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Die ganze Leidensgeschichte ist so von Mythologie durchsetzt, daß es als unmöglich betrachtet werden kann, irgendeinen historischen Kern auszuscheiden.
Es verbirgt sich ganz deutlich ein Mysterium in der Matthäus 27, 15 ff. erzählten Geschichte von Barabbas. Barabbas bedeutet ja nichts anderes als der Sohn des Vaters. Die ursprüngliche Lesart in der ältesten christlichen Kirche war zudem Jesus Barabbas. Vermutlich sind Barabbas und Jesus identisch. Man hat das Wort Jesus aus dem Text gestrichen, weil es die ältesten Leser kränkte, den Namen Jesus mit einem Gefangenen verknüpft zu sehen, der vielleicht ein Mörder war. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die jährliche Opferung des Sohnes eines Vaters, eines Barabbas, ein feststehender Zug in der semitischen Welt war, wie denn auch die Szene, die von der Verhöhnung des gefangenen Jesus durch die Soldaten erzählt wird, auf irgendeinen heidnischen Festbrauch zu deuten scheint. Dies meint Loisy, der große französische Bibelforscher, der skeptisch, aber längst nicht skeptisch genug ist und zum Glauben an den feierlichen Einzug Jesu in Jerusalem neigt, für den doch nichts spricht, sich aber weigert zu glauben, daß sich die huldigende Menge eine Woche später dazu hergegeben haben soll, »kreuziget ihn!« zu rufen. Bei Philo wird von einem Mummenspiel in Alexandria erzählt, das abgehalten wurde, um Possen mit dem jüdischen König Agrippa, dem Enkel des Herodes, zu treiben, und diese Mummerei scheint ein Überbleibsel eines lokalen jüdischen Brauches gewesen zu sein. Ein Verrückter namens Karabas soll als verstellter König mit falscher Krone, Zepter und Purpur paradiert haben. Es ist deutlich, daß Karabas ein Schreibfehler statt Barabbas war (Frazers The Golden Bough IX, 418). So würde sich die Geschichte von der Verhöhnung eines Gefangenen, der sich gegen die römische Disziplin vergangen hat, durch römische Soldaten und die phantastische Geschichte von der Beliebtheit des Barabbas beim jüdischen Pöbel zu einer Einheit, zur Erinnerung an eine Art semitischen Karnevals auflösen, der seinerseits wieder eine Erinnerung an die ältesten Menschenopfer des Erstgeborenen enthielt, welcher durch das Opferlamm ersetzt wurde (2. Mos. 22,29).