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XIV.
Der 27. März 1802.

Der sechsundzwanzigjährige corsische Advocatensohn Bonaparte hatte die französische Republik binnen den zwei Jahren von 1796 bis 1798 zu der gefürchtetsten Macht von ganz Europa gemacht. Alle seine Kriegsfeinde hatten die Waffen vor ihm strecken müssen – mit alleiniger Ausnahme des britischen Inselreichs. Während der General Bonaparte in Italien und Deutschland mit dem Schwerte in der Faust als Dictator Gesetze vorschrieb, an denen jeder Paragraph eisern war, kreuzte Englands furchtbare Armada in den indischen Gewässern und entriß der gallischen Republik eine Colonie nach der andern. Das mußte gerächt, auch der übermüthige Brite sollte gedemüthigt werden. Nachdem die Dinge in Italien und Deutschland durch den schon erwähnten Frieden von Campo Formio und durch den Congreß zu Rastatt einstweilen geordnet waren, lief Bonaparte am 22. Mai 1798 mit einer großen Flotte aus dem Hafen von Toulon, um Aegypten zu erobern und von dort aus die Macht der Engländer zunächst in Indien zu brechen. Am 10. Juni fiel die Felsenfestung Malta in die Gewalt der Franzosen; am 1. Juli landeten sie bei Alexandria in Aegypten, nahmen dies im Sturm und rückten gegen die Hauptstadt Kairo weiter, welche sich, nach der glorreichen Schlacht bei den Pyramiden, ebenfalls ergeben mußte. Ganz Oberägypten und ein guter Theil von Syrien wurden erobert.

Mittlerweile waren in Europa Dinge vor sich gegangen, welche Bonapartes Rückkehr nach Frankreich erheischten. Nachdem schon durch den Frieden von Campo Formio aus der vormals österreichischen Lombardei und den oberitalienischen Besitzungen einiger kleiner Fürsten die »cisalpinische« und aus dem genuesischen Ländercomplex die »ligurische Republik« gebildet waren, rückten die Franzosen am 28. December 1797 in Rom ein, hoben die päpstliche Regierung auf und verwandelten im Februar 1798 den Kirchenstaat in eine »Römische Republik«. Der zweiundachtzigjährige Papst Pius VI. wurde fortgeschleppt und starb als Gefangener 1799 zu Valence in Südfrankreich. Frankreichs nächster Gewaltschritt war die Umwandlung der schweizerischen Eidgenossenschaft in die »helvetische Republik«. Sodann wurde das Königreich Neapel mit Krieg überzogen, erobert und zur »Parthenopëischen »Parthenope« hieß Neapel in der ältesten Zeit. Republik« erklärt. In Deutschland waren die französischen Generale Jourdan und Massena immer weiter vorgerückt, da der Rastatter Congreß die Dinge nicht endgültig geregelt hatte.

Diese Vorgänge veranlaßten die zweite große Coalition gegen Frankreich, welche, von dem englischen Minister Pitt angeregt, zwischen Großbritannien, Rußland, Oesterreich und der Türkei vereinbart wurde. Jourdan und Massena wurden von dem österreichischen Erzherzog Karl über den Rhein zurückgejagt; ganz Italien bis auf Genua und Nizza wurde durch das russisch-österreichische Heer von den Republicanern gesäubert. Dagegen wurden die Russen in der Schweiz geschlagen, und in Folge dessen zog sich der Czar von der Coalition zurück. Im Innern der Republik war das Volk erbittert über die Regierung der fünf »Directoren« und verlangte nach Bonaparte, von welchem allein es sich Raths erhoffte.

Bonaparte ernannte in Aegypten den tüchtigsten seiner Generale, Kleber, zum Oberbefehlshaber der Armee und zum Landesstatthalter und langte darauf im October 1799 in Paris an. Er wurde von dem Volke jubelnd begrüßt, übernahm den Oberbefehl über die Truppen, stürzte die bestehende Verfassung und führte das Consulat nebst »Erhaltungssenat«, Tribunat und gesetzgebendem Körper ein. Er selbst war jetzt factisch Alleinherrscher in Frankreich; denn seine beiden Mitconsuln Cambacérès und Lebrun waren Strohmänner. Zur Regelung der innern Staatsangelegenheiten hielt Bonaparte es für zweckmäßig, die Verbannten zurückzurufen und die geächteten Priester zu begnadigen. Um sein »Regenerationswerk« fortsetzen zu können, bedurfte er vor allem des Friedens. Als seine desfallsigen Vorschläge von England zurückgewiesen wurden, brach er selbst an der Spitze von 60,000 Mann nach Italien auf und eroberte dies Land zurück durch die eine große Schlacht bei Marengo am 14. Juni 1800. Nicht minder glücklich war in Deutschland Moreau, welcher siegreich bis Linz, der Hauptstadt von Oberösterreich, vordrang. Bonaparte wünschte jedoch zunächst Frieden, welcher denn auch 1801 zu Lunéville in Lothringen geschlossen wurde. Durch denselben wurden die Abmachungen von Campo Formio aufrecht erhalten. Der Rhein wurde als die Grenzlinie zwischen Frankreich und Deutschland festgesetzt; so gingen für Deutschland 1200 Quadratmeilen Landes mit beinahe vier Millionen Seelen verloren. Einer Reichsdeputation blieb die Entschädigung der am Rheine beeinträchtigten Fürsten überlassen. Diese Deputation brachte zwei Jahre später ihre Berathungen durch den »Hauptschluß« zu Ende. Alle geistlichen Länder wurden zu Gunsten der weltlichen Fürsten säcularisirt; die Kurfürstenthümer Mainz, Köln und Trier wurden aufgehoben, die Bisthümer Paderborn, Hildesheim und größtentheils auch Münster nebst mehrern Reichsstädten und Abteien an Preußen übergeben. Für ganz Deutschland errichtete man Regensburg als einziges Erzbisthum und Metropole; in Karl von Dalberg erhielt Deutschland seinen Primas. Bonaparte, welcher die Revolution durch die Religion zu unterdrücken suchte, schloß im Jahre 1801 mit dem Papste Pius VII. zur Wiederherstellung der katholischen Kirche in Frankreich ein Concordat ab. Ohne Vorwissen seines Mitcontrahenten erließ er aber zugleich die sogenannten »organischen Artikel«, welche darauf hinausliefen, den Klerus zu Staatsdienern zu machen. Aber man mußte sich auf Seiten der Kirche einstweilen mit dem Erreichten begnügen.

Bonaparte's Stellvertreter in Aegypten, der General Kleber, fiel nach manchen ruhmreichen Thaten durch Meuchelmord. Unter seinem Nachfolger wurden die Franzosen von den verbündeten Türken und Engländern so hart bedrängt, daß sie capituliren mußten: sie räumten Aegypten. Bonaparte rüstete sich unterdessen zu einem directen Angriffe auf Großbritannien, und da die Coalition aufgelöst war, so zogen die Engländer es vor, Frieden mit Frankreich zu schließen. Dieser kam am 27. März 1802 in Amiens zu Stande; die Engländer gaben die meisten der eroberten westindischen Colonieen an Frankreich zurück.

Ein englischer Schooner, welcher sich den eben unterzeichneten Frieden von Amiens zu Nutze machte, hatte mehrere Reisende im Hafen von Boulogne an's Land gesetzt. Die Meisten derselben waren französische Flüchtlinge, welche sich freuten, die Heimatherde wieder betreten zu dürfen. Es befand sich unter ihnen ein Mann von schon vorgerücktern Jahren, dem die Stadt wohl bekannt zu sein schien. Nachdem er in einer kleinen Herberge einen Imbiß genommen und seine Nachtruhe gehalten hatte, machte er sich mit Tagesanbruch in einer engen Halbchaise mit zwei Rädern auf den Weg in das Innere des Landes.

Es war im October. Die aufgehende Sonne wurde noch durch einen weißen Nebel verschleiert, der einen schönen Tag in Aussicht stellte. Thautropfen hingen an den Gräsern und Baumzweigen, und als jetzt der Morgenwind diese letztern schüttelte, rieselte vorübergehend ein dichter Regen auf die lederne Decke des Gefährts nieder. Der Kutscher zuckte mit den Ohren wie ein übergossener Pudel und zog den Kragen seines Mantels in die Höhe. Der Greis im Wagen achtete der feuchtkalten Morgenluft nicht; den Kopf vorwärts gebeugt, betrachtete er eifrig die herbstliche Landschaft, die Bäume und Stauden mit den vergilbten Blättern, die Wiesen mit ihren silbernen Nebelschleiern, die Felder und Aecker, auf denen der Landmann langsam dem langsamen Pfluge folgte, welcher für die Wintersaat das Furchenbeet bereitete, und die pfeilgerade aus den Schornsteinen der Bauernhäuser aufsteigenden Rauchsäulen. Vernachlässigt und verfallen standen die Dorfkirchen, deren Eingänge vielfach mit Unkraut verwachsen waren. Der Fahrweg schien, obwohl er breit genug und regelmäßig angelegt war, in herzlich schlechtem Zustande zu sein; häufige Wagenstöße störten den Reisenden in seinen Betrachtungen und entlockten dem Kutscher endlich den Ausruf der Ungeduld: »Eine Schande, wie der Weg aussieht! Und früher war es der beste der ganzen Provinz!«

»Was fehlt denn jetzt daran?« frug der Greis.

»Er wird nicht unterhalten, nicht ausgebessert. Mit den Wegen verhält sich's accurat wie mit den Pferden, Herr. Wenn ich so ein Thier habe und putz' es nicht gehörig, gebe ihm nicht seine ordentliche Ration Hafer und Häcksel, so wird's ein Knickebein und lendenlahm und läßt mich eines schönen Tages im Stich. Just so und ganz dieselbe Sache ist es mit den großen Fahrwegen. Läßt man sie verkommen, so werden – mit Verlaub! – Dreckpfützen daraus. Glauben Sie wohl, Herr, daß man seit zehn Jahren keine Kieselsteine mehr auf diese Heerstraße geschafft hat?«

»Also seit Ausbruch der Revolution+...«

»Präcis, Herr oder Bürger, wenn Sie das lieber hören. Ich für meine Person bin kein Freund von dieser Revolution. Warum? Wie Sie mich hier sehen, war ich Kutscher bei Herrn von Breteuil. Dort hatte ich's gut, bekam gut Essen und Trinken, wurde gut und pünktlich bezahlt und hatte nichts zu thun. Bon! Da platzt die Bombe los; mein Herr macht sich eiligst aus dem Staube und ich stehe mit meinem dicken Kopf auf der Heerstraße. Was war zu machen? Ich ging nach meiner Heimath Boulogne zurück, schaffte mir den Gaul und die Carosse da an und verdiene damit jetzt mein Brod. Aber welcher Unterschied gegen früher! Und wie hat sich alles geändert! Da ist z.+B., wovon wir just sprechen, diese Fahrstraße: früher war sie dicht gepflastert und eben; jetzt ist es eine wahre Halsbrecherei, über sie zu fahren. Sonst war sie Tag und Nacht sicher, jetzt lauert fast hinter jedem Strauche Diebs- und Raubgesindel, so daß man sich mit einbrechender Dämmerung nicht mehr hinauswagt; es ist schlimmer als zu den Zeiten des berüchtigten »Wolf-ohne-Schwanz« oder Courtaud …Ganz natürlich! Während man die Leute guillotinirte, kümmerte man sich um das Polizeiwesen nicht …Allons, Blesse, hopp! …So, an dem Loch wären wir glücklich vorbei. Aber nein, sehen Sie dort unten, das ist doch gar zu drollig! ein Geleise, so ausgefahren, daß das Loch darin – hol's der Teufel! meiner Blesse als Stallung dienen könnte!«

»Es hat sich hier in der That vieles geändert,« bemerkte der greise Herr im Wagen. »Manchen Edelhof, den ich vormals an diesem Wege gesehen habe, suche ich jetzt vergebens.«

»Das soll wohl sein!« bekräftigte der Kutscher. »Da ist das kleine Schloß Mesnil, die Priorei Sanct Nicolaus, der alte Thurm von Labroye – in welchem ein französischer König vor Zeiten übernachtet haben soll, – die Schlösser der Herren de la Haye und du Fresne, alles ist zerstört; die Schlösser sind dem Boden gleich gemacht, die Priorei dient als Scheune, dem Thurm droht der Einsturz, weil man die eisernen Maueranker ausgebrochen hat. Allons, Blesse!«

»Lag nicht auch dort hinter dem Busche ein Herrensitz?«

»Das Schloß d'Etigny, ein herrlicher Bau, so schön wie Versailles! Es ist davon kein Stein mehr auf dem andern. Die ›schwarze Bande‹ nahm ihren Weg hierher, und wo die vorbeigekommen ist, da wächst kein Gras mehr. Sich selber aber haben die Schlauköpfe wohlweislich die Taschen mit Klingendem gefüllt!«

Der alte Herr seufzte und lehnte sich in das Gefährt zurück; er schwieg fortan. Auch der Kutscher knüpfte die Unterhaltung nicht wieder an, sondern wandte seine ganze Aufmerksamkeit den Lachen und Löchern zu, mit denen der Weg bedeckt war. Gegen Mittag machte man in einer elenden Herberge Halt, deren Wirthin ihren Gästen eine Menge von bösen Geschichten, welche das Land durchliefen, erzählte: Raubanfälle, Ermordungen und sonstige Heldenthaten von Wegelagerern und Marodeuren. Die Herberge glich selbst einer Räuberhöhle, und die Reisenden athmeten wieder freier auf, als sie dieselbe verlassen hatten.

Sie folgten dem Saume des Crécy'schen Waldes und langten gegen Abend in einem Dorfe an, welches unweit der alten Prämonstratenser-Abtei Dommartin lag. Welche Veränderungen waren auch an diesem Kloster vor sich gegangen! Ein prachtvolles Denkmal der gothischen Baukunst und berühmt durch den zeitweiligen Aufenthalt wie durch die Reliquien des muthigen englischen Glaubenshelden Thomas Becket, Bischofs von Canterbury, hatte die Abtei ihre geräumige Kirche, das Refectorium, den Capitelsaal und die schön gemeißelten Grabsteine aus allen Stürmen, Kriegen und Verwüstungen der Jahrhunderte bis in die erste Zeit der Revolution unverletzt hinübergerettet. Da aber hatten wenige Tage zehn- und hundertfach mehr verheert, als alle Stürme und Bürgerkriege. Die geweihte Stätte lag jetzt verlassen; ihre Siedler, Jung und Alt, waren geflohen; durch das aller Ecken und Enden aufgerissene Dachwerk schauten des Himmels Wolken auf die majestätisch angelegten Wölbungen nieder, die jetzt freilich den von ihnen mangelhaft überdeckten Räumen wenig Schutz mehr gewährten gegen Wind und Wetter. Als Viehhürde diente jetzt das Heiligthum, in welchem vor Zeiten fromme Pilgrime den als Martyrer gestorbenen Bischof verehrt hatten. Ochsen und Rinder lagerten auf den Gräbern, und ein in Folge der kalten Nachtluft erstarrtes Lamm blöckte an der Stelle, wo ehemals der Altar stand. Tagtäglich bröckelte neues Gestein ab von dem einst so stolzen Bau.

Ein einziges niedriges und tristes Wirthshaus bot ein Unterkommen für die Nacht. Der alte Herr bezahlte das Abendbrod seines Kutschers und verabschiedete diesen hierauf. Nachdem er selbst ein wenig Brod gegessen und ein Glas Aepfelwein dazu getrunken hatte, zog er sich in seine Schlafstube zurück. Seine Nachtruhe war kurz; sobald die ersten Strahlen der Morgenröthe den Himmel erhellten, stand er auf, bezahlte seine Rechnung und ging zu Fuße weiter; die Wege in dieser Gegend schienen ihm wohlbekannt zu sein.

Um Mittag erreichte er ein großes Dorf, dessen unregelmäßig zerstreut liegende Häuser eine lange, von Zäunen und Gärten unterbrochene Straße bildeten. Der Wanderer folgte dieser Heerstraße nicht, sondern schlug einen Seitenweg ein, der sich zwischen Gärten und Wiesen hindurchschlängelte, und kam so endlich bei einem umfangreichen Gehege an, welches ehemals ohne Zweifel einen Park oder vielmehr eine aus dem anstoßenden Walde für Culturzwecke abgesonderte Fläche gebildet hatte. Zwei steinerne Thorpfeiler standen noch aufrecht; aber das Gitter, welches sie verbunden, sowie die Wappenschilder, die auf ihnen geprangt hatten, waren verschwunden. In dem feuchten Grase erblickte man ein Stück dieser granitnen Wappen, auf welchem ein umgekehrter Ziemer – in der Heraldik das Zeichen der Herrschaft – eingemeißelt war. Der Fremde stieß mit dem Fuße gegen diesen Ueberrest adeligen Scheins, wandte das Gesicht ab und schritt weiter. Von allen Seiten tönten aus dem Walde Axtschläge an sein Ohr; ringsumher war der Boden mit frisch gehauenen Baumstämmen und Aesten, welche noch ihr Laubwerk trugen, bedeckt. Da lagen sie, die Riesen des Waldes, die hundertjährigen Eichen, die im ganzen Lande ehedem geehrt wurden, da lagen sie mit ihrem mächtigen Geäst und ihren schattigen Laubkronen, – die schönen Ulmen, in denen die Sänger des Waldes nisteten, die schlank gewachsenen Ahorne, die herrlichen Pappeln, die man schon von ferne ihre Wipfel im Winde wiegen sah, die immer grünen Fichten und Tannen, deren Balsam die Luft durchduftete. Als Opfer derselben Zerstörung theilten die bescheidenen Stauden und Pflanzen, welche im Schatten der himmelanragenden Colosse ihr Dasein gefristet hatten, das gleiche Schicksal mit ihren Beschirmern. Die Stechpalme schmückte den Boden mit ihren glänzenden Blättern, zwischen denen die korallenrothen Trauben der von den Vögeln besonders geliebten Eberesche hell aufglühten; die Kinder des Dorfes kamen nicht mehr, wie vordem, im Frühjahr und Herbste hierher, um in den Hecken Hagedornblumen oder Heidelbeeren zu suchen. Auch den Singvögeln schien es hier nicht mehr zu gefallen; nur kreisten hüben und drüben durch den von düstern Wolken grauen Luftraum hungerige Raben, welche an den Stellen, die vormals dem Wildpret Lager und Asyl gewährt hatten, Atzung zu finden hofften.

Ohne sich aufzuhalten, ging der Wanderer, mehr als ein Mal seufzend, weiter; er suchte und bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth von Stämmen, Stauden, Aesten und Zweigen und befand sich nach Verlauf von gut zwanzig Minuten vor zwei andern steinernen Thorpfeilern, die den erstern sehr ähnlich sahen. Sie hielten noch einen Theil des Gitters, der aber arg verstümmelt war; rohe Hände hatten die künstlich geschmiedeten Blumengewinde und Embleme daran zerstört. Dieses Thor führte auf einen großen offenen Platz, wo man noch die Spuren von Blumenbeeten und Gartenstücken erblickte; aber die Blumen, welche sie schmückten, waren vernachlässigt. Hier und da standen blasse Scabiosen, nicht von Menschenhand sondern vom Winde gesäet, zwischen wucherndem Unkraut und üppigen Nesseln, ein Symbol der Trauer und Verlassenheit. Verfallenes Gemäuer umschloß den öden Raum; der hohe Thurm und die schlanken Schmuckthürmchen, welche in früherer Zeit an dieser Stelle sich erhoben hatten, lagen in Trümmern. Die ehedem mit einem leichten Geländer umfriedigte, mit Vasen, Orangen- und Granatbäumen geschmückte Terrasse diente jetzt als Hühnerhof; Tauben tranken das Regenwasser aus einer schartigen Urne; Gänse kreischten und hackten auf den Platten von italienischem Marmor. Aus dem Erdgeschoß der ehemaligen herrschaftlichen Wohnung war eine Meierei geworden. Ein geräumiger früherer Prachtsaal war, wie man durch die offen stehenden Fenster gewahrte, in eine Küche verwandelt; der Kesselhaken hing in dem Kamin von rothem Marmor, und das Mosaik des parkettirten Fußbodens war durch die Holzschuhe der Bauern schmählich entstellt und unkenntlich gemacht. Das angrenzende geräumige Gelaß, welches in dem altehrwürdigen romanischen Stile erbaut war und vordem als herrschaftlicher Speisesaal manchen vornehmen Gast gesehen hatte, war wegen seiner kühlen Gewölbe in eine Milchkammer umgeändert. Ein achteckiges Cabinet, dessen Wände mit Trophäen, Schleifen schlingenden Amoretten und anderm Frescobildwerk im Geschmack der Rococcozeit anmuthig geschmückt waren, diente jetzt als Samenspeicher: Möhrensamen und Zwiebelbündel hingen unter den Basreliefs der Decke; getrockneter Thymian, Malven und Cichorienwurzeln bildeten die Guirlanden der Wände. Vor dem Haupteingange befand sich ein großer Misthaufen, in welchem Huhn und Hahn nach Perlen suchten. Man hörte das Gebrüll der Kühe und das Grunzen der Schweine. Ein Bauernmädchen, welches mit Geßner's Schäferinnen – nebenbei bemerkt – nicht die geringste Aehnlichkeit hatte, holte Wasser aus dem Brunnen. Die helle Stimme der Haushälterin zankte die weinenden Kinder; eine nicht übermäßig harmonische Begleitung zu derselben bildete diejenige des Bauern, welche in sehr markirtem Tone hinten aus dem Stalle klang.

Mit einem Blick übersah der Wanderer das ganze Bild, und eine tiefe Bewegung schien plötzlich sein innerstes Wesen zu ergreifen; die Beine versagten ihren Dienst; um sich aufrecht zu erhalten, umklammerte er einen der Pfeiler. Ueber sein abgespanntes, bleiches Antlitz flossen Thränen. Noch ein Mal schaute er rings um sich, und neue Thränen umflorten sein Auge. Das Bauernmädchen, welches inzwischen die Eimer gefüllt hatte, kam nahe an ihm vorbei und sah ihn an. Dann setzte es die Eimer nieder und lief verdutzt zur Stallung. »Meister, Meister, kommt her,« sagte es zu dem Bauer; »da steht ein alter Mann, der weint wie ein kleines Kind. Kommt rasch!«


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