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K. Mühlmeister

Moorhühner- und Renntierjagd auf dem Dovrefjeld

. Bei meinem ersten Aufenthalt in Fogstuen, an der Landstraße von Christiania nach Drontheim, wurde ich mit einem norwegischen Jäger bekannt und befreundet. Fogstuen war eine einsame Wechselstelle für Post- und Reisepferde. Der Hof liegt etwa 2000 Fuß über dem Meere und gegen drei Meilen vom Snehätten entfernt. Ringsherum dehnt sich ein vortreffliches Jagdgebiet meilenweit aus, und deshalb ist gerade dieser Ort besonders zum Aufenthalt für Jäger geeignet. Erik Swenson, der Jäger, von dem ich reden will, ist ein prächtiger alter Kerl und dem edlen Weidwerk mit Leib und Seele ergeben. Einen zünftigen Unterricht im Jägerhandwerk hat er zwar nicht genossen, auch keine Forstschule besucht; er ist vielmehr alles, was er ist, durch sich selbst geworden.

Um so eigentümlicher ist seine Jagd. Alle Künste, alle Listen, alle Schleichwege gelten bei ihm. Erik ist ein Raubtier in Menschengestalt, ein Indianer des Ostens. Die meisten jagdbaren Tiere berückt er durch Nachahmung ihrer Locktöne und versteht diese Kunst so meisterhaft, daß man dreist behaupten kann, er spreche die Sprache der Tiere. Nie ist er um ein Mittel zum Zweck verlegen. Er sucht sein Wild in den verborgensten Schlupfwinkeln auf, kriecht und läuft mit ihm um die Wette, folgt ihm meilenweit oder lauert stundenlang wie ein Luchs an einer Stelle oder gebraucht Schlinge und Falle, Köder und Gift. Seine Orts- und Sachkenntnis, seine Erfahrung und Schlauheit sind ebenso bewunderungswürdig wie seine Ausdauer und seine Abhärtung. Er kennt alle ergiebigen Plätze des Gebirges, kennt alle jagdbaren Tiere und ihr Leben, wandelt in leichten Schuhen durch Sumpf und Moor oder über Schneefelder und schüttelt sich den Schnee ebenso gelassen aus seinen Kleidern, wie er das Wasser aus seinen Schuhen gießt, das diese nach der ersten Viertelstunde seiner Jagd erfüllt. Die Worte Erkältung oder Ermüdung sind diesem Naturmenschen nur dem Namen nach bekannt; obgleich schon sechzig Jahre alt, ist er niemals krank gewesen.

Es versteht sich von selbst, daß mich Erik tagelang an Fogstuen fesselte. Trotz meiner Unkenntnis der Landessprache verständigten wir uns bald vortrefflich und wurden immer mehr befreundet. Wir jagten täglich und nächtlich zusammen, meist allerdings nur auf Schneehühner, dafür aber in der anziehendsten Weise.

Der Abend eines der letzten Maitage war schon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger Begleiter und ich, die Haltestelle Fogstuen erreichten. Wir hatten eine lange Reise hinter uns und waren müde. Aber alle Beschwerden des Weges waren vergessen, als sich der Jäger Erik Swenson vorstellte mit der Frage, ob wir geneigt seien, auf »Ryper« zu jagen, die jetzt in vollster Balze stünden. Wir wußten, welches Wild er meinte, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, es ausfindig zu machen. Das Jagdgerät wurde rasch instand gebracht, ein Imbiß genommen und das Lager aufgesucht, um für die Frühjagd am nächsten Morgen die nötigen Kräfte zu gewinnen. Zu unserer nicht geringen Überraschung kamen wir aber für diesmal nicht zum Schlafen, denn unser Erik stellte sich bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfschüttelnd gehorchten wir, und wenige Minuten später lag das einsame Gehöft schon hinter uns.

Die Nacht war wundervoll. Es herrschte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, das unter so hohen Breiten um diese Zeit den einen Tag von dem anderen scheidet. Wir konnten alle Gegenstände auf eine gewisse Entfernung hin unterscheiden. Wohlbekannte Vögel, die bei uns zulande um diese Zeit schon längst zur Ruhe gegangen sind, ließen sich noch vernehmen; der Kuckucksruf klang aus dem nahen Birkengestrüpp uns entgegen, und das »Schack schack« der Wacholderdrossel wurde laut, so oft wir eins der Dickichte betraten. Von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen der Strandläufer und die schwermütigen Rufe der Goldregenpfeifer; der Steinschmätzer schnarrte dazu, und das Blaukehlchen gab sein köstliches Lied zum besten.

Unser Jagdgebiet war eine breite, von aufsteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie sie die meisten Gebirge Norwegens zeigen, ein Teil der Tundra. Hunderte und Tausende von Bächen und Rinnsalen zerrissen den fahlen gelblichen Teppich, den die Flechte auf das Geröll gelegt hatte, hier und da zu einer größeren Lache sich ausbreitend, auch wohl zu einem kleinen See sich vereinigend. Das Gestrüpp der Zwergbirke säumte die Ufer und trat an einzelnen Stellen zu einem Dickicht zusammen. Auf der Hochebene selbst war der Frühling bereits eingezogen; an den sie einschließenden Berglehnen hielten hartkrustige Schneefelder den Winter noch fest.

Diesen Berglehnen und Schneefeldern wandten wir uns zu, schweigsam, erwartungsvoll und auf die verschiedenen Stimmen, die um uns her laut wurden, mit Aufmerksamkeit und Wohlgefallen hörend. Etwa vierhundert Schritte mochten wir in dieser Meise zurückgelegt haben, da blieb unser Führer stehen und lauschte und äugte wie ein Luchs in die Dämmerung hinaus. Daß seine Aufmerksamkeit nicht den erwähnten Vögeln galt, wußten wir; von dem Vorhandensein anderer Tiere aber konnten wir nicht das geringste wahrnehmen.

Erik Swenson jedoch mußte seiner Sache wohl sicher sein; denn er begann, nachdem er uns Schweigen geboten, mit dem erwarteten Wilde zu reden, indem er mit eigentümlicher Betonung einigemal hintereinander die Silben »Djiake djiake dji-ak dji-ak« ausrief. Unmittelbar nach seinem Lockruf hörten wir in der Ferne das Geräusch eines aufstehenden Huhnes, und in demselben Augenblick vernahmen wir auch einen schallenden Ruf, der ungefähr wie »Errreckeckeckeck« klang. Dann wurde wieder alles still. Aber der Alte begann von neuem zu locken, schmachtender, schmelzender, hingebender, verführerischer, und ich merkte jetzt, daß er die Liebeslaute des Weibchens jenes Hühnervogels nachahmte. Auf das »Djiak«, das den liebeglühenden Hahn aufgestört hatte, folgte jetzt ein zartes, verlangendes und Gewährung verheißendes »Gu gu gu gurr«. Der erregte Hahn antwortete in demselben Augenblick und das Flügelgeräusch wurde stärker. Wir fielen hinter den Büschen nieder, und unmittelbar vor uns, auf blendender Schneefläche, stand ein Hahn in voller Balze. Es war ein Anblick zum Entzücken! Aber das Jägerfeuer war mächtiger als der Wunsch des Forschers, solch Schauspiel zu genießen. Ehe ich wußte wie, war das erprobte Gewehr an der Wange, und bevor der Hahn einen Laut von sich gegeben, wälzte er sich schon in seinem Blute.

Der Knall des Schusses erweckte den Widerhall, aber auch die Stimmen aller gefiederten Bewohner unseres Gebiets. Von den Bergen herab und von der Talsohle herauf liehen sich Stimmen vernehmen. Wenige Schritte vor uns rauschte eine Entenschar vom Wasser auf. Ein aufgescheuchter Kuckuck flog durch das Dämmerdunkel an uns vorüber. Regenpfeifer und Strandläufer trillerten und flöteten. Allmählich wurde es wieder ruhig, und wir setzten unseren Weg fort, den aufgenommenen Hahn mit Weidmannslust betrachtend. Schon wenige hundert Schritt weiter ließ der Alte wiederum seine verführerischen Laute hören, und diesmal antworteten anstatt eines Hahnes gleich zwei. Ganz wie vorhin wurde der hitzigste von ihnen herbeigezaubert; jetzt aber gönnte ich mir die Freude der Beobachtung.

Am entgegengesetzten Ende des Schneefelds fiel der stolze Vogel ein, betrat leichten Ganges die Bühne und lief gerade auf uns zu. Es war noch so hell, daß wir ihn schon in der Ferne deutlich wahrnehmen konnten. Aber der liebesrasende Gesell dachte nicht an Gefahr und kam näher und näher, bis auf einige Schritte an uns heran. Das Spiel halb erhoben, die Flügel gesenkt, den Kopf niedergebeugt, so lief er vorwärts. Da mit einem Male schien er sich zu verwundern, daß die Lockungen geendet hatten, und nun begann er seinerseits sehnsüchtig zu rufen. Mehrmals warf er den Kopf in sonderbarer Weise nach hinten, und tief aus dem Innersten der Brust heraus klangen, dumpfen Kehllauten vergleichbar, abgesetzte Rufe, die man durch »Gabâu gabâu« einigermaßen ausdrücken kann; dieselben Laute, die die Norweger durch die Worte »Hvor er hun« – wo ist sie? – übersetzen.

Der Alte war wirklich so kühn, mit seiner Menschenstimme zu antworten und den Hahn glauben zu machen, daß sich das Weiblein, die ersehnte Braut, nur im Gebüsche versteckt habe. Leiser und schmachtender als je rief er wiederholt in der angegebenen Weise, und eilfertig rannte der Hahn mit tiefgesenktem Kopfe und schleifenden Flügeln herbei, dicht an uns heran und buchstäblich über unsere Beine weg. Wir lagen der Länge nach auf dem Schnee. Jetzt aber mochte er seinen Irrtum wohl eingesehen haben, denn plötzlich stand er auf, stob davon und rief allen Mitbewerbern ein warnendes, leises Knurren zu. Und nunmehr mochte der alte Jäger locken wie er wollte: das Liebesfeuer der zahlreich versammelten Hähne schien gedämpft zu sein, ihr Brunsttrieb wurde durch ein sehr berechtigtes Bedenken übertäubt.

Wir zogen weiter und verhielten uns eine Strecke weit ruhig, bis unser Führer glaubte, daß wir in das Gebiet noch ungestörter Hähne eingetreten seien. Dort wurde die Jagd fortgesetzt, und ich erlegte nach dem ersten Locken einen zweiten und wenige Minuten später den dritten Hahn. Jetzt aber schienen die Vögel gewitzigt zu sein; es war vorüber mit der Jagd, nicht aber auch vorüber mit der Beobachtung. Zu meiner Freude bemerkte ich, daß fortan die Weibchen, die sich bisher ganz unsichtbar gemacht hatten, das Amt des Warners übernahmen, um ihre Liebhaber von dem Verderben abzuhalten. Wir wandten uns dem Gehöfte zu, wobei wir unterwegs noch viele, viele Paare der anziehenden Vögel aufstörten, und kamen mit Anbruch des Tages in unserer zeitweiligen Wohnung wieder an.

So lernte ich einen der anziehendsten Vögel des hohen Nordens, das Moorhuhn, kennen. Später bin ich noch manche Nacht hinausgezogen, um Schneehühner zu erlegen, und oben in Lappland und Sibirien habe ich sie auch unter anderen Verhältnissen beobachtet, nicht bloß in jenen stillen Stunden, in denen »Mitternachtsonn' auf den Bergen lag,« sondern auch um die Mittagszeit, wenn sie ihrer Nahrung nachgehen, oder wenn die mütterliche Henne die Schar ihrer reizenden Küchlein führt. Und immer hat mich der Vogel zu fesseln gewußt.

Das Moorhuhn, das zu den Schneehühnern zählt und in der Größe etwa zwischen Birkhuhn und Rebhuhn steht, gehört zu den regsamsten und lebendigsten Hühnern, die ich kenne. Die breiten, dicht befiederten Füße gestatten ihm, ebenso rasch über die trügerische Moosdecke wie über den frischen Schnee zu laufen, befähigen es wahrscheinlich auch zum Schwimmen. Gewöhnlich läuft es schrittweise mit etwas gekrümmtem Rücken und hängendem Schwänze dahin, jeder Vertiefung des Bodens folgend, und nur wenn etwas Besonderes seine Aufmerksamkeit reizt, einen Hügel erklimmend, um von hier aus zu sichern: wenn es sich aber verfolgt sieht, rennt es mit kaum glaublicher Eile seines Weges fort.

Der Flug ist leicht und schön, dem unseres Birkwildes ähnlicher als dem des Rebhuhnes, jedoch von beiden verschieden. Vom Boden sich erhebend, steigt das Moorhuhn, besonders das Männchen, zunächst bis zu einer Höhe von ungefähr vier Meter über dem Boden auf, streicht drei- bis sechshundert Schritt in derselben Höhe über dem Boden fort, klettert plötzlich empor und senkt sich nun rasch hernieder, um einzufallen; oder aber es setzt den Weg noch weiter fort, steigt noch einmal auf, schreit und fällt ein. Bei kurzen Flügen läßt das Männchen während des Aufstehens regelmäßig sein lautschallendes »Errreckeckeckeck«, unmittelbar nach dem Einfallen die dumpfen Kehllaute »Gabau gabau« hören; das Weibchen hingegen fliegt immer stumm. Im Schnee gräbt es sich nicht bloß tiefe Gänge aus, um zu seiner im Winter verdeckten Nahrung zu gelangen, sondern stürzt sich auch, wenn es von einem Raubvogel verfolgt wird, senkrecht aus der Luft herab und taucht dann förmlich in die leichte Decke ein. Bei strengem Wetter sucht es hier Zuflucht, um sich gegen die rauhen Winde zu schützen; zuweilen soll man den Flug dicht aneinander geschart antreffen, und zwar so, daß die ganze Gesellschaft unter dem Schnee vergraben ist und nur die Köpfe herausschauen.

Um Mitte März gesellen sich die Paare und beginnen bald darauf in der vorher geschilderten Meise zu balzen. An sonnigen Abhängen der Hochebene, zwischen dem bereits schneefreien Gestrüppe der Heide, zwischen Heidel-, Mehl- und Moosbeeren, im Gebüsch der Salweide oder Zwergbirke, in Wacholderbüschen und an ähnlichen versteckten Plätzen scharrt sich die Henne eine flache Vertiefung und legt sie mit einigen dürren Grashalmen und anderen trockenen Pflanzenteilen aus. Der Standort des Nestes ist stets so wohl gewählt, daß man es schwer findet, obgleich der Hahn sein Möglichstes tut, um es zu verraten. Er zeigt jetzt seinen vollen Mut; denn er begrüßt jeden Menschen, jedes Raubtier, das sich naht, durch das warnende »Gabau gabau«, stellt sich dreist aus einen kleinen Hügel, fliegt aufgescheucht nur wenige Schritt weit und wiederholt das alte Spiel, unzweifelhaft in der Absicht, den Feind vom Neste wegzulocken. Gegen andere Hähne verteidigt er hartnäckig sein Gebiet; eine unbeweibte Henne aber scheint seine Begriffe von ehelicher Treue wesentlich zu verwirren, wenigstens ist er trotz seiner Liebe zur Gattin stets geneigt, in ihrer Gesellschaft einige Zeit zu vertändeln. Auch während der Brutzeit noch sind Moorschneehühner um Mitternacht am lebhaftesten; man vernimmt ihr Geschrei selten vor der zehnten Abendstunde. Folgt man dem Rufe des Männchens, so kann man beobachten, daß ein Hahn den andern zum Kampfe fordert und einen ernsten Streit mit ihm ausficht, bis endlich die Henne vom Neste aus mit sanftem »Djak« oder »Gu gu gurr« den Gatten nach Hause ruft.

Das Moorhuhn ist eins der geschätztesten nordischen Jagdtiere. Seine erstaunliche Häufigkeit gewährt auch dem nur einigermaßen geschickten Jäger ergiebige Ausbeute. Aber nur die wenigsten kennen die Jagd, die der alte Erik mich lehrte, die Jagd in der Balzzeit.

Der alte Graubart verstand sich jedoch nicht allein auf die Moorhühnerjagd, er kannte nicht weniger gut auch die hohe Jagd.

In Christiana hatte ich von der außerordentlichen Schwierigkeit der Renntierjagd gehört und brannte deshalb darauf, eine solche Jagd wenigstens zu versuchen,

»Gibt es hier Renntiere, Erik?« fragte ich, diesmal durch freundliche Vermittlung meines Reisegefährten, der fertig Norwegisch sprach.

»Renntiere gibt es auf dem ganzen Gebirge in Menge,« antwortete er.

»So laß uns eine Jagd darauf machen, Alter!«

»Ja, es geht aber nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil Er Strafe zahlen muß.«

»Wer?«

»Nun, Er!«

»Und wenn ich diese Strafe nun tatsächlich zahlen wollte?«

»Dann können wir auch Renntiere jagen!«

Wir stiegen höher ins Gebirge hinauf, wateten durch angeschwollene Wildbäche oder Schneefelder, kletterten über die abscheulichsten Geröllhalden hinweg, wurden naß vom Kopf bis zum Fuß und fanden endlich frische Fährten. Mühsam folgten wir ihnen auf Pfaden, die aller Beschreibung spotten, und sahen endlich drei Renntiere auf einem Schneefelde unter uns. Der alte besonnene Erik wurde zu meiner Verwunderung vom Jagdfieber geschüttelt wie ein Jägerlehrling. Ich nahm ruhig die Büchse, zielte sicher, sah im Geiste den »Bock« stürzen, mußte aber zu meiner bitteren Enttäuschung erfahren, daß mir das sonst so sichere Gewehr dreimal versagte. Erik heulte vor Kummer, und die Renntiere trabten wohlgemut von dannen.

»Nun, Strafe wird Er diesmal nicht zu zahlen brauchen,« knurrte der alte Jäger vor sich hin, »aber ich weiß, das geht immer so, wenn man in der Schonzeit jagen will. Er muß im August wiederkommen, dann wollen wir jagen!«

Und ich kam wieder, nachdem ich mich im ganzen Nordland und in Finnmarken vergebens nach wilden Renntieren erkundigt hatte. Sobald das Regenwetter, das mich bei meiner Ankunft begrüßte, nachgelassen hatte, machten wir uns auf den Weg nach dem Fjeld.

Man würde irren, wenn man sich unter dem Dovrefjeld ein Gebirge denken wollte, wie wir es in den Alpen vor uns haben. Alle Gebirge des norwegischen Festlandes haben so ziemlich dasselbe Gepräge; sie steigen sanft auf und sind oben abgerundet, hin und wieder hochflächenartig geebnet. Daher wohl auch der Name »Fjeld«. Schroffe Abstürze und unersteigliche senkrechte Felsenwände, scharf auslaufende Grate und Hörner sind selten. Das Wasser ist in Norwegen zu mächtig und hat alle Gebirge abgerundet. Namentlich im Winter übt es, indem es zwischen die lockere Schichtung des Tonschiefers eindringt und dann gefriert, im großartigsten Maße seine Sprengkraft. Man findet deshalb auch alle Berggipfel mit einer dicken Lage von Geröll überdeckt und bemerkt bei genauerer Prüfung, daß auch die unteren Bergwände nichts anderes sind als solche Geröllmassen, die nur mit Erde überdeckt wurden. Diese bildete sich teils durch Verwitterung des Gesteins, teils durch Aufschwemmung und durch Vermoderung der ziemlich üppigen Pflanzendecke.

Bis zu dreitausend Fuß über dem Meere sind alle Gebirge und so auch das Dovrefjeld bewaldet, in der Tiefe mit Nadelbäumen, oben mit Birkenwäldern und Birkengestrüpp. Plötzlich endet der Wald, und die Berghäupter zeigen sich nunmehr in ihrem eigentümlichen Wesen. Schlangengleich kriechen Zwergbirken, Wacholder und krüppelhafte Weiden, Beerengesträuche, Flechten und Moose auf dem Boden dahin, und letztere werden bald so vorherrschend, daß sie dem Gebirge auf weite Entfernung hin eine gelbliche Färbung verleihen. Kommen, wie gewöhnlich, noch einzelne Schneefelder oder Gletscher dazu, so glänzt das Gebirge förmlich in bunten, lebendigen Farben. Auf dem Dunkel der Waldungen liegt das lichtere Grün der Birken, über diesem das Gelb der moosigen Flächen und auf diesen endlich die kristallene Schnee- oder Eiskrone, die noch aus weitester Ferne blendend hervortritt. Die noch nicht bemoosten Halden sind gleichsam Schatten im Bilde. Erst mit der Grenze der Birken beginnt das eigentliche Hochgebirge, ein Wirrsal von Tälern, zwischen denen sich einzelne runde Berge erheben. Auf allen diesen Bergen finden sich nur Zwergbirken, Beerengestrüpp, Moose, Flechten und zwischen dem Gestein der Halden einzelne Gräser, Blumen und saftige Pflänzchen. Hier ist das eigentliche Gebiet der Renntiere.

Am 15. August stiegen Erik und ich mit den langsamen, gleichmäßigen Schritten echter Gebirgskinder die Höhen hinan.

»Hat Er sein Fernrohr mit?« fragte der Alte.

»Ja, Erik.«

»Ist Seine Büchse ordentlich geladen, daß sie nicht wieder versagt?«

»Ja, Alter, hab' keine Angst!«

»Dann werden wir auch Renntiere schießen.«

Und weiter aufwärts ging die Reise. Es stäubte dann und wann naßkalt auf uns hernieder, aber der Snehätten strahlte bereits im hellen Sonnenschein, und auf den Gebirgen im Nordwesten lag die Sonne in wahrhaft blendendem Glanze. Nach anderthalb Stunden hatten wir die ersten Höhen erstiegen und kletterten über die Geröllhalde hin. Sie besteht nur aus wirr übereinanderliegenden Schieferplatten, die, wenn man darübergeht, entweder in Bewegung geraten oder so scharfe Ecken, Spitzen und Kanten hervorstrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefelsohlen hindurch fühlbar wird. Die außerordentliche Glätte der Platten, über die das Wasser herabläuft, vermehrt die Schwierigkeit des Weges, und das beständige Durchwaten der glattgescheuerten Rinnsale erfordert äußerste Vorsicht, wenn man nicht unfreiwillig im kalten Gebirgswasser baden und dabei Arme und Beine blutig schlagen will. Unser Pirschgang ging deshalb langsam vorwärts.

Wirklich erhaben war die Aussicht, die wir genossen, aber wahrhaft beängstigend die Stille der Höhe. Das Auge weidete sich an der herrlichen Gebirgswelt, an Hunderten von Bergen und Gipfeln, die hell und licht, wie Inseln, aus dem Dunkel der Tiefe traten; es konnte schwelgen im Anschauen der so prächtig gefärbten Massen mit ihren silbernen Schneedächern. Das Ohr aber lauschte lange vergeblich nach einer vertrauten Stimme. Nur einmal schwirrte ein Volk Alpenschneehühner vor uns auf, war aber schon nach wenigen Minuten zwischen den Steinen verschwunden. Endlich begegneten wir auch anderen Vögeln. Drei Bussarde wiegten sich in der Höhe, ein paar Regenpfeifer ließen ihre kläglichen Stimmen erschallen, und ein Schneeammer zeugte durch sein Erscheinen für die Höhe, in der wir uns befanden. Lautlos schritten wir weiter, auf und nieder, über die Rücken der Berge dahin, an dem einen hinauf, an dem andern hinab; noch wollte sich unser Wild nicht zeigen.

Endlich sagte der Alte: »Hier hat heute ein Tier geäst. Schau Er her, diese Pflanzen sind frisch abgebissen, hier liegt ein Stengel daneben, noch saftig und unverwelkt.«

Das war ein Zeichen, auf das ich nicht geachtet hatte. Nach einigen Schritten fand aber auch ich Spuren der hier vorübergegangenen Renntiere. Eine schlammige Stelle zeigte die Fährte eines alten Tieres so scharf und frisch, daß gar kein Zweifel bestehen konnte: in der Nähe mußten Renntiere liegen. Mit Augen und Fernrohr wurde gesucht, aber vergebens. Hundertmal glaubte ich mein Wild zu sehen, aber immer waren es Steine, die mir die Leiber und Geweihe von Renntieren vortäuschten. Doch dort in weiter Ferne lagen wirklich Renntiere; die Formen waren zu regelmäßig, als daß sie Steinen angehören konnten.

»Alter, da sind sie!«

»Wo? Dort! Ja richtig!«

Und wieder schüttelte das Jagdfieber den alten Knaben, aber nur einen Augenblick. Langsam und vorsichtig gingen wir weiter; deutlich traten die Umrisse hervor, und endlich gab das Fernrohr volle Gewißheit.

Sofort begann der Alte seine Vorsichtsmaßregeln. Zuerst sank er langsam zusammen und forderte mich auf, ein Gleiches zu tun; »denn,« sagte er, »jede rasche Bewegung verscheucht die Tiere«. Dann wurde der Wind geprüft. Ich näßte meinen Finger und hielt ihn empor, um durch das einseitige Gefühl der Kälte die Windrichtung zu erfahren. Erik rupfte Renntiermoos aus und warf kleine Flocken davon in die Höhe, die der Wind dann mit sich führte. Hierauf machten wir uns auf den Weg, suchten den Tieren so bald wie möglich aus Gesicht und Witterung zu kommen und begannen unter dem Winde an sie heranzuschleichen.

Plötzlich blieb der Alte stehen, warf von neuem Moos in die Luft, fluchte und sagte: »Wir werden kein Tier mehr zu sehen bekommen; der Wind hat sich gedreht!«

Es war, wie er sagte. Ein unregelmäßiger Windstoß hatte uns getäuscht. Und wirklich hatten die scheuen Tiere schon Witterung bekommen, denn als wir auf großen Umwegen richtig unter dem Winde zur Stelle kamen, war diese leer. Von den sieben Renntieren war keine Spur zu bemerken.

»So wollt' ich doch gleich, daß der Snehätten einfiele!« knurrte Erik verdrießlich, tröstete sich aber ebenso rasch damit, daß das ganze Fjeld ja voll Renntiere sei. Wir besuchten noch fünf »gute Stätten«, erstiegen noch zwei hohe Berge, fanden andere Fährten und abgeäste Pflanzen – sahen aber keine Renntiere. Die Wanderung hatte sieben Stunden gedauert, wir waren müde.

»Es wird Zeit, Alter, daß wir uns nach einer Nachtherberge umsehen!«

»Gut, wir können zu dem nächsten Säter (Sennhütte) gehen, wenn es Ihm beliebt!«

»Wie weit ist das?«

»Eine halbe (norwegische) Meile.«

Noch anderthalb Stunden wanderten wir, bevor wir den Säter erblickten. Vor uns tat sich ein Alpental auf, von schroffen Wänden eingefaßt, grün und freundlich heraufschimmernd, wie eine Oase aus dem Sande der Wüste. Schäumende Wildbäche stürzten frohlockend hinab in die Tiefe und sammelten sich zu einem Flüßchen. Blendend glänzte und leuchtete es zu uns herauf, und einladend tönte sein Rauschen an unser Ohr. Mir aber erging es wie Eulenspiegel: ich trauerte über die tausend Fuß, die wir hinabsteigen sollten, weil ich sehr lebhaft an den Schweiß dachte, den das Wiedergewinnen derselben Höhe, auf der wir standen, uns kosten würde. Allein der knurrende Magen und die müden Glieder verlangten ihr Recht. So kletterten wir zur Tiefe nieder und befanden uns nach dreiviertel Stunden unmittelbar vor dem Säter. Wir aßen, tranken, schliefen und stiegen am andern Morgen wieder zur Höhe hinan.

Nach zweistündigem Steigen waren wir in unsern Jagdgründen und begannen von neuem unsere Suche. Eine Viertelmeile nach der andern mußte abgeschritten, ein Berg nach dem andern erstiegen werden, bevor wir wieder Spuren des Wildes fanden. Doch schien es, als sollten wir diesmal belohnt werden. Von einem Hügel blickten wir forschend über eine Talmulde – und siehe da! – am andern Rande äste ein starkes Renntierrudel! Mit Winken und Zeichen teilte ich Erik die Entdeckung mit, und wieder sank er feierlich in sich zusammen, prüfte den Wind, entledigte sich allen unnötigen Gepäcks und begann auf dem Bauche fortzukriechen. Ich folgte ihm in derselben Weise.

Durch einige Steine gedeckt, beobachteten wir sorgsam das Rudel, ehe wir unsere Kriecherei fortsetzten. Es war ein prachtvolles Schauspiel, das sich mir bot. Achtzehn Renntiere hatten sich zusammengerudelt. Einige ästen, andere hatten sich niedergetan, noch andere gingen scheinbar unbeschäftigt auf und ab. Mit einemmal aber kam Leben und Schrecken über sie alle. Sie stoben davon und jagten durch Sumpf und Moor auf uns los. Eine fieberhafte Spannung hatte sich unser bemächtigt, ließ aber nur zu schnell nach, als wir bemerkten, daß sie halbwegs stehenblieben, sich wieder sammelten und von neuem zu äsen begannen. Von uns hatten sie keine Witterung erhalten, wir lagen unter dem Winde. Woher war also der plötzliche Schrecken gekommen?

Endlich entdeckte ich die Ursache. Ein dritter Jäger war in unser Gebiet eingedrungen, und ihm verdankten wir die Störung. Ich bemerkte den zudringlichen Gesellen zuerst und hätte große Lust gehabt, ihm eine Kugel zuzusenden, wäre er nur näher gewesen. Allein er hielt sich außer Schußweite und hockte hinter einem Stein, das Rudel ebenso scharf beobachtend wie wir. Von uns schien er keine Ahnung zu haben; er jagte ganz auf eigene Hand.

Schon glaubte ich einem ebenbürtigen Gegner in ihm zu entdecken, mit dem ich gern einen ehrlichen Strauß ausgefochten hätte, als mich eine Bewegung, die er machte, über den Irrtum belehrte. Der Bär, den ich vermutet hatte, war nämlich nur ein gemeiner Vielfraß! Das Tier war so groß, wie ich bis dahin nie eins gesehen, und sitzend dem wehrhaften Petz täuschend ähnlich. Bei seiner ersten Bewegung aber konnte er nicht mehr verkannt werden. Der Vielfraß läuft nämlich in stark bogenförmigen Sätzen, einem Marder entfernt ähnlich, nur mit viel mehr gebogenem Rücken; er schlägt beinahe Purzelbäume. Ich würde das seltene Tier natürlich weit lieber erlegt haben als ein Renntier, hätte der Vielfraß es nur dazu kommen lassen. Bevor ich mich auf anderthalb Büchsenschußweiten genähert hatte, verließ er plötzlich seine Warte, trabte oder kugelte vielmehr dem Gebirge zu, fing unterwegs einen Lemming, verspeiste ihn im Weiterlaufen, sah sich noch einmal nach mir um und verschwand im Geklüft.

Die Renntiere schienen sich inzwischen beruhigt zu haben. Sie ästen wie zuvor. Mit äußerster Vorsicht krochen wir weiter und hatten noch etwa dreihundert Schritt zurückzulegen, als wieder das Leittier unruhig wurde. Dahin stob wieder das ganze Rudel. Jeder neue Versuch, uns zu nähern, mußte vergeblich bleiben.

Nach längerer Beratung erschien es uns am geratensten, anzustehen oder vielmehr anzuliegen. Wir deckten uns so gut wie möglich hinter Steinen und lagen drei Stunden auf derselben Stelle, fast ohne uns zu rühren. Es war eine Qual, das Wild fortwährend vor sich zu sehen, ohne ihm beikommen zu können. Ein Stück um das andere tat sich nieder. Die alten Tiere spielten mit den Kälbern; einige ästen, zogen hin und her, sicherten von Zeit zu Zeit und bewegten sich gelassen weiter, immer auf derselben Stelle.

Aber wir hielten aus, bis Leben und Bewegung in die Tiere kam. Langsam, aber stetig zogen sie auf uns zu, leider mehr nach Erik als nach mir hin. Zuweilen bemächtigte sich das Jagdfieber meiner und schüttelte die Büchse, wenn ich versuchsweise anschlug. Jetzt brauchten mir die Tiere nur noch hundert Schritt näher zu kommen – da krachte Eriks Büchse. Das Rudel schreckte, zog ängstlich hin und her, sicherte und wurde flüchtig. Ein Stück lahmte und trennte sich von den anderen. Es war nicht tödlich verwundet und suchte so gut, wie es ging, zu entrinnen. Zu meiner Freude kam es mir schußgerecht; ich schoß, und es stürzte im Feuer zusammen. Das flüchtige Rudel zog quer durch Sumpf und Moor dem höheren Gebirge zu und war bald unseren Blicken entschwunden.

Freudig sprangen wir auf und reckten die gelähmten Glieder; dann eilten wir nach der erlegten Beute. Eriks Kugel hatte den Vorderlauf zerschlagen, die meinige war auf das Blatt abgekommen. Wir weideten das Wild aus, schnitten uns den Vorderlauf ab, wühlten in der Halde eine Grube aus, legten das Tier hinein und deckten es sorgfältig mit Steinen zu, um unsern früheren Mitjäger nicht zu versuchen. Dann nahmen wir einen kräftigen Imbiß und traten unseren Rückweg an. Nach fast vierstündiger Wanderung erreichten wir todmüde Fogstuen.

Am andern Morgen zog Erik mit einem Pferde aus, um die Jagdbeute heimzuschaffen. Er sah das Kalb des Alttieres auf dem Sterbefeld seiner Mutter, von dem übrigen Rudel aber keine Spur mehr.


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