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Ist man durch Vergleiche dieser Art mißtrauisch geworden, so erscheint es einem bald einleuchtend, daß sich die Leidensgeschichte Jesu unmöglich so zugetragen haben kann, wie sie in den Evangelien berichtet wird.

Man schlägt den 22. Psalm des Alten Testaments auf und findet den 2. Vers: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das ist ja der Ausruf des sterbenden Jesus am Kreuze. Wie seltsam, daß Jesus mit einem Zitat auf den Lippen gestorben sein soll!

Und wer hörte es? Im ältesten Evangelium ist keiner der Seinen zugegen, die Apostel (oder wie sie dort genannt werden, die Jünger) waren ja alle geflohen (Markus 14, 50), und Petrus hatte ihn sogar verleugnet. Dem späteren und weniger zuverlässigen Zeugnis des Matthäus zufolge sahen eine Menge Frauen aus großer Entfernung ( apo makrothen) zu; diese scheinen dazusein, weil der Erzähler es zu unziemlich gefunden hat, daß Jesus starb, ohne einen einzigen seiner Lieben in der Nähe zu haben. Aber sie stehen bei ihm ausdrücklich in der Ferne, so daß sie unmöglich die letzten Worte des Sterbenden gehört haben können.

In demselben Psalm, der Jahrhunderte älter sein muß als die Zeit, in der sich die Leidensgeschichte zugetragen haben soll, heißt es weiter: »Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.«

Ganz dasselbe wird von dem Gekreuzigten gesagt (Matthäus 27, 39). Im Psalm 22 heißt es weiter: »Der Bösen Rotte hat mich umringt, sie haben meine Hände und Füße durchbohrt.« Daher nicht nur die Stelle bei Johannes (20, 25), wo Thomas die Nägelmale in Jesu Händen sehen will, sondern offenbar auch die überlieferte Art und Weise, wie in christlicher Kunst der Gekreuzigte mit durchbohrten Händen und Füßen ohne den schmalen Sitz dargestellt ist, auf den der Gemarterte in der Regel mit zusammengebundenen (nicht ans Holz genagelten) Füßen gesetzt wurde. Die Tortur war auch dann noch schmerzhaft genug. In der hier gebrauchten Septuaginta-Übersetzung heißt es im Vers 17 des Psalms, wo von der Verbrecherbande die Rede ist, die den Sprechenden umringt hat, mißverständlich: Sie haben meine Hände und Füße durchgraben (was später zu »meine Hände und Füße durchbohrt« wurde), statt »sie hängen sich, Löwen gleich, an meine Hände und Füße«, Man sah hierin einen Hinweis auf die Kreuzigung.

Im Psalm 22, 19 steht ferner: »Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.« Dies ist offenbar die Quelle für Matthäus 27, 35, wo erzählt wird, daß die, welche Jesus gekreuzigt hatten, seine Kleider teilten und um sie losten.

Das Studium eines einzigen Psalms genügt also, um den Leser auf die Spur zu bringen und ihm zu zeigen, wie die Einzelheiten der Leidensgeschichte aus Stellen des Alten Testaments zusammengestoppelt sind, immer mit der Wendung, daß es so geschah, weil eine alte Weissagung in Erfüllung gehen sollte, – ein Gedankengang, der für den Menschen der Gegenwart seinen Sinn verloren hat. Er sieht nur die mosaikartige Zusammenstückung alter Schriftstellen, die man auswendig kannte, fortgesetzt, bis sie eine Art Ganzes bildeten.

In den Psalmen (41, 10) wird von einem Verrat seitens derer gesprochen, auf die der Redende sich verließ, ja, mit denen er Brot gegessen hatte. Es wird ferner gesagt, daß es kein Feind war, der ihn höhnte, kein Neider, der sich auf seine Kosten groß machte, sondern ein Mensch, mit dem er umging, in dem er einen Freund sah. In der Apostelgeschichte (1, 16) werden diese Stellen geradezu als eine Prophezeiung auf Judas ausgelegt, so daß es uns vorkommt, als hätten diese Stellen die Umrisse zur Judasgestalt geliefert.

Psalm 69, 22: »Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst«, zeigt wiederum, wie Zug auf Zug der Leidensgeschichte dem Alten Testament entnommen ist.

Das fällt wieder bei Jesaia (50, 6) auf: »Meinen Rücken gab ich den Schlagenden preis, meine Wange den Raufenden, mein Angesicht entzog ich nicht der Schmähung und dem Anspeien.«

In der Weisheit steht 2, 12 ff.: »Dem Gerechten wollen wir nachstellen. Denn er ist uns lästig und steht unsern Werken im Wege, er rechnet uns die Sünden gegen das Gesetz als Schimpf an … Er gibt vor, Kenntnis Gottes zu haben, und nennt sich einen Sohn Gottes.

»Für unecht sind wir bei ihm geachtet, und er hält sich fern von unsern Wegen wie von der Unreinheit … er tut groß mit Gott, dem Vater. Laßt uns sehen, ob seine Reden wahr sind, und wir werden erproben, was für ein Ende er nehmen wird. Denn wenn der Gerechte ein Sohn Gottes ist, so wird er sich seiner annehmen, und er wird aus den Händen seiner Gegner gerettet werden. Durch Mißhandlung und Qual wollen wir ihn prüfen, um seine Rechtlichkeit zu erkennen, und seine Ausdauer im Leiden prüfen. Zu schmählichem Tode wollen wir ihn verdammen!«

Jesaia 11 steht die bekannte Stelle: »Dann geht ein Reis aus Isais Stamm hervor, ein Sproß keimt aus seinen Wurzeln. Es ruht auf ihm der Geist des Ewigen, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Ewigen … Er richtet in Gerechtigkeit die Armen, urteilt in Billigkeit den Leidenden des Landes: so schlägt er das Land mit der Rute seines Mundes, mit dem Hauche seiner Lippen tötet er den Bösewicht … Da wohnt der Wolf mit dem Lamme, beim Böcklein lagert der Pardel, Kalb und junger Leu und Mastkalb beisammen: ein kleiner Knabe leitet sie. Und Kuh und Bärin weiden zusammen, beisammen lagern sich ihre Jungen. Der Löwe frißt Stroh wie ein Rind. Es spielt der Säugling an der Natter Kluft, und in des Basilisken Höhle streckt die Hand der kaum Entwöhnte.«

Hier werden paradiesische Zustände angezeigt, deren Verwirklichung im irdischen Leben Jesus sich in den Evangelien nicht zu erwarten erkühnt.

Aber die Lehre Jesu findet sich ausgesprochen bei Jesaia 58, 7: »Ist nicht das ein Fasten, das ich liebe: Brich dem Hungrigen dein Brot, unglückliche Verfolgte bring' ins Haus, so du einen Nackten siehst, bekleide ihn … Dann wird, wie Morgenröte, dein Licht anbrechen, und vor dir zieht dein Heil daher, des Ewigen Herrlichkeit schließt deinen Zug.«

Auch den Heilungswundern wird bei Jesaia vorgegriffen. Matthäus 8, 17: »Auf daß erfüllet werde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaia, der da spricht: Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen, und unsere Seuchen hat er getragen.« Matthäus 11, 5 sagt Jesus: »Die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören.« Jesaia 35, 5: »Dann tun sich auf die Augen der Blinden, der Tauben Ohren öffnen sich. Dann hüpft wie ein Hirsch der Lahme, es jubelt die Zunge des Stummen.« – Nicht minder ist bei Jesaia der Befreiung vorgegriffen: »Er hat mich gesandt, die zu heilen, deren Herz gebrochen ist, und die Freiheit der Gefangenen, die Loslassung der Gefesselten zu verkünden.«

Bei Jesaia steht (53): »Da war er vor ihm wie ein Reis, wie eine Wurzel aus dürrem Land erwachsen, nicht Gestalt und nicht Schönheit war ihm, daß auf ihn wir schauten, und nicht Aussehen, daß sein wir uns freuten. Verachtet, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, vertraut mit Gebreste, wie wer sein Antlitz vor uns verhüllet, verachteten wir ihn und schätzten ihn nicht.«

Die Leidensgeschichte ist zusammengeschrieben auf der Grundlage von Stimmungen und Klagen, die aus dem Alten Testament geholt sind, sie zeigt sich namentlich unterbaut durch die Schilderung von den Leiden des personifizierten Israels bei dem zweiten Jesaia. Hier findet sich schon die in den Religionen des Altertums wie später im Christentum verbreitete Vorstellung, daß einer an Stelle des andern in seinem Namen leidet. Schon hier bildet das Vikariatsleiden einen Mittelpunkt.

Bei Jesaia steht (53, 4 ff.): »Aber unsere Gebresten trug er und unsere Schmerzen lud er auf sich, doch wir hielten ihn für geschlagen, von Gott getroffen und niedergedrückt. Und er war verwundet ob unserer Sünden, zermalmet ob unserer Missetaten, zu unserm Heile traf ihn die Strafe, und durch seine Strieme ward uns Heilung.

»Wir alle irrten wie Schafe, zogen ein jeglicher seines Weges, ihn aber ließ treffen der Ewige unser aller Schuld … Er trug die Sünden vieler und für Missetaten es ihn betraf.« In der Apostelgeschichte 8, 28 wird zudem die Stelle bei Jesaia, wo die Rede von dem Gerechten ist, der wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt wird, einem fragenden äthiopischen Verschnittenen gegenüber ausdrücklich als auf Jesus bezüglich ausgelegt.


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