiel fesselte den Blick. An den Felsenwänden schienen noch ebensoviele Möwen zu sitzen wie vorher, und Tausende flogen noch ab und zu. Als ein zweiter Geschützdonner neue Scharen aufscheuchte, schneite es zum zweitenmal Vögel aufs Meer herab, und immer noch war die Wand bedeckt mit anderen Hunderttausenden. Auf dem Meere aber, soweit wir es überschauen konnten, schaukelten sich, leichten Schaumbällen ähnlich, die Möwen auf und ab mit den Wogen.
Wie soll ich diesen herrlichen Anblick beschreiben? Soll ich sagen, daß das Meer Millionen und aber Millionen lichte Perlen in sein dunkles Wellenkleid geflochten hatte? Oder soll ich die Möwen mit Sternen, das Meer mit dem Himmelsgewölbe vergleichen? Ich weiß es nicht; aber ich weiß, daß ich niemals Schöneres auf einem Meere erschaut hatte. Und dann, als wäre es noch nicht genug des Zaubers, goß plötzlich die auf kurze Zeit verhüllte Mitternachtsonne ihr rosiges Licht über Vorgebirge und Meer und Vögel, beleuchtete alle Wellenkämme, als sei ein goldenes Netz über die See geworfen, und ließ die gleichfalls rosig überstrahlten Möwen nur um so leuchtender erscheinen.
Da standen wir sprachlos im Schauen. Lange verharrten wir regungslos, im Innersten ergriffen von dem wunderbaren Bilde, bis endlich einer das Stillschweigen brach und des Dichters Wort von den Lippen klang:
»Mitternachtsonn' auf den Bergen lag
Blutrot anzuschauen.
Es war nicht Nacht, es war nicht Tag,
Es war ein eigenes Grauen.«