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»Der Kannibale!« unterbrach der Marquis den Pfarrer in der Erzählung seiner langen Leidensgeschichte. »Und die andern Aerzte waren wohl nicht viel besser als er?«
»Wir waren an solchen Zuspruch allerdings gewohnt,« antwortete der Abbé Lecomtois. »Jedoch war der mich behandelnde Arzt der fühlloseste. Eine ganze Woche lang lag ich ohne Bewußtsein da. Die Krisis nahm eine, wie man es nennt, glückliche Wendung: ich überstand die Gefahr. Indessen verging ein Monat, bevor sie für völlig beseitigt erklärt wurde. Um Allerheiligen machten die Kälte und der unaufhörliche Regen einen längern Aufenthalt unter den Zelten unmöglich, und es wurde bestimmt, daß die Kranken und deren Wärter auf die Schiffe zurückkehren sollten. Da die Schiffe während des Winters nicht, wie bisher, vor der Rhede liegen bleiben konnten, so warfen sie Anker in der Mündung der Charente, gegenüber dem ›Barkenhafen‹. Die Kranken wurden auf ein Fahrzeug Namens ›Der Indier‹ geschafft; die Genesenden bestiegen die ›Zwei Kameraden‹ und die gesunden Gefangenen den ›Washington‹. Ich war Einer der Letzten, welche Anfangs November die Leichen-Insel verließen. Meine Genesung war noch nicht so weit gediehen, daß ich mich ankleiden konnte, sondern ich bedurfte dazu der Hülfe des einzigen Wärters, welcher noch am Lande war; er und ein Arzt trugen mich in die Schaluppe.
»An Bord des ›Indiers‹ blieb ich drei Wochen. Der Capitain dieses Schiffes war ein humaner Mann, welcher uns wenig Scherereien machte und uns sogar erlaubte, nach Herzenslust öffentlich zu beten. Auch die Mannschaft war nicht so verkehrt wie diejenige der beiden andern Schiffe. Wir hatten auf dem Bette eine Matraze, ein Laken, eine Decke und ein Kopfkissen. Unsere Wärter durften in der nahen kleinen Festung Vazon mitunter Kohl, Rüben und sonstige Lebensmittel für uns einkaufen.
»Aber dies gute Leben dauerte für mich nicht lange. Schon gegen Ende November bestimmte der Arzt, daß ich zu den Genesenden auf den ›Zwei Kameraden‹ gebracht werden sollte. Ich war aber noch recht herzenskrank, sag' ich dir, Adrian. Meine Einwendungen fruchteten indessen nicht. Auf den ›Zwei Kameraden‹ mußte ich wieder auf dem nackten Fußboden schlafen, wie früher auf dem ›Washington‹. Die Offiziere waren weniger barbarisch als vormals. Wir durften Briefe schreiben und empfingen solche. Auch Geld, welches von Verwandten oder Freunden geschickt wurde, gelangte in unsere Hände; aber die Sendungen waren spärlich. Zwar erlaubte man der Mannschaft, uns Eßwaaren zu verkaufen, aber wir mußten sie theuer genug bezahlen. Im Uebrigen blieb die Nahrung eben so schlecht und unzureichend wie früher. Nicht wenige aus uns haschten in ihrem Hunger nach den Brodrinden und Knochen, welche die Offiziere übrig ließen. Andere naschten aus dem Schweinestall, der sich auch auf diesem Schiffe befand, den für das Thier bestimmten Kohl heraus und aßen ihn auf, roh wie er war.
»Die öffentliche Meinung kehrte sich mittlerweile mehr und mehr gegen die Würger und Blutmenschen. Das erfuhr der Capitain der ›Zwei Kameraden‹, als er sich Anfangs December in die ›Volksgesellschaft‹ von Rochefort begab, wo er ehedem das große Wort geführt hatte. Als er sich jetzt daselbst seiner Heldenthaten gegen die Deportirten rühmte, erhob sich einhellig aus allen Kehlen in der Versammlung der Ruf: ›Werft ihn hinaus, den Priestermeuchler!‹ Dem Manne wollte der Umschlag der Stimmung seit den Ereignissen des Thermidor gar nicht in den Kopf, und er versuchte deshalb, zu seiner Rechtfertigung die Rednertribüne zu besteigen. Aber man wehrte ihm dies, stieß ihn heftig zurück und rief auf's neue: ›Nieder mit dem Priestermörder!‹ Marius Corcoret, welcher ebenfalls in der Versammlung war, rieth seinem Genossen, den Saal zu verlassen; und da bereits Dolche gegen ihn erhoben wurden, so folgte er jenem Rathe. Aus Furcht, seiner Commandantenstelle verlustig zu gehen, versammelte er uns am andern Morgen auf dem Verdeck und bat uns in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, wir möchten ihm über die humane Behandlung, die er uns habe angedeihen lassen, ein Certificat ausstellen. Er spielte reinweg den hündischsten Speichellecker und versprach uns alles Mögliche für die Zukunft. Kaum hatten wir ihm ein in allgemeinen Redensarten gehaltenes Zeugniß ausgefertigt, so baten auch die Offiziere und Matrosen uns um ähnliche Schriftstücke. Wir begrüßten dies als das Vorspiel unserer baldigen Befreiung.
»Am 8. December erhielt ich einen angenehmen Besuch. Mein Vetter Georges, welcher kraft eines Mandats des Wohlfahrts-Ausschusses zum Inspector der Gefängnisse von Rochefort und der dortigen Rhede ernannt war, kam zu mir auf die ›Zwei Kameraden‹. Er hatte jenen Titel durch Vermittelung eines unserer Deputirten, des Herrn Guilleraut, erhalten. Der Abgeordnete, den er in Paris aufsuchte, um mit ihm über unser Schicksal zu sprechen, empfing ihn äußerst wohlwollend, verschaffte ihm die nöthigen Vollmachten, uns zu besuchen, und beauftragte ihn mit der Berichterstattung über unsere Lage. Vetter Georges unterließ natürlich nicht, den Offizieren der ›Zwei Kameraden‹ den Zweck seiner Sendung dick unter die Nase zu reiben. Die Offiziere zogen ihn zur Tafel und hätschelten ihn, daß es zum Lachen war. Auch der Capitain überhäufte ihn mit Höflichkeiten. Wir aber machten uns diese Gelegenheit zu Nutze, um eine neue Petition an die Rocheforter Behörden aufzusetzen, dahin lautend, daß sie uns an's Land bringen lassen möchten. Der Capitain übernahm selbst die Besorgung der Bittschrift und verließ, von Georges begleitet, am Nachmittage das Schiff. Des andern Morgens um acht Uhr erschien Georges wieder mit der frohen Botschaft, daß die Behörden versprochen hätten, uns binnen zehn Tagen auszuschiffen. Am Nachmittage kam ein Commissar, um die Zahl der Gestorbenen und Lebenden zu constatiren. Da man an Bord die Gestorbenen nicht genau verzeichnet hatte, so mußten wir einzeln unsern Namen, Vornamen und Wohnort angeben. Die Zahlung dauerte mehrere Tage lang. Vetter Georges reiste am dritten wieder ab.
»Die versprochene Ausschiffung zog sich in die Länge, und schon glaubten Einige unter uns, wir seien abermals vergessen worden, zumal da etwa acht Tage später neue Schiffe mit ungefähr neunhundert Priestern, die von Bordeaux kamen, neben uns Anker warfen. Von den neuen Ankömmlingen besuchten uns zwei, um uns im Auftrage ihrer Genossen einige Unterstützung zu bringen. Sie berichteten, daß sie nirgend ausgeplündert worden seien; ihre Offiziere seien humane Leute, die ihnen völlige Freiheit gelassen hätten. Man hatte sie erst im October auf die Schiffe gebracht; von den ursprünglichen Tausend waren etwas über Hundert gestorben.
»Am Vorabend vor Weihnachten trat große Kälte ein; mächtige Eisschollen häuften sich rings um die Schiffe an, so daß die Landung unmöglich wurde. Die Offiziere wurden mit jedem Tage freundlicher; sie vertrösteten uns mit der Hoffnung auf baldige Befreiung und trieben ihre Aufmerksamkeit so weit, daß sie uns sogar Decken sowie Mäntel zum Schutz wider die Kälte gaben. Auch wurden die Ausräucherungen des Zwischendecks, das als Schlafgemach diente, mit Weinessig vorgenommen anstatt mit Theer. Aber essen mußten wir nach wie vor bei Schnee und Wind auf offenem Deck; Feuer und Licht blieb uns andauernd untersagt.
»Vier Wochen hielt das strenge Wetter an. Mehrere ältere Schicksalsgenossen erlagen der Kälte und den Nachwehen des bereits im Sommer ausgestandenen Ungemachs.
»Endlich erschien ein Gendarmerie-Offizier an Bord als Ueberbringer der Befehle der Rocheforter Obrigkeit. Sobald Thauwetter eintrete, solle die Ausschiffung erfolgen; unser nächster Bestimmungsort sei Saintes. Froh athmeten wir auf bei dieser Kunde und beteten nun ohne Unterlaß um milderes Wetter.
»Das kam denn auch. Am 1. Februar langten zwei große Schaluppen, deren jede mit zwanzig Matrosen bemannt war, in der Charente-Mündung an; sie sollten das eine Schiff, dem das Steuer fehlte, nach Rochefort bugsiren. Wir mußten uns auf dasjenige Schiff verfügen, auf welchem wir uns ursprünglich bei unserer Ankunft befunden hatten. Am folgenden Tage, Mariä Lichtmeß, wurden die Anker gelichtet.
»Marius Corcoret verabschiedete sich, da er auf dem ›Washington‹ zurückblieb, am Tage vor unserer Abfahrt von uns. Mit seinen haßsprühenden Augen, und ein bitteres Lächeln um die Lippen, trat er zwischen uns und sagte: ›Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Hallunken, euch eines schönen Tages auf diesem Schiffe wieder zu begrüßen. Es freut mich, euch mittheilen zu können, daß wir vierhundert Ketten an Bord haben, um euch je zwei zusammen zu koppeln. Die Thür zum Zwischendeck, welche jetzt vier Fuß und zwei Zoll hoch ist, soll um die Hälfte niedriger und enger gemacht werden, damit ihr mit euern Fettwänsten nicht hindurch könnt. Ja, thut nur so, als gäbet ihr auf meine Drohungen nichts! Wir sprechen uns wieder! Robespierre ist todt, aber seine – unsere Partei wird wieder an das Ruder gelangen. Und dann soll's anders gehen!‹ Du wirst vielleicht nicht wissen, Adrian, daß nach der damaligen Lage der Dinge die Terroristen allerdings Aussicht auf Wiedererlangung der Herrschaft hatten.
»Die Schiffe gebrauchten fünf Tage, um nach Rochefort zu kommen. Wir wurden auf einem Schooner ausgeschifft. In Rochefort vereinigten sich noch fünfzig andere gefangene Amtsbrüder mit uns, und die Gesammtzahl betrug mit diesen etwa zweihundert und dreißig. Von siebenhundert und sechszig waren mithin nur hundert und achtzig übrig geblieben! In Rochefort wurden die Kranken und Genesenden auf achtzehn Ochsenkarren gesetzt; die Andern folgten zu Fuße nach. Die Gendarmen, welche uns begleiteten, waren alle sehr honette Leute, die uns völlige Freiheit ließen. Aber ein anhaltender Regen und die Langsamkeit der Wagen verhinderten, daß wir an jenem Abend schon in Saintes ankamen; vielmehr mußten wir unterwegs in einem Dorfe übernachten. Wir sollten dort in der nassen und kalten Kirche campiren, und man erlaubte uns, drei Feuer anzuzünden; aber der Rauch verscheuchte uns bald aus deren Nähe. Da wurde uns denn gestattet, in den Häusern Nachtlager zu nehmen. Wir schliefen, auf Stroh oder Heu, bis in den hellen Tag hinein und glaubten, nie besser geruht zu haben. Es regnete noch immer, gleichwohl mußten wir unsere Fahrt fortsetzen. Die Leute, welche uns unterwegs begegneten, versicherten einstimmend, daß wir in Saintes erwartet und eine gute Aufnahme finden würden.
»In Saintes war eine große Volksmenge vor dem Hause versammelt, wo wir untergebracht werden sollten; es war dieses Haus ein früheres Kloster. Beim Anblick des Volkshaufens dachten wir, wie du dir vorstellen kannst, Adrian, unwillkürlich an die Scenen, welche ein Jahr vorher unsere Ankunft in den verschiedenen Städten begleitet hatten. Wie ganz anders jetzt! Die Leute kamen uns entgegen, halfen den Kranken und Genesenden von den Karren und trugen oder führten sie in das ehemalige Kloster. Manche baten sich auch die Erlaubniß aus, Einige von uns in ihren eigenen Häusern zu bewirthen und zu beherbergen; und jedes Mal, wenn dies gestattet wurde, rissen sie sich, möcht' ich sagen, um die Nächsten, welche ihnen begegneten.
»Das Kloster war aufs sorglichste für uns hergerichtet. Es war mit Leuten aus allen Ständen angefüllt, die, je nach ihren Mitteln, mit einander wetteiferten, unsere Lage uns angenehm zu machen. O, das that uns gut, Adrian! Die Einen brachten Kleider, Hemden und andere Sachen herbei, um dagegen unser schlechtes Zeug, welches von Ungeziefer wimmelte, einzutauschen. Andere vertheilten Brod, Wein, Fleisch und Gemüse. Wiederum Andere kamen mit ganzen Karren voll Holz und machten in allen Zimmern Feuer an, daß wir unsere erstarrten Glieder durchwärmen konnten. Personen aus den ersten Familien der Stadt versorgten uns mit Betttüchern, Matratzen, Decken und Kissen. Aerzte und Chirurgen beeilten sich, ihre Kunst Allen zu Nutze kommen zu lassen, die es nöthig hatten. Auch die Bader blieben nicht zurück, um unsere verwilderten Haare und Bärte wieder in Ordnung zu bringen. Wäscherinnen musterten die von uns abgelegten Lumpen, warfen das Unbrauchbare in den Ofen und reinigten das Uebrige. Der Stadtrath besuchte uns in corpore. Alle Welt sputete sich, uns zu pflegen; der Anblick so manchfachen Elends verdoppelte den Liebeseifer der Einwohner von Saintes. Wir wußten nicht, Adrian, was thun, was sagen; das Ganze dünkte uns ein Traum, wir trauten unsern Augen nicht.
»Die Bauern vom Lande wollten auch ihr Theil haben; das Almosen, welches sie herbeischleppten, war um so verdienstlicher, als große Theuerung im Lande herrschte. Die Republik gab uns täglich pro Mann ein Pfund Brod und fünfunddreißig Sous in Assignaten, also drei Sous in baarer Münze, was offenbar für unsern Unterhalt nicht hingereicht hätte; doch konnten wir nach Belieben Lebensmittel einkaufen.
»Sämmtliche Priester, welche in der Stadt Saintes fungirten, waren übel beleumundete Eindringlinge, die sich zum Theil verheirathet hatten. Die Bürger hatten einen solchen Abscheu vor diesen auf die Civilconstitution des Klerus Vereidigten, daß sie bei uns sich nach Seelsorgern umsahen. Mehrere Privatpersonen besaßen Hauskapellen, die sie uns anboten, um dort Messe zu lesen, was wir natürlich mit Dank annahmen. Da wurde denn zugleich getauft, Beicht gehört, die Communion ausgetheilt und die übrigen Sacramente gespendet.
»Wir blieben in dem als Gefängniß uns angewiesenen Kloster in Erwartung der Decrete, welche uns in Freiheit setzen würden. Diese kamen nur nach und nach. Täglich hielten wir gemeinschaftliches Gebet und lasen die h. Messe, welche öffentlich zu feiern, uns noch nicht gestattet war. Im Vergleich mit dem, was wir auf den Sklavenschiffen erduldet hatten, erschien unsere jetzige Lage uns herrlich und angenehm.
»Wir lernten in Saintes einen jungen Arzt, Namens Tissot, kennen und erfuhren bald aus seinem eigenen Munde, daß er ein verkleideter Priester war. Als Sohn eines Arztes aus der Schweiz hatte er neben seinen theologischen auch medicinische Studien getrieben und während der Schreckensjahre seine Kunst dazu benutzt, manchem Patienten die Heilsmittel der Kirche zu spenden. Als er uns eines Tages besuchte, meldete man ihm, daß ein wüthender Jacobiner von einer schweren Krankheit befallen worden sei. Der junge Tissot eilte auf der Stelle zu dem Kranken, obwohl dieser gedroht hatte, den ersten Pfaffen, welcher zu ihm kommen würde, vor die Stirn zu schießen. Er ließ sich, wie er uns später erzählte, bei dem Jacobiner als ausländischen Arzt anmelden und wurde sogleich vorgelassen. Wer, glaubst du, Adrian, daß der Kranke war? – Niemand anders als Marius Corcoret! Er war nach Saintes gekommen, um mit Hülfe dortiger Freunde das Volk von neuem wider uns aufzustacheln; aber ein plötzlicher Fieberanfall setzte seinen Planen für's erste ein Ziel. Tissot wagte schon bei seinem zweiten Besuche das Gespräch auf die Religion zu bringen. Corcoret's Antlitz verzog sich zu einer widerwärtigen Grimasse, und er antwortete mit rauher Stimme: ›Ich verstehe, Bürger, du bist nicht bloß ein Leibes-, sondern auch ein Seelenarzt!‹
»›Allerdings‹, versetzte Tissot; ›und was ist daran Schlimmes?‹
»›Kannst du, wie du erklärst, mein Fieber nicht curiren, so ist's mit dem Andern auch zu spät!‹ grollte Corcoret.
»›Sie sind im Irrthum, bester Freund+...‹
»›Ich weiß, was ich sage! …Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich schon verdammt!‹
»Tissot ließ den Muth nicht sinken. Mit beredten Worten erinnerte er den Unglücklichen, der schon mit einem Fuße im Grabe stand, an alles, was die christliche Religion über Gottes Güte und Barmherzigkeit lehrt. Man muß das gewinnende Wesen des jungen Schweizers kennen, um zu begreifen, daß es ihm gelang, in Corcoret's schon so lange verzweifelnder Seele die Hoffnung wieder zu beleben. Thränen flossen aus den Augen des Lieutenants und Seufzer erstickten seine Stimme, als er sagte: ›Ich will beichten.‹
»›Aber nicht in diesem Moment, mein werther Freund‹, versetzte Tissot.
»›Wie?‹ rief Corcoret. ›Sie wollen meine Beicht nicht hören?‹
»›Werden Sie erst ruhiger, Herr Lieutenant‹, antwortete der Priester. ›Erforschen Sie ruhig Ihr Gewissen; morgen früh um acht Uhr komme ich wieder.‹
»Zu der bezeichneten Stunde begab der junge Priester-Arzt sich zu seinem Patienten, an dessen Bett er ungefähr zwanzig Jacobiner versammelt fand. Um sich vor diesen nicht als Priester zu erkennen zu geben, trat er zu dem Kranken, befühlte dessen Puls und fragte ihn, wie er geschlafen habe. Corcoret aber antwortete mit erhobener Stimme: ›Herr Abbé, die Leute, welche Sie hier erblicken, sind meine Freunde; sie waren Zeugen meiner Verirrungen und Laster; tausendfach habe ich ihnen durch mein schlechtes Beispiel Aergerniß gegeben. Darum habe ich sie heute herbeschieden, damit sie auch Zeugen meiner Reue und Bekehrung seien.‹ Tissot blieb stumm vor Staunen. Corcoret fuhr nach einer kleinen Pause fort: ›Ich muß gestehen, daß ich den Glauben niemals gänzlich verloren habe; aber seit mehr als zwanzig Jahren war der Glaube nicht werkthätig in mir, die Hoffnung und Liebe waren in meinem Herzen erloschen; ich hielt mich für einen Verworfenen und betrachtete Gott als meinen Feind. Daher meine Verirrungen, meine Verbrechen.‹ Da er längere Zeit stillschwieg, so nahm Abbé Tissot das Wort und bat die Umstehenden, auf einen Augenblick abzutreten, weil er ihren Freund Beicht hören wolle. Aber: ›Nein, nicht doch!‹ fiel der Kranke ein; ›sie sollen bleiben, es sind ihrer noch längst nicht genug. Oeffentlich war meine Sünde, meine Besserung soll es auch sein.‹ Der Abbé Tissot wendete ein, daß die Beichte geheim geschehe. – ›Sünder wie ich müssen sich rechtschaffen demüthigen‹, entgegnete Corcoret; ›unser Herrgott kann ihnen sonst nicht vergeben.‹ – Es half nichts, Corcoret bestand darauf. Alle anwesenden Jacobiner weinten bei diesem Auftritt.
»Nachdem die Worte der Absolution gesprochen waren, wandte Tissot sich an die Umstehenden mit den Worten: ›Bürger, morgen um diese Zeit werde ich unserm Freunde die heilige Wegzehrung bringen. Ich lade euch ein, wieder herzukommen, um der heiligen Handlung beizuwohnen.‹ Sie erschienen alle am andern Morgen. Tissot übernahm von dem Kranken noch den Auftrag, auch uns über seine Umkehr Mittheilung zu machen und uns in seinem Namen um Verzeihung zu bitten. Nach Corcoret's erbauendem Tode kamen die übrigen Jacobiner in Tissot's Wohnung und dankten ihm für die Dienste, die er ihrem Freunde geleistet.«
Der Abbé Lecomtois brach hier ab, um den Marquis daran zu erinnern, daß er das Glas Wein, welches vor ihm stand, noch nicht mit den Lippen berührt habe. Nachdem Herr von Neuville seinem Freunde Bescheid gethan, bat er denselben um die Fortsetzung seiner Erzählung.
»Am 5. März – es war der zweite Donnerstag in den Fasten –«, nahm der Pfarrer seinen Faden wieder auf, »kam Vetter Georges nach Saintes mit dem Freilassungs-Decret für mich und mehrere andere Priester. Schon am folgenden Tage erhielten wir die Erlaubniß, auszugehen, um unsere Pässe in Ordnung zu bringen. Am 9. reisten wir von Saintes ab und langten des Abends in der zwischen reichen Weingeländen belegenen schönen Stadt Saint-Jean-d'Angély an. Wir erfuhren dort, daß man eine Collecte abgehalten habe, um den verfolgten Priestern zu Hülfe zu kommen. Angoulême hatte zweitausendvierhundert, Orleans dreitausend Livres in Papier zusammengebracht, welche man nach Saintes schicken wollte. Im Verfolg unserer Reise nahmen wir überall mit Freude wahr, daß die öffentliche Meinung sich völlig geändert hatte. Nicht nur mißhandelte das Volk die Priester nicht mehr, sondern auch die Gläubigen, welche während des Schreckensregiments zum Schweigen verurtheilt gewesen, wagten jetzt wieder öffentlich aufzutreten; sie empfingen die heimkehrenden Proscribirten feierlich mit unverhohlener Freude.
»Unser Weg ging zunächst nach Paris. Wir kamen dort am 26. März 1795 an und begaben uns unverzüglich zu unserm Abgeordneten Guilleraut, um demselben für seine Verwendung in unserer Sache unsern aufrichtigen und warm gefühlten Dank abzustatten. ›Ich habe nur eine Pflicht der Gerechtigkeit erfüllt‹, antwortete er uns, ›und ich schätze mich glücklich, daß ich zu euerer Befreiung beitragen konnte.‹ Wir stellten dem trefflichen Manne sodann vor, daß noch viele unserer Amtsbrüder, für welche vielleicht Niemand sich verwenden werde, in Saintes gefangen gehalten würden. Herr Guilleraut bat uns um die Namen derselben und versprach, ihre Sache zu vertreten. Er hielt Wort. Bald nachher kehrten sämmtliche Gefangenen von Saintes zu den Ihrigen als freie Bürger zurück. In Paris blieb ich nur wenige Tage und machte mich dann auf den Weg hieher.
»Das sind meine Fahrten, Adrian; jetzt ist an dir die Reihe, zu erzählen.«
»Erlasse es mir für heute, Jean-Baptiste,« antwortete der Marquis, tief aufseufzend. »Wenn ich von Paris wieder zurückgekehrt bin, wird sich schon eine gelegene Stunde finden.«
Die Leiche des alten Vincenz wurde drei Tage später auf dem Kirchhofe von Baignon beerdigt an einer Stelle, wo für zwei Gräber Platz war. Der Marquis hatte es sich so ausgebeten.
Der Notar, welchem Herr von Neuville das Testament des Verblichenen eingehändigt hatte, theilte ihm mit, daß er der einzige Erbe von Vincenz' kleinem Vermögen sei. »Sollte der Herr Marquis von Neuville nicht mehr leben,« hieß es am Schlusse des Documents, »so vermache ich alles, was ich besitze, dem Fräulein Charlotte von Neuville, wohnhaft zu Paris, im Hause des Generals Marcel.+...«