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Es ist den anonymen Autoren, die man heute die Evangelisten nennt, nicht geglückt, eine deutliche und gleichartige Jesusgestalt aus einem Gusse hervorzubringen. Allzu viele Hände sind zu verschiedenen Zeiten mit im Spiel gewesen. Es ist nicht einmal der Versuch gemacht worden, eine Übereinstimmung zuwege zu bringen. Man unterscheidet in der Darstellung höchst verschiedenartige, sich kreuzende Tendenzen.

Einem der Schreibenden hat es am Herzen gelegen, einen Jesus darzustellen, der im Gegensatz zu dem Bilde, das vom Täufer skizziert ist, kein Asket war. Er nimmt sorglos an Gastmählern teil. Er sitzt am liebsten mit Zöllnern und Sündern bei Tische. Er scheut nicht Sünderinnen, spricht schonend mit ihnen, erweist ihnen große Nachsicht. Er scheint ein Freund der Lebensfreude zu sein. Bei der Hochzeit zu Kana (Johannes 2, 1-10) verwandelt er, als der Wein auf die Neige gegangen, Wasser in Wein, und zwar in besseren Wein, als man zuvor gehabt hat.

Einem andern der Schreibenden ist Jesus als düsterer Puritaner erschienen. Während er sich im großen ganzen an das Gesetz Mose hält und ausdrücklich betont, daß er es keineswegs niederreißen, sondern nur vollstrecken will, wird er geschildert als einer, der vollkommen Abstand nimmt von den humanen Bestimmungen über die im 5. Buch Moses (24. Kapitel) ausgesprochene Zulässigkeit von Scheidung und neuer Ehe.

Bei Markus 10, 9 spricht er sich mit großer Bestimmtheit gegen die Scheidung aus: »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, und im selben Kapitel, Vers 11-12, behauptet er, daß eine neue Ehe sowohl für den geschiedenen Mann wie für die geschiedene Frau gleichbedeutend mit Moichaia sei, ein Wort, von dem Ehebruch als eine elegante Übersetzung betrachtet werden muß.

Während Jesus bei gewissen Evangelisten nicht selten durch die Milde überrascht, mit der er geschlechtliche Vergehen beurteilt, wie gegenüber dem samaritanischen Weibe ( Johannes 4), gegenüber der Sünderin, die die Salbe brachte (Lukas 7, 36), gegenüber Maria Magdalena und gegenüber dem Weibe, das gesteinigt werden sollte (Johannes 8), finden sich doch gleichzeitig Äußerungen der größten Strenge, wo mit den Augen eines fanatisierten Mönches das Weib als eine Gefahr angesehen wird. Der Evangelist hat nur aus Vorsicht seine Worte ein wenig geschraubt, wenn er (Matthäus 19, 12) Jesus die Äußerung in den Mund legt: »Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren, und sind etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind, und sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen.«

Auffallend ist auch, daß es gewichtige Stellen bei den Evangelisten gibt, an denen Jesus nichts anderes als das strengste Judentum verkündet. So Markus (12,28-31), wo er auf die Frage »welches ist das vornehmste Gebot vor allen?« antwortet: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott, und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer denn dies.«

Im wesentlichen fühlt sich der Jesus, der hier gezeichnet ist, also in voller Übereinstimmung mit der ererbten israelitischen Grundlehre.

Anderswo ist er dagegen dargestellt als besessen von dem leidenschaftlichen Aufrührertemperament des Reformators oder Revolutionärs. So Lukas 12, 49 ff.: »Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden, was wollte ich lieber, denn es brennete schon! … Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht.« Und er entwickelt, wie er die Mitglieder jeder Familie zum Streit gegeneinander reizen will.

Dies ließe sich ja recht wohl als Frucht einer schnell vorgegangenen persönlichen Entwicklung begreifen.

Aber die Kleinlichkeit der Evangelisten verrät sich in den seltsamen Dingen, über die Jesus als (reaktionärer) Reformator herfällt, wenn seine Haltung als feindlich den ererbten Reinlichkeitsvorschriften gegenüber dargestellt wird. Man sieht, daß der Verfasser solcher Stellen keine Ahnung gehabt hat, welche Anstrengung es die überlegenen Männer der grauen Vorzeit gekostet haben muß, einen unreinlichen Beduinenstamm, eine Nomadenbande, wie die Israeliten jener Zeit, zu elementarer Reinlichkeit, dieser ersten Bedingung für höhere Zivilisation, zu erziehen und zu unterweisen. Fast mit Andacht liest man im 5. Buch Moses 23, 12, wie der Gesetzgeber sein Volk dazu erzieht, zum Lager hinauszugehen, wenn sie ihre Notdurft verrichten müssen, und wie jeder Mann außer seinen Waffen einen Spaten bei sich haben soll: »Wenn du dich draußen hinsetzt, so grabe damit und kehre um und bedecke deine Ausleerung.« Man lese auch die Regeln, wie der Gast im Lager, der sich des Nachts unrein gemacht hat, gezwungen werden soll, vors Lager zu gehen und ein Bad zu nehmen, ehe er zurückkehren darf.

Nur im Zusammenhang mit dieser höchst notwendigen Erziehung von Barbaren zur Menschlichkeit müssen die zahllosen Reinlichkeitsregeln bezüglich der Nahrungsmittel und ihrer Verzehrung verstanden werden. Daß sie oft auf mangelhafter naturwissenschaftlicher Einsicht beruhen, hat nichts damit zu tun. Aber jeder sieht heute ein, daß die vielerlei Vorschriften über das Waschen von Händen, Schüsseln und Krügen vor und nach der Mahlzeit, denen die Häuptlinge, um ihre Befolgung zu erwirken, einen religiösen Stempel verliehen haben, nur von Nutzen waren, und daß eine Opposition gegen diese weitgetriebene Reinlichkeit unvernünftig und reaktionär war.

Bei Markus 7 steht: »Und es kamen zu ihm (Jesus) die Pharisäer und etliche von den Schriftgelehrten, die von Jerusalem gekommen waren, Und da sie sahen etliche seiner Jünger mit gemeinen, das ist mit ungewaschenen, Händen das Brot essen, tadelten sie es. – Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, sie waschen denn die Hände manchmal, und halten also die Aufsätze der Ältesten, und wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, sie waschen sich denn. Und des Dings ist viel, das sie zu halten haben angenommen, von Trinkgefäßen und Krügen und ehernen Gefäßen und Tischen zu waschen. – Da fragten ihn nun die Pharisäer und Schriftgelehrten: Warum wandeln deine Jünger nicht nach den Aufsätzen der Ältesten, sondern essen das Brot mit ungewaschenen Händen? Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Wohl fein hat von euch Heuchlern Jesaias geweissagt, wie geschrieben steht: ›Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir!‹«

Und nun folgt eine sehr ungerechte Strafpredigt gegen diese sogenannten Pharisäer, die er als Heuchler durch und durch hinstellt.

Der nicht zu verkennende Grundgedanke des Evangeliums ist der einfache, immer wieder variierte, daß es auf die innere, nicht auf die äußere Reinlichkeit ankommt. Was ein Mensch ißt, macht ihn nicht unrein – eine im übrigen nicht überzeugende Behauptung. Aber die unreinen Worte, die aus dem Munde eines Menschen kommen, stempeln ihn als unrein. Das wichtigste im Leben ist mit andern Worten nicht das Zeremoniell, sondern die Gesinnung, eine unzweifelhafte Wahrheit, aber wahrlich keine neue in der israelitischen Welt, da die hervorragendsten Propheten, ein Amos, ein Micha, ein Hosea, schon Jahrhunderte zuvor von ihr durchdrungen gewesen waren.

Man fühlt, daß die Evangelisten im Glauben an den nahe bevorstehenden Untergang der Welt leben. Darum lassen sie Jesus Wehe über die schwangeren und stillenden Frauen rufen, wie vor ihnen auch Paulus die Männer gewarnt hatte, sich jetzt mit ihren Frauen zu paaren, da das Reich Gottes vor der Tür stände.

Schon in der Genesis war die Arbeit als ein Fluch betrachtet worden, der die Menschheit ihres Ungehorsams wegen traf. Jesus, der nach der Beschreibung der Evangelisten nie selbst gearbeitet, sondern sich von den Gaben begeisterter Frauen ernährt hat (Lukas 8, 1-3) und der seinen Jüngern empfiehlt, als Bettler zu leben, betont nie die Freude oder Ehre der Arbeit, sondern weist auf die Vögel und die Lilien des Feldes hin, die weder säen noch ernten und doch Nahrung und Kleidung vom himmlischen Vater erhalten.

Die Evangelisten lassen Jesus gleichgültig gegen seine Familie und sein Vaterland sein. Das Verhältnis zur Mutter und zur Familie wird als schlecht geschildert, und man merkt deutlich die Absicht, daß gezeigt werden soll, wie er sich der römischen Herrschaft unterwirft. Er verkehrt mit Zöllnern, die im Dienst der römischen Regierung stehen und daher vom jüdischen Volk verabscheut werden, er nimmt ausdrücklich Abstand von denen, die raten, dem Kaiser keine Steuern zu bezahlen – ja, er läßt ein Wunder geschehen, einen Fisch fangen, der die Steuer für den Kaiser im Maul hat (Matthäus 17, 27).

Die Moral, die die Evangelisten Jesus verkünden lassen, hat heute nur noch historisches Interesse. Wo sie am originellsten erscheint, wie in dem Gebot der Bergpredigt, daß man seine Feinde lieben, d. h. Böses mit Gutem vergelten soll, greift sie nur altjüdische Lehre und einen der Lieblingsgegenstände der römisch-griechischen Philosophie auf. So antwortete Diogenes auf die Frage, wie jemand am besten den Angriff seines Feindes abschlüge: »Erweise dich edel und gut gegen ihn.« Äußerungen in derselben Richtung findet man bei Xenophon, Platon, Seneka, Epiktetes, Cicero. Namentlich die griechischen Zyniker setzten ihren Stolz darein, ohne Bitterkeit Unrecht zu erleiden.

Im 3. Buch Moses 19, 17-18 lautet das Gebot nur: »Du sollst dich nicht rächen und Zorn nachtragen den Söhnen deines Volkes.«

Nach der Berufung der Jünger folgt bei Matthäus die Bergpredigt. Markus kennt keine Bergpredigt. Sie ist eine Kompilation, die auch nie so gehalten worden ist. Wenn Matthäus und Lukas Jesus die Vorschrift zuschreiben: »So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar«, so findet man diese bis zum äußersten gespannte Forderung bereits in der Didache, die älter als irgendein Evangelium ist.

Im übrigen besteht kein Gegensatz irgendwelcher Art zwischen der Moral der Bergpredigt und der altjüdischen. Das ist schon im Jahre 1868 von Rodriguez in Les origines du sermon de la Montagne, später von Robertson in Christianity and Mythology und von Schreiber in Die Prinzipien des Judentums verglichen mit denen des Christentums (1877) nachgewiesen. Parallelstellen mit dem Alten Testament und mit dem Talmud sind außerordentlich zahlreich. Die Seligpreisungen müssen verglichen werden mit den Psalmen 96, 6; 24, 3, Jesaia 66, 13; 57, 15, Sprüchen 29, 23; 21, 21, Jesus Sirach 3,17 usw.

Die Betonung der Gesinnung im Gegensatz zur Handlungsweise, wie es in der Bergpredigt in dem Satze »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren usw.« ausgedrückt ist, ist nur eine Umschreibung ähnlicher Grundsätze im Talmud: »Wer nur den kleinen Finger eines Weibes ansieht, hat schon im Herzen Ehebruch begangen« (Berechit 24 und 24a) und entspricht einem Gedankengang, mit dem auch das römische Recht vertraut war, nach dem schon die bloße Absicht, zu verführen, bestehlen usw., ein Gegenstand der Züchtigung war.


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