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Während Vincenz abschrieb, Delphine ihren unruhigen Gedanken und Träumen nachhing, stand die Zeituhr keines Athemzuges Länge still. Charlotte näherte sich dem Ende ihrer Kinderjahre: sie hatte jetzt elf Sommer gesehen, und die Bildung ihres Geistes und Herzens war ihrem Alter weit voraus. Sie bildete sammt ihrem abwesenden, verbannten, vielleicht todten Vater den Gegenstand der zartesten Sorge des Alten; aber eben diese Zärtlichkeit erhielt durch seinen Charakter und seine Ueberzeugungen sowie durch die Zeit, in welcher diese Erzählung vor sich geht, einen besondern Ernst. Vincenz wagte nicht, Delphine zu tadeln; wohl aber wünschte er von Herzensgrund, daß Charlotte der Marquise nicht ähnlich werden, sondern in einem lebendigen Christenglauben die Kraft und den Frieden finden möge, welche ihrer Mutter leider nicht beschieden waren.
Die Marquise hatte den Alten, wie wir wissen, als er das Kind an die noch verpönten Altäre führen wollte, auf »ruhigere Tage« verwiesen. Diese friedlichern Tage kamen nur nach und nach. Noch waren die Kirchen nicht wieder geöffnet, die Priester nicht durch das Gesetz gegen Mißhandlungen geschützt; anderseits jedoch ließ die Obrigkeit den Dingen ihren Lauf, und »die Aera der Freiheit« duldete sogar, daß man dem im Stillen abgehaltenen Gottesdienste beiwohnte. Das war verhältnißmäßig viel zugestanden. Vincenz suchte die Sache für sich auszubeuten. Gestützt auf die wieder zur Geltung kommende Sicherheit, bat er die Marquise um die Erlaubniß, Charlotte zur Kirche mitzunehmen und sie für die erste Communion vorbereiten zu lassen. Er erinnerte die Mutter dabei an ihren Gemahl, welcher, als ein guter Christ, seine Tochter gewißlich auch in religiöser Beziehung nicht vernachlässigen würde, wenn er da wäre.
Diese letztere Hindeutung machte auf die Marquise einen tiefen Eindruck. »Ich Unglückliche!« seufzte sie. »Für mich ist Adrian verloren. Ich wage nicht mehr zu hoffen. Ach, ich bin wohl zu beklagen – ganz allein in der weiten Welt!«
»Fräulein Charlotte bleibt Ihnen doch noch, Frau Marquise,« tröstete Vincenz. »Aber,« setzte er hinzu, »damit sie Ihnen gut und treu sei, müssen Sie das Kind dem Herrn weihen.«
»Ich wünsche eben so warm wie du, Vincenz, daß sie neben ihrer weltlichen Bildung auch eine vernünftige Religiosität besitze. Da du mir versicherst, daß jetzt für sie keine Gefahr mehr vorhanden sei, wohlan, Vincenz, nimm sie mit dir. Ich weiß, sie ist bei dir in guten Händen, und es wäre undankbar von mir, wollte ich einen so bedeutsamen Antheil bei der Erziehung meines Kindes dir vorenthalten.«
»Sie sind sehr gütig, Frau Marquise, mich mit diesem Zeugniß zu beehren! Glauben Sie mir, gnädige Frau, daß ich nur auf das Beste Charlottens bedacht bin bei allem, was ich thue+...«
»Ja, ich weiß das, Vincenz; und kehrte Adrian uns zurück, o, wie dankbar würde er dir sein!«
»Frau Marquise, ich hoffte, der Herr Marquis würde wiederkehren; ich hoffte, ihn selbst Ihnen zurückzugeben. Sie wissen, daß ich auf die Rückkehr meines Neffen nach Paris und auf seine Gunst bei dem Helden des Tages große Stücke gebe. Leider ist er eben jetzt von der Sambre- und Meuse-Armee nach Italien versetzt worden, zu den Truppen Bonaparte's, jenes Bonaparte, der die Kanonen zu Saint-Roch so trefflich gerichtet hat. Marcel hat auf dem Schlachtfelde von Lodi die Ernennung zum Schwadrons-Chef erhalten. Aber damit bleibt er stets fern von hier! Wer weiß, wann er zurückkommt, und ob er überhaupt am Leben bleibt? Es sind ja so mörderische Kriege!«
»Auch dieser letzte schwache Hoffnungsschimmer erbleicht also!« murmelte Delphine. »Nie, nie werde ich Adrian wiedersehen, werde immer allein sein!«
Sie brach in Thränen aus. Vincenz wußte nicht, was er vorbringen sollte, um diesen nur zu sehr gerechtfertigten Schmerz zu lindern und die traurigen Gedanken seiner Herrin zu verscheuchen. Er selbst kannte im Leiden keinen andern Trost als den Glauben; das Wort des Apostels: »Ist Einer traurig unter euch, der bete!« galt ihm als Maxime. Aber der Glaube ist ein Werk göttlicher Gnade; der Mensch kann diese höchstens dadurch unterstützen, daß er ihr eine willfährige Stätte in sich selber und Andern bereitet.
In Charlottens Seele war dies bereits geschehen durch das erhebende Andenken an Calixta von Offremont, die so freudig für ihre religiösen Ueberzeugungen gestorbene Märtyrin von Amiens. Die Gefängnißscenen und die Lectionen ihrer verklärten Freundin blieben Charlotten unauslöschlich in das Herz geprägt. Als Vincenz ihr nun mittheilte, daß er sie zur Kirche in den Religionsunterricht führen wolle, daß sie dort die Messe hören und nach Verlauf einiger Monate ihre erste Communion feiern solle, freute Charlotte sich ungemein, und am folgenden Sonntage war sie schon vor Tagesanbruch angekleidet und fertig.
In den Straßen begegneten Vincenz und Charlotte nur Gemüsekarren, Getreidewagen, Patrouillen, die sich beim Glanz der aufgehenden Sonne die Augen rieben, und von Zeit zu Zeit einer Frau, einigen Kindern oder Greisen, welche an den Häusern entlang huschten und dann plötzlich in dem Dunkel eines Hausganges verschwanden. »Die,« flüsterte Vincenz seiner Begleiterin zu, »die gehen denselben Weg mit uns. Das Haus dort an der Straßenecke, welches einer armen Fruchthändlerin gehört, ist gegenwärtig an unsern Herrgott vermiethet; er wohnt oben ganz hoch, wo für die Gläubigen dieses Stadtviertels die heiligen Geheimnisse gefeiert werden.«
»Warum gehen wir denn nicht dahin?« frug Charlotte.
»Weil dort nicht gepredigt und keine Christenlehre gehalten wird. Der Raum ist zu klein dafür. Wir müssen noch etwas weiter.«
Schweigend verfolgten sie ihren Weg. Bei einer Biegung der Straße nahm Vincenz wieder das Wort. »Wir sahen so eben eine Nothkirche,« sagte er. »Wie viele ehemalige Gotteshäuser werden jetzt zu den niedrigsten Geschäften mißbraucht! Hier dies zertrümmerte alte Thor mit dem gothischen Bogen führt in die frühere Karthäuserkapelle, welche von einem französischen Könige gegründet wurde. Sie dient jetzt als Heumagazin! Andere Kirchen sind in Pferdeställe verwandelt; wo ehedem die Gläubigen vor den Altären knieten, da stehen jetzt unvernünftige Thiere – sie sind freilich noch mehr werth, als die altheidnischen und neumodischen Götzen, denen man auf andern Altären ihren Platz angewiesen hat. So ist die Notre-Dame-Kirche der Tempel der Göttin Vernunft, Saint Eustache ist der Freiheit geweiht, …Gott weiß, welche Profanationen an diesen Stätten begangen worden sind und noch begangen werden! Vor einigen Tagen trat ich in eine alte Kirche, welche noch ziemlich anständig aussah, und was war's? – ein Tempel der ›Theophilanthropen‹. Ein weißgekleideter Mensch, wie man sie wohl auf Jahrmärkten sieht, stand auf einem Holzblock, sang eine Opern-Arie und opferte ›dem Ewigen‹ Blumen – in dem ›allerchristlichsten‹ Königreich! Wann werden endlich wieder bessere Zeiten kommen?!«
Man war mittlerweile in einer der ältesten Straßen des öden Stadtviertels angelangt. Dort erhob sich eine sehr alte Kapelle, welche, dem heiligen Bartholomäus geweiht, früher der Gerberzunft angehört hatte. Beim Ausbruche der Revolution war dieselbe Eigenthum eines Privatmannes und entging deshalb der Zerstörung. Aeußerlich verrieth sie sich durch kein religiöses Abzeichen. Ihr hoher Giebel unterschied sich durch Nichts von den übrigen alterthümlichen Gebäuden, die sie umgaben, noch auch zog ihr niedriges Thor die Blicke auf sich. Nur das Auge eines Alterthümlers von Fach und Erfahrung hätte auf den mit schwarzen Flechten überwachsenen Steinen die Jahreszahl und die Embleme der Gilde, die sich vor Zeiten daselbst versammelte, entdecken können. Was das Innere der Kapelle anbelangt, so war dieselbe ein hohes, kühnes Gewölbe, welches, ohne Pfeiler und Säulen, auf den Mauern ruhte; drei große Fenster, welche in der Apsis angebracht waren, verbreiteten eine Fülle von Licht über den Altar. Der ursprüngliche Altar war vorlängst zerstört worden; man hatte ihn durch ein Brettergestell ersetzt, welches mit weißem Linnen bedeckt war und das Crucifix sammt Leuchtern trug. Zwölf, durch den Zahn der Zeit arg verstümmelte, die Apostel vorstellende Statuen, unter gothischen Baldachinen, waren die einzige Zierde der heiligen Stätte.
Die Mehrzahl der zum Gottesdienste Versammelten waren Frauen aus allen Klassen der Gesellschaft. Sie schienen sämmtlich in Andacht versunken, wie sie es vordem wohl oftmals nicht gewesen waren in den festlich geschmückten Räumen der Saint-Eustache-Kirche oder unter den erhabenen Wölbungen von Notre-Dame. Die Messe begann. Der Priester, welcher die Stufen des Altars hinanstieg, ein bejahrter Pfarrer aus Paris selbst, hatte sich nicht abschrecken lassen, unter Lebensgefahr seines Amtes zu warten; auch während der Schreckensherrschaft hatte er unterrichtet, getröstet, die Sacramente gespendet. Er taufte die Kinder am Bette ihrer Mütter, hörte Beichte, eilte an das Lager der Sterbenden und trotzte in seinem heiligen Pflichteifer dem Gefängnisse und dem Tode. Gott, der nach dem Ausdrucke eines Heiligen bisweilen gestattet, daß ein Spinnengewebe zu einer Mauer wird, Gott wachte über seinen treuen Diener; er errettete ihn aus den gefährlichsten Lagen und ließ diesen Gerechten in Sodoma übrig, um der Anwalt der Sünder zu sein. Der Priester feierte das göttliche Opfer mit so viel Würde, wie er es sonst am Osterfeste in seiner Pfarre gethan hätte. Nach dem Evangelium hielt er eine kurze Anrede an die Gläubigen, welche ihren Eindruck nicht verfehlte. Niemand wurde von derselben so ergriffen und begeistert, wie Charlotte; sie glaubte alle ihre Glücksträume jetzt erfüllt. Nach der Messe stellte Vincenz sie dem Pfarrer vor. Dieser freute sich über die Kenntnisse des jungen Mädchens und versprach, sie während der nächsten Zeit jeden Sonntag in den Glaubenswahrheiten weiter zu unterrichten. Charlotte legte in den folgenden Wochen ihren Katechismus nicht aus der Hand, und als der 15. August kam, ein Marienfest, welches früher von ganz Frankreich gefeiert worden, war sie weit genug vorgebildet, um zur ersten Communion zu gehen.
Auch Delphine begleitete an diesem Tage ihre Tochter zur Kirche. In der ersten Morgenfrühe machten sie sich auf den Weg. »Es ist jetzt nicht, wie ehemals, Frau Marquise«, sagte Vincenz. »Früher überall Blumen, Teppiche und Fahnen auf den Straßen an diesem ›Feste des Gelübdes Ludwig's XIII.‹, – wo
»Man sah zu den geschmückten Tempelhallen
Die gläub'ge Menge gleich dem Waldstrom wallen!«
Ich war in meinen Kinderjahren Chorknabe von Saint-Vaast. Ich erinnere mich noch lebhaft der schönen Processionen, welche um den Garten und das Kloster gingen. Als wir damals die ›Athalie‹ memoriren mußten, dachte ich wahrlich nicht daran, daß unsere Kirchen eines Tages behandelt werden würden wie der Tempel von Jerusalem, und daß auch auf uns jener Vers passen würde:
›Die Priester sind in Haft, die Könige gestürzt.‹«
»Alles wird wieder besser werden,« sagte Charlotte sanft. »Seht, wie zahlreich die Andächtigen zur Kirche eilen.«
Die Kapelle war in der That mit einer großen Menge angefüllt, welche voller Sammlung auf den Beginn des Gottesdienstes wartete. Charlotte erhielt Platz zwischen einem halben Dutzend anderer Kinder, die, wie sie, ihre erste Communion feiern sollten. Welcher Unterschied zwischen jetzt und früher! Ehemals war der Altar an solchen Tagen von Kerzenlicht, das sich tausendfach in dem Edelgestein der heiligen Geräthe brach, schimmernd umflossen; die priesterliche Kleidung zeigte dem Auge prachtvolle Stickereien, die man wegen ihrer Vollkommenheit füglich Nadelgemälde nennen konnte; dann trug die Orgel auf majestätischen Flügeln die heiligen Gesänge himmelwärts, – himmelwärts, wie das Gebet, zogen die Weihrauchwolken aus goldenen Gefäßen. Jetzt nichts von all diesem Glanze friedlicherer Tage; selbst die Kinder trugen ihre gewöhnlichen Kleider, keinen Schleier noch Krone, nicht Blumen oder Fackeln – ihre ganze Vorbereitung beschränkte sich auf das Innere.
Delphine war tief gerührt über die große Inbrunst und Andacht, mit welcher ihr Kind zum Tische des Herrn ging. Auch auf weniger religiös gestimmte Seelen und unter ganz andern Umständen pflegt ja die Kindercommunion einen Eindruck von eigenthümlicher Kraft zu machen.
Für Charlotte war hiermit die sorglose Kinderzeit zu Ende, und dieser Tag des Glückes war für sie zugleich das Thor zum Ernst des Lebens.