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XV.
Ein alter Freund.

Der Bauer eilte auf den Ruf des Mädchens in den Hof, ohne von dem Wanderer, welcher in seine schmerzlichen Gedanken vertieft war, bemerkt zu werden. Forschend betrachtete er dessen edele Gestalt und stolze Züge, deren Linien durch das Alter und trotz ihrer Abmagerung nicht verändert waren. Die weißen Haare konnten des Puders entrathen; wohl war der Anzug des Wanderers ärmlich, aber mit Würde trug ihn die hohe, militairische Statur. Alte Erinnerungen wurden in dem Bauern wach; seine Mütze abnehmend, sagte er in mitleidigem und zugleich ehrfurchtsvollem Tone: »Herr Marquis!«

Adrian von Neuville wandte sich seitwärts und betrachtete mit einem traurigen und irren Blicke den Bauern.

»Sie kennen mich nicht mehr, Herr Marquis?« begann dieser auf's neue. »Ich habe Sie auf der Stelle wieder erkannt. Sie haben mir früher mal den Preis beim Vogelschießen gereicht, Sie selbst, eigenhändig. Das war Anno …Anno 87 – schon lange her, aber ich habe Sie doch stracks wieder erkannt. Ich bin Amable Ferrez, der Sohn Ihres Pächters von Clos-aux-Boeufs. Erkennen Sie mich jetzt wieder, Herr Marquis?«

»Und du hast dich in den Besitz meines Eigenthums gesetzt, Ferrez?« frug der Marquis.

»Bitte um Entschuldigung, Herr Marquis: ich habe es nicht von der Nation erworben, ich nicht, sondern ich habe es nach dem Tode des großen Christoph angekauft. Der große Christoph hat sich eines Abends, nachdem er zu tief in's Glas geguckt hatte, im Mühlenteich ertränkt. Er hat nichts als Schulden hinterlassen, und doch hatte er die besten Ländereien für einen Apfel und ein Ei gekauft. Ich meinestheils habe eine kleine Erbschaft von meiner Muhme gemacht, welche in Frévent Wirthin war, und dafür habe ich diesen Schloßplatz erstanden, und ich muß sagen, daß ich alles bedeutend verbessert habe.«

Der Marquis warf einen mißbilligenden Blick auf das entstellte Schloß.

Der schlaue Bauer verstand ihn. »Das alles da,« sagte er entschuldigend, »habe ich nicht angerichtet; der große Christoph hat's gethan. Der hat die Thürme niedergebrochen, die Möbel, Spiegel, Tapeten verkauft; es ist alles zum Teufel, das eine ist hierhin, das andere dorthin gekommen. Aber der Christoph ist damit doch nicht auf den grünen Zweig gehüpft; denn der Hof war, als ich ihn übernahm, in einem elenden Zustande, während es jetzt, wie Sie sehen, an nichts fehlt. Wollen Sie nicht etwas näher treten, Herr Marquis, und einen kleinen Imbiß bei mir nehmen?«

Herr von Neuville lehnte dies Anerbieten kurz ab und erkundigte sich darauf nach seinen frühern Dienstleuten. »Mein Schloßverwalter Vincenz ist wohl längst schon todt?«

»Bitte um Entschuldigung, Herr Marquis; Vincenz lebt. Er ist freilich unterdessen grau geworden, aber leben thut er noch. Er bewohnt Ihr früheres Wärterhäuschen im Park+...«

»Park!«

»Ja, das heißt, es ist jetzt kein Park mehr; ein Holzlieferant hat ihn gekauft und cultivirt ihn nun. Schönes Holz, prächtiges Holz! wirft ein hübsches Sümmchen ab!«

»Sechshundert Jahre lang war der Forst im Besitz meiner Familie+...«

Der Bauer drehte seine Mütze zwischen den Fingern. »Das geht so,« meinte er; »das Glück ist rund: wem's will, dem läuft's in den Mund+...«

»Also Vincenz lebt noch?«

»Sie finden ihn in dem Wärterhäuschen. Soll Einer von meinen Jungen Sie hinführen?«

»Danke, Ferrez; ich weiß den Weg.«

Der Marquis nahm seinen Weg quer durch den Forst. Wie war er einst so schön, so schattig, dieser Forst! Und jetzt lagen die herrlichen Laubmaste, ihr Lebensmark ausblutend, am Boden, einer Heersäule vergleichbar, die, eine stolze Grenzwehr, am Morgen Mannestrotz drohte und am Abend niedergestreckt auf der blutgetränkten Wahlstatt, hinwest. Längst entschwundene Jugendbilder schienen dem Marquis zwischen den todten Bäumen und dem welken Geblätt sich zu erheben. Dort, in jenem Unterholz, studirte er als Knabe seine Lectionen, suchte seiner Mutter schöne wilde Blumen; sie liebte die wilden Blumen so sehr, die Mutter – wie lange war sie schon todt! Auf diesem Kreuzweg, wo die ältesten Eichen des Waldes wuchsen, an dem aufgerichteten Steine, der noch stand, hatte sein Vater ihm den ersten Jagdunterricht gegeben, – ja, der Vater war nun auch längst vermodert …An einem Wintertage hatte er just bei dieser Krümmung des Weges einen Wolf erlegt; er glaubte das Thier noch zu sehen, wie es, scheu umherspähend, über den Schnee trottete. Bei der Rückkehr von seiner ersten Meerreise hatte er mit vollen Zügen in diesen Wunderschatten den Reiz der Heimathwälder gekostet; wie kläglich fand er Aegyptens Palmen und Indiens Pisange im Vergleich zu dem Schutzdach dieser Eichen und Buchen! Später, als er schon älter war, hatte er sein junges Weib unter diese grünen Wölbungen geleitet und ihr, glückberauscht, alle die Träume geoffenbart, welche um sie seinen Geist beschäftigten. Sein Töchterchen, seine Charlotte, hatte in den langen Baumgängen gespielt; in dem weichen Grase sitzend, hatte sie Maßlieb entblättert und Ringelblumen; auf dem Moosteppich hatte sie das Gehen gelernt; die wortlosen Freudenlaute, welche sie hier ausgestoßen und die das Vaterohr so wohl versteht, der Marquis vermeinte sie noch zu vernehmen …

Der Forst war gerodet. Baar aller Güter, die ihm das Leben versüßt, kam sein Herr durch ihn zurück. Wie mochte Vincenz, der einzige übrig gebliebene Freund, aussehen? Welche Neuigkeiten mochte er ihm mitzutheilen haben? …Ob Jene noch lebten, für die er allein gelebt hatte? Den Bauer Ferrez nach diesen zu fragen, dünkte ihm Entweihung eines Heiligthums.

Langsam schritt der Marquis vorwärts; je näher er dem Wärterhäuschen kam, desto heftiger pochte sein Herz. Die Forstwartbehausung lag nahe bei einer alten Kapelle, welche der Jungfrau Maria geweiht war; in grauer Vorzeit hatte diese »Klause«, wie man sie noch nannte, einem Waldbruder aus dem Franciscaner-Orden als Siedelei gedient. Der Waldbruder besorgte den Gottesdienst in der Kapelle, wohin die Bauern am Feste Mariä Heimsuchung seit undenklichen Zeiten wallfahrteten, und eine Edeldame von Neuville hatte in derselben für ewige Zeiten eine jährliche h. Messe für die Seelenruhe ihrer Verwandten gestiftet. Dieses fromme Andenken hatte das kleine Heiligthum nicht vor Entweihung durch die Kirchenräuber mit der Freiheits-Mütze geschützt. Zwar standen noch die grausteinigen Mauern; aber durch das eingeschlagene Dach fielen Regen und Schnee auf den gepflasterten Boden. Die Fenster von gebranntem Glase waren in Stücke gehauen; verschwunden war die Heroldin des Gebets, die Glocke; welke Blätter bedeckten die verstümmelte Altarplatte; auf dem Boden lagen Trümmer von Bildern, Fetzen von priesterlichen Gewändern, Reste von Reliquien wild durch einander. Es war, als habe die Zerstörung erst gestern stattgehabt; nichts war wieder hergestellt.

»Auch diese arme Kapelle!« murmelte Adrian von Neuville kopfschüttelnd; »sie haben nichts verschont!«

Zur Seite der Kapelle und nur durch ein kleines Stück Gartenland von ihr getrennt, erhob sich das alte Wärterhäuschen. Von fern glich dasselb einem grünen Gebüsch, so dicht umschlang der Epheu es mit seinen geschmeidigen Armen und bedeckte es vom Fußboden bis zum First mit dunkelm Laube. Sogar die kleinen, in der dicken Mauer ausgebrochenen Fenster waren hinter dem Gezweig versteckt. Nur die Thüre der Behausung stand offen. Sie führte unmittelbar in den Hauptraum. In diesem erblickte der Marquis im Scheine eines Reiserfeuers, das auf dem Herde knisterte, einen Greis, welcher allein und unbeweglich da saß. Der Mann schien die höchste Stufe des Greisenalters erreicht zu haben. Der Marquis eilte auf ihn zu, umarmte ihn und rief mit zitternder Stimme: »Vincenz, Vincenz, erkennst du mich wieder?«

Die blasse Gestalt kehrte sich nach der mächtigen Stimme, die sie anrief. »Der Herr Marquis! Er ist zurückgekehrt! O, ich wußte, daß er heimkehren werde!« Er ließ sich in die Arme sinken, die ihn umschlangen; ein Thränenstrom rann aus den erloschenen Augen. Vincenz war blind; seine Vernunft und sein Gedächtniß schienen von jenem tiefen Schlummer befallen zu sein, der im Alter dem Todesschlafe vorausgeht. Jetzt aber weckte die einzige Neigung, welche sein ganzes Leben beherrscht hatte, alles wieder auf; Vincenz wurde wieder er selbst, er nahm wieder Besitz von seinem Freunde.

Der Marquis umarmte ihn mehrmals und brach in Thränen aus, heißer, als die Verwüstung seines Eigenthums sie ihm hatte auspressen können. Der Zustand, in dem er seinen treuen Diener wiederfand, bezeugte, daß eine Reihe von Jahren seit ihrer Trennung verflossen war; was war in diesen Jahren alles geschehen! Welche Abgründe, welche Geheimnisse!

Nach einer langen Pause nahm Vincenz zuerst wieder das Wort. »Ich erwartete Sie, Herr Marquis,« sagte er. »Ich wollte nicht eher sterben, als bis ich Sie wiedergesehen hätte. Ich sehe Sie nicht, aber ich höre Sie. Ich wußte wohl, daß Sie nicht todt waren.«

»Hat man mich denn für todt gehalten?« rief der Marquis ängstlich. »Mein Weib?«

Vincenz bedeckte mit den Händen sein Gesicht, und als er nicht antwortete auf die gestellte Frage, sprach der Marquis mit gebieterischer und vor Aufregung heftig zitternder Stimme: »Wo ist Delphine? ist sie todt? Rede, Vincenz!«

»Sie lebt,« antwortete der Alte tonlos.

»Wo ist sie? Und meine Tochter?«

»Lebt auch.«

»Gott sei Dank – und wo sind sie?«

Vincenz streckte die Hand aus, um diejenige seines Freundes zu suchen, und sagte: »Mein theuerer Herr, seien Sie Mann und – Christ!«

»Weiter, weiter!«

»Die Frau Marquise hat sich abermals vermählt und wohnt zu Paris. Sie ist die Gattin meines Neffen Marcel.«

Der Marquis blieb stumm und regte kein Glied. Mit Einem Schlage niedergedonnert waren in ihm Liebe, Stolz, die letzten Hoffnungen, die er auf Erden noch hegen konnte, – alles hin!

Nachdem Vincenz seine erschöpften Kräfte wieder gesammelt hatte, sprach er: »Herr Marquis, Sie denken vielleicht, daß ich nicht gut über sie gewacht habe; aber glauben Sie Ihrem alten Diener, der am Rande des Grabes steht: ich habe gethan, was ich konnte, und gethan, was meine Pflicht war. Ich habe Sie, den Abwesenden, in Schutz genommen mit allen meinen Kräften; aber ich wurde überstimmt. Da sie Ihren Tod nicht erweisen konnte, hat sie um Scheidung nachgesucht und hat ihn geheirathet. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen …Ich wollte Charlotte mit mir nehmen, aber sie wollten es nicht gestatten; das Mädchen ist bei ihnen in Paris. Ich bin hierher zurückgegangen; denn ich wußte, daß auch Sie in die Heimath zurückkehren würden, und ich wartete auf Sie. Ach, Sie sind zu lange ausgeblieben! …Herr Marquis, sagen Sie, daß Sie mir verzeihen; mein theuerer Herr: ich habe so viel gelitten!«

Der Marquis reichte dem Alten die Hand und sagte bewegt: »Was habe ich dir zu verzeihen, Vincenz, der du so vieles für mich gethan hast! Aber sie, sie, die ich so sehr liebte!+...«

Wieder trat eine Pause ein. Vincenz zog unter seinen Kleidern ein Portefeuille hervor, welches Marcel's Adresse und des Alten Testament enthielt. Die Worte, unter denen er dasselbe dem Marquis übergab, erstarben ihm auf den Lippen, und sein Gesicht wurde aschfarben: dieser erschütternde Auftritt war für ihn zu stark gewesen, er hatte die letzten Fasern, mit denen der Greis noch am Leben hing, zerrissen. Zwar gelang es dem bestürzten Marquis, auf einen Augenblick das hinschwindende Bewußtsein wieder zu erwecken; aber es war wie das letzte matte Aufflackern der erlöschenden Lampe. Vincenz suchte die Hand seines Freundes und drückte sie mit den Worten an sein Herz: »Wie freut es mich, daß Sie zurück sind! …Nun lasse Deinen Diener hinscheiden …Herr! …Herr Jesu, sei mir gnädig und segne ihn!+...«

Der Marquis reichte ihm das Crucifix, welches er auf der Brust trug; der Sterbende küßte es heiß mit den verblassenden Lippen. Dann ließ er kraftlos den Kopf sinken, und die kalte Hand entsank der Hand seines Freundes.

Nachdem der Marquis sich von dem Tode seines treuen Dieners überzeugt hatte, legte er dessen Leiche auf das ärmliche Lager des Wärterhäuschens, verschloß dieses und begab sich zum Dorfe, um die Anstalten zur Beerdigung zu treffen und zugleich nach seinem andern Freunde, dem Abbé Lecomtois, Umfrage zu halten.


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