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IV.
»Allons, enfants de la patrie!«

Einem Feuersignal gleich, das sich von Höhe zu Höhe weiterpflanzt, eilte die große Revolution von 1789 auf Windesflügeln von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, bis in die entlegensten Weiler. Weil die Bewegung in ihrem Kern manches Wahre enthielt, gegen manches veraltete Unrecht sich richtete, fand sie Anklang in ihrem Beginn weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Daß Klopstock, Schiller, Görres – von Andern nicht zu reden – sie freudig begrüßten und verherrlichten als die Morgenröthe einer schönern Zukunft, ist bekannt. Später allerdings, als, nach dem Königsmorde, die Pöbel- und Blutherrschaft begann, wendeten alle Edeln sich mit Abscheu von diesem Unwesen ab. Das ganze neuere continentale Staatensystem beruht auf ihr und hat seine besten Einrichtungen aus ihr entnommen, während die englische Revolution im 17. Jahrhundert spurlos an den übrigen europäischen Staaten vorüberging, weil der Continent damals so sehr, materiell und geistig, an den Nachwehen des dreißigjährigen Krieges daniederlag, daß das Volk über die Brodsorgen nicht hinauskam. Die französische Revolution von 1789 war eine große Revolution, sowohl ihrer Zeitdauer und Intensität, als auch vor allem ihrem Einflusse und ihren Errungenschaften nach. Allerdings hat das französische Volk selbst die wenigsten Früchte von ihr geerntet: die Militair-Dictatur folgte ja gleich nach und führte, nach mancherlei Regierungs-Experimenten, zu der zweiten Revolution, von 1830; diese hinwiederum endete mit dem unseligen Bürgerkönigthum und lief schließlich in die dritte von 1848 aus, deren Ergebniß abermals die Militair-Autokratie war. So hat denn der Königsmord den Mördern bis in's dritte und vierte Glied keinen Segen gebracht. Mehr aber als die Franzosen selbst haben fast alle übrigen continentalen Staaten der Umwälzung von 1789 – die spätern Volksaufstände waren, wie oben angedeutet, nur Auffrischungen dieser grundlegenden Erhebung – zu danken, obwohl sie eine etwas längere Zeit gebrauchten, um sich die berechtigten Ideen der Neuzeit anzueignen, und namentlich, um das alte landesfürstliche oder bureaukratische Bevormundungssystem als unzeitgemäß abzuschütteln.

So stellt sich uns die Revolution von 1789 als das wichtigste und folgenschwerste Ereigniß in der Geschichte der neuern Zeit dar nächst der Reformation des sechszehnten Jahrhunderts. Nur gewaltsam kommen so durchgreifende Umgestaltungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zum Durchbruch. Man vergißt leicht bei dem mächtigen Andrang der frei gewordenen neuen Ideen das Maßhalten, und in den Händen der Leidenschaft, welche gierig jedes Mittel ergreift, wird dasjenige, was die Welt neu beleben sollte, ein Werkzeug des Todes und der Vernichtung; nur über Gräber und Greuel schreitet, wie es scheint, die Geschichte aus dem einen Stadium in das andere. Mit Entsetzen wendet das Auge sich von den Unmenschen fort, welche sich damals in Paris und ganz Frankreich als die Priester der Freiheit und Brüderlichkeit geberdeten und Jedem den Kopf vor die Füße legten, der ihr Galgen-Prophetenthum anzuzweifeln sich erkühnte. Die schauderhaftesten Verbrechen fanden auf der Tribune ihre Vertheidiger; unten herrschte ja das Mordgesindel, oben die Alleinpächter der menschlichen Weisheit, die Verächter der Friedensbotschaft von Oben.

Beim Anblick dieser blutigen Schauspiele verschlechterte sich der von Natur aus sanfte und großmüthige Charakter des französischen Volkes in demselben Maße, wie sein Urtheil durch die vergifteten Doctrinen verkehrt wurde, welche ihm jeden Abend und jeden Morgen die Clubs und Zeitungen eintrichterten. Selbst das kleinste Dorf hatte seine Redner in dem neuen Nationalcostüm: mit aufgestreiften Aermeln und rother Freiheitsmütze. Leute wie der Pater Duchesne kamen in die entlegensten Weiler und predigten dort ihre Mörderweisheit, und die von ihnen bethörten Bauern stürzten sich auf die Schlösser, welche ihre Altvordern geschützt, auf die Klöster, die sie ernährt, auf die Kreuzbilder an den Wegen, vor denen ihre Mütter gebetet hatten. Dieser unselige Taumel kostete Frankreich sein edelstes Blut, seine ältesten und kunstreichsten Denkmäler. Jene festen Burgen, welche den Engländern, den Spaniern getrotzt hatten; aus denen, an der Spitze ihrer Reisigen, die Helden der Kreuzzüge, die Gefährten der Jungfrau von Orleans, die Waffenbrüder Bayard's, die Getreuen Heinrich's IV., die Offiziere Ludwig's XIV. hervorgegangen waren; diese Burgen, an welche sich so zahl- und ruhmreiche Erinnerungen knüpften, sie fielen unter dem Hammer. Die Abteien, deren erste Bewohner die Heiden zum Evangelium bekehrt, die alten Wildforste Galliens ausgerodet, die Sümpfe trocken gelegt, das Land urbar gemacht und durch eine lange Reihe von Generationen die Kinder des Königs wie des Bauern unterrichtet hatten, – man warf die Brandfackel in sie hinein oder verkaufte sie dem Meistbietenden. Die Städte verloren ihre Krone, ihren Kranz die Dörfer.

 

An jenem Tage, wo der Marquis von Neuville sein Schloß verlassen hatte, weilte Delphine, von tausend Aengsten gequält, mit ihrem Töchterchen in ihrem Zimmer. Bei jedem Geräusch, das aus der Landschaft herüberdrang, fuhr sie erschreckt zusammen; es waren für sie Klänge böser Vorbedeutung; was sie heraushörte, waren Todesdrohungen und Verwüstungsrufe. Sie zitterte für ihren Gemahl, für ihre Tochter, für sich selber. Ihre sorglosen Kinderjahre und ihr bisheriges glückliches Familienleben an der Seite eines wahrhaft liebenden Gatten hatten sie an Furcht und Sorgen nicht gewöhnt; so recht eigentlich in tiefster Seele gelitten hatte sie noch nie; diese erste Prüfung trat daher mit dem vollen, furchtbaren Ernst der Wirklichkeit an sie heran.

Der alte Vincenz hatte inzwischen die Eingänge des Schlosses verriegelt und hielt nun Ausschau auf das Dorf von dem engen Thürmchen, welches das Eingangsthor beherrschte und vormals, in Kriegszeiten, des Wächters Aufenthaltsort gewesen war. Das sonst so ruhige Dorf glich jetzt, aus der Ferne betrachtet, einem aufgestörten Bienenkorbe. An allen Thüren flatterte die Tricolore, von der phrygischen Mütze überragt; der Tambour zog trommelnd durch die Gassen, und von allen Seiten, hinter Häusern, Hecken und Zäunen hervor, kamen Menschen in schmutzigen Kleidern, große Cocarden an der Mütze oder am Hute. Die Meisten waren bewaffnet, die Einen mit Piken, welche man auf dem Bürgermeisteramt den »guten Bürgern« auslieferte, Andere mit Musketen, vielleicht aus Lens oder Fontenoy herbeigeholt, noch wieder Andere endlich mit Sensen, Mistgabeln und Knütteln. Betrachtete man die Einzelnen an sich, so zeigten Manche wahre Galgenphysiognomieen; im Haufen zusammen nahmen sie etwas Scheues und Drohendes zugleich an. Vincenz kannte sie alle: es waren die Taugenichtse des Dorfes und der umliegenden Flecken, Menschen, die von der öffentlichen Justiz verfolgt wurden, Wilddiebe, Wegelagerer, Trunkenbolde, Müßiggänger. Der große Christoph führte sie an; mit seinem alten Säbel, den er drohend durch die Luft schwang, sah man ihn bald hier, bald dort. An einer Straßenecke stand der Schulmeister Sylvain auf einer Tonne und haranguirte das »Volk«. Die am stärksten betonten und am häufigsten wiederkehrenden Worte: »Sklaverei,« »Feudalwirthschaft,« »Herrenprivilegien,« »Tyrannei,« »Freiheit,« »Rache,« trug der Wind zu den Ohren des alten Schloßverwalters herüber. Dieser bemerkte keinen angesehenen Pächter und keinen geachteten Bauersmann unter der Gruppe, schöpfte daraus jedoch nicht die geringste Hoffnung; die Wohlgesinnten, die damals wie allezeit zu wenig die Mahnung beachteten: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« hielten sich überall verborgen und ließen geschehen, was sie nicht glaubten verhindern zu können.

Die Rede des Schulmeisters wurde mehrfach durch Beifallsrufe unterbrochen, und als sie zu Ende war, stärkten Redner und Zuhörer sich gegen Heiserkeit durch einen langen Aufenthalt in dem Wirthshause. Vincenz wollte sich schon mit dem Gedanken beruhigen, daß sie sich dort gegenseitig unter den Tisch saufen würden; aber ein wildes Gebrüll, aus welchem die »Marseillaise« hervorklang, belehrte ihn bald, daß seine Hoffnung eine trügerische war.

Der Haufen näherte sich dem Schlosse. Im Scheine der untergehenden Sonne funkelten blutroth die Piken und Sensen; das blutige Ochsenherz, vor welchem die Marquise sich am Morgen entsetzt hatte, unterschied Vincenz deutlich an der Spitze einer Hellebarde. Unter Toben und Schreien langten die trunkenen Taugenichtse endlich beim Schloßhofe an. Der große Christoph überschritt die steinerne Brücke und stieß mit Fuß und Gewehrkolben wider das Eingangsthor. Das Echo der Gewölbe gab das Geräusch zurück; Vincenz öffnete nicht. Neue Stöße erdröhnten, und ein furchtbares Geschrei brüllte gen Himmel.

Der Schloßverwalter überlegte einen Augenblick mit sich; das Thor konnte auf die Dauer nicht widerstehen; die Wuth der Eindringlinge mußte sich durch den Widerstand, den sie fanden, nur noch steigern. Vincenz hielt es deshalb für das Beste, hinunterzugehen und zu öffnen. »Was ist euer Begehr?« fragte er, langsam den Schlüssel umdrehend.

»Wo ist der Marquis, der Hund?« schrie Christoph. »Wir wollen Gericht über ihn halten!«

»Der Herr Marquis ist abwesend,« antwortete Vincenz.

»Du lügst!« lautete die Entgegnung.

»Glaubt mir, liebe Leute, mein Herr ist verreist,« wiederholte Vincenz.

»Und ich sage nochmals, daß du lügst, infamer Speichellecker,« brüllte der Rädelsführer. »Folgt mir, Kameraden! Wir werden den Junker in seiner alten Maulwurfsfalle schon auffinden – –«

»Ja, und müßten wir sie in tausend Stücke hauen!« rief eine andere Stimme.

Die ganze Bande stürzte durch das Thor in die gewölbte Halle, in welcher das Fallgatter aus frühern Jahrhunderten noch hing, schon lange außer Brauch und von Rost überzogen. In wilden Sätzen stürmten die Rothmützen durch die Gemächer des Erdgeschosses. Christoph suchte ernstlich nach dem Marquis; seine taumelnden Genossen dagegen fanden in ihrer brutalen Abgestumpftheit ihr Vergnügen daran, alles zu plündern, umzustürzen und zu zerstören, was ihnen vorkam. In wenig Augenblicken war die geschmackvolle Ausstattung der großen Säle in einer Weise verwüstet, als ob eine feindliche Armee darin campirt hätte. Die Möbel lagen in Stücken auf dem Boden umher; überall trat man auf Glasscherben und Stücke kostbaren Porzellans; die großen Gemälde waren von Pikenstichen durchlöchert, und es schien, als ob die Blicke dieser Ritter, Staatsbeamten und Edelfrauen entrüstet den verächtlichen Zerstörern folgten.

»Hier unten ist der Hallunke nicht; allons, hinauf!« rief Christoph, »ich kenne den Weg.«

Madame de Neuville war auf die Kniee gesunken und hielt ihr Töchterchen in den Armen; halbtodt vor Angst, erwartete sie ihr Schicksal. Der alte Vincenz, um welchen die Horde sich nicht weiter gekümmert hatte, war bei ihr. Der Corridor erdröhnte unter wuchtigen Schritten. Die Zimmerthüre ward eingestoßen, und wie eine Meute toller Hunde drang die Bande in das Gemach.

»Wo ist der Tyrann?« brüllte Christoph und stürzte auf die Marquise zu.

Letztere konnte nicht antworten. Der Arm, welcher das Töchterchen umschlang, sank schlaff herab.

Die kleine Charlotte stellte sich vor ihre Mutter und betrachtete den rasenden Christoph mit thränenden Augen. »Herr,« sagte das Kind, »thue Mama nichts zu Leide!«

»Willst du auch schon was sagen, kleine Kröte?« schrie Christoph und machte Miene, die Kleine bei Seite zu schieben.

Charlotte aber warf sich an die Brust ihrer Mutter und dieselbe fest umschlingend, wiederholte sie: »Ihr sollt sie nicht anrühren, Herr! Mama ist krank.«

»Christoph,« fiel Vincenz ein, »Ihr kennt mich und Ihr wißt, daß ich nicht lüge; ich schwöre Euch bei meiner Seele Seligkeit, daß der Herr Marquis abwesend ist.«

»Und jenes Weib und der Balg da sind doch Weib und Tochter des Schurken, he?«

Vincenz schlug die Augen zu Boden.

»Ihre Güter,« decretirte der Jacobiner weiter, »sind kraft des Gesetzes der Nation verfallen. Dieses Weib wird bis zu seiner Niederkunft als verdächtig in seinem Hause bewacht und nachher dem National-Procurator zur Verfügung gestellt werden. Die Nation ist milde selbst in ihrer äußersten Strenge; sie weiß, was man der Natur und der Mutterschaft schuldet. Aber wenn die Bürgerin Neuville ihres Amtes gewartet hat, so seht euch vor! Allons, Bürger, weiter! Wir kommen später wieder. Bridelances, Thomas, Bonvoisin und der Bürger Brutus sollen bis morgen in diesem ci-devant Schlosse die Wache versehen. Vorwärts!«

» Allons, enfants de la patrie!
Le jour de gloire est arrivé!

So singend zogen sie ab. Vielleicht waren sie gerührt durch die unschuldige Charlotte und durch den erschütternden Anblick der Marquise. Oder hatte der große Christoph einen andern Plan entworfen? Allerlei ließ sich vermuthen, befürchten aber mußte man das Schlimmste. Die Plünderer steckten auf ihrem Rückwege die Scheunen und Wirthschaftsgebäude des Schlosses in Brand. Die Feuersbrunst währte die ganze Nacht hindurch. Die Mauern der alten Burg widerstanden ihr, indem es Vincenz gelang, mit Hülfe des Gesindes die Flammen, welche einen Theil des Daches ergriffen hatten, zu löschen. Rauchende Trümmerhaufen umgaben am andern Morgen, statt der Meierei, der Ställe und Scheunen, den verwüsteten, von dem Rauche geschwärzten Herrensitz.

Die Marquise, jetzt eine Gefangene in ihrer eigenen Wohnung, erlangte inmitten solcher Verwüstung das Selbstbewußtsein wieder; aber sie war so krank, so von Grund aus abgemattet, daß selbst das Schreckniß keinen Eindruck mehr auf sie ausübte. Die nächsten Tage vergingen ihr unter grausamen Qualen. Vor der Zeit kam unter Thränen und Schrecknissen, in tiefster Verlassenheit ein Kind zur Welt, welches nur zwölf Stunden lebte. Es war eine vom Sturmwirbel gewaltsam abgerissene Knospe.

Dem großen Christoph soll das Lob nicht vorenthalten bleiben, daß er die Genesung der Marquise großherzig abwartete. Sobald die Wöchnerin sich aber wieder aufrecht halten konnte – es war im November, – kam er, vom Executiv-Commissar begleitet, und ließ sie sammt der kleinen Charlotte in das Untersuchungsgefängniß von Amiens abführen.

Vierzehn Tage später wurden das Schloß und sein Mobilar, ebenfalls durch Christoph, an den Meistbietenden verkauft; Christoph selbst erstand alles um einen Spottpreis. Dem Schulmeister Sylvain wurde der Pachthof nebst den dazu gehörigen Wiesen, welche seinem Hause zunächst gelegen waren, zugeschlagen. Endlich erwarb der Commissar der Executiv-Gewalt das massive Silbergeschirr und einen Theil der an Urkunden reichen Bibliothek; er war nämlich ein Alterthümler und Bücherliebhaber.


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