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X.
Zur Leichen-Insel.

Schöne Meerfahrt – in leichengefüllter Schaluppe! Schönes Wetter zur Meerfahrt! Wüthender Sturmwind, strömender Regenguß, brandende Wogen. Es wird immer toller; die Schaluppe, schon so nahe der Küste, hinausgeschleudert in den weiten, offenen Ocean. Zwei mächtige Wolkenballen am Himmel, auf der Wasserwüste tiefe Finsterniß. Berghoch schwellen die Wogen, werfen sich mit brausendem Ungestüm den schauerigen Spielball zu, die Schaluppe mit zwölf lebenden Menschen und zwölf Männerleichen. Boreas und seine Gesellen pfeifen und heulen dazu in stets wachsendem Crescendo. Schöne Meerfahrt!

»Soll die Welt untergehen? Wir sind verloren!« Die drei Matrosen und die vier Füsiliere der Republik rufen es.

Die vier Priester sagen nichts; sie beten – man wehrt es ihnen jetzt nicht.

»Das ist noch nichts!« lacht der Steuermann, aber mit klappernden Zähnen. »Ich hab's schon ganz anders erlebt+...«

Die Schiffs- und Schwertleute glauben ihm nicht. »Du irrst dich oder willst uns irre machen,« entgegnen sie dem Piloten.

Dem bleiben die Zähne am Klappern – brrr! 's ist auch so kalt! »Ich sage euch nochmals, daß keine Gefahr da ist. Attention! Es kommt nur darauf an, daß ihr meine Ordre pünktlich befolgt+... Wir müssen erst noch etwas weiter sein.« Als sie etwas weiter waren, rief der Steuermann: »Soldaten und Deportirte, legt euch flach auf den Bauch, damit ihr uns nicht hinderlich seid!«

Sie thaten es, legten sich auf den Boden der Schaluppe, in welcher das Wasser drei bis vier Zoll hoch stand, zu den in Verwesung übergehenden Leichen.

Es mußte lavirt werden, um die Richtung einzuhalten; dies Manöver konnte aber nur mit der größten Mühe ausgeführt werden. Die äußerste Vorsicht des Steuermanns, die Aufregung, mit welcher er den Matrosen Anweisung gab, die Segel einzuziehen oder umzustellen, deuteten genugsam an, daß die Gefahr groß war. Die vier deportirten Priester richteten laut Sanct Bernhard's » Memorare« an den »Meeresstern«.

Die Schaluppe mußte jetzt im rechten Winkel gewendet werden, um den Wind von neuem zu fassen. Sei es Unkenntniß, Furcht oder die unwiderstehliche Kraft des Windes – der Versuch scheiterte vollständig; die Segel sanken schlaff herab.

Todesschweigen lagerte sich über der Mannschaft. Statt der gewohnten Flüche, Schwüre und Blasphemieen traten jetzt Gebete zu Dem, der den Winden und Wogen gebeut, auf ihre Lippen.

Als der erste Schreck vorüber war, suchte der Steuermann auf's neue zu beruhigen. »Ich stehe für alles,« sagte er, »vorausgesetzt, daß ihr genau thut, was ich commandire.« Die Matrosen gewannen allmälig den Muth wieder, und es gelang ihnen, den Wind zu fassen. Die Schaluppe war in wenig Augenblicken weit von ihrer Fährte abgekommen und mußte diese jetzt wiedersuchen. Die Matrosen riefen dem Abbé Lecomtois und seinen drei Gefährten zu: »Pfaffen, helft uns! Faßt das Tauwerk!« Die Priester erhoben sich bei diesem Rufe aus ihrer unbehaglichen Lage am Fußboden und suchten, obwohl von Hunger erschöpft, die flatternden Taue zu fassen. Sie wurden von denselben hoch in die Höhe gerissen, denn die Wogen gingen noch immer mehr als zwanzig Fuß hoch; aber es gelang doch, die Segel zu stellen, und der Steuermann gewann den Weg zur Insel Aix wieder. Auf dieser Insel wurden die Leichen der gestorbenen Deportirten bestattet, weil der »Washington« und die »Zwei Kameraden« noch immer so nahe an der Küste lagen, daß es unmöglich war, die massenhaft von der Seuche Hingerafften in das Meer zu versenken, – die Fluth hätte sie auf's Land geworfen. Man mußte sie deshalb beerdigen und wählte als Grabstätte die genannte Insel, die nur ein Dorf von drei- bis vierhundert Einwohnern enthielt. Die traurige Pflicht der Bestattung lag den Priestern ob. Dies Mal traf den Abbé Lecomtois die Reihe. Es hatte den ganzen Tag über geregnet und gestürmt; aber die Leichen mußten fortgeschafft werden, und man konnte nicht ahnen, daß das Unwetter so gewaltig wachsen würde.

Als die Schaluppe den Küstenpunkt der Leichen-Insel erreicht hatte, wo man zu landen pflegte, erklärte der Steuermann, daß die Stelle in diesem Augenblicke zu gefährlich sei, und fuhr längs dem Ufer hin, um einen andern Landungsplatz zu suchen. Der Wind begann günstiger zu gehen, und so war bald ein passender Landungsplatz gefunden. Auf Befehl des Capitains wurden die Leichen immer ganz nackt ausgekleidet, nicht einmal ein Hemd wurde ihnen gelassen. Um sie von der Schaluppe auf die Insel zu schaffen, mußten die Priester bis an die Brust durch das Wasser waten. Es wurde jedes Mal eine Leiche hinausgetragen, die ihnen mehrfach in die Wogen entglitt, aus denen sie mit unsäglicher Mühe wieder aufgefischt werden mußte. Wenn endlich die Küste erreicht war, wuschen sie zuerst die über und über beschmutzten Leichname ihrer Leidensgefährten und bedeckten sie darauf mit Gras und Laubwerk. Sie hatten dieselben dann noch eine Viertelstunde landeinwärts bis zur Grabstätte zu tragen. Sie warfen die Erde zwei Fuß tief aus, legten den Todten hinein und bedeckten ihn mit Erde. Dabei sprachen sie leise, daß die Soldaten es nicht hörten, die kirchlichen Gebete.

Todmüde und von Wasser triefend, bestiegen sie, nach Beendigung ihres traurigen Amtes, die Schaluppe wieder. Erst spät in der Nacht erreichte diese den »Washington«.

Die andern Priester hatten nicht nur ihren Mitbrüdern deren Brod- und Suppe-Portion aufbewahrt, sondern auch alle etwas Wein weniger getrunken. Mit trockenen Kleidern wurden sie ebenfalls von ihren Amts- und Leidensgefährten versorgt; der Eine gab seinen Rock, ein Zweiter seine Hose, der Dritte sein Hemd, der Andere seine Strümpfe, Schuhe oder Mütze her.

Von den jüngsten Vorgängen in Paris wußten die Gefangenen noch nichts bis jetzt. Einige Tage später führte ein Sergent, der die Priester niemals an Bord beleidigt hatte, den Schaluppenzug nach der Leichen-Insel. Er setzte sich in dem Schiffe mitten zwischen die Proscribirten und flüsterte ihnen unbemerkt zu: »Fasset Muth, Bürger, und gebt euch nicht der Verzweiflung hin!« Solcher Sprache nicht gewohnt, blickten die Priester verwundert auf. »Es steht besser um euch, als ihr glaubt,« fuhr der Sergent leise fort. »Robespierre,« flüsterte er ganz leise, »Robespierre ist guillotinirt mitsammt dem ganzen Stadtrath von Paris. Die Bergpartei ist gestürzt; ein milderes Regiment beginnt.«

Welch' frohe Kunde für die Priester! Robespierre galt, mit Recht oder Unrecht, in den Augen der Nation als die Personification des Schreckensregimentes; ihn machte man allgemein verantwortlich für alle Greuel, für alle Thränen, für alles vergossene Blut. Welchen Antheil seine Genossen immer an diesen Ausschreitungen haben mochten, sie traten alle, in der Vorstellung des Volkes, zurück vor der Hyänengestalt des Deputirten für Arras. Wer diesen ein Mal gesehen hatte, der vergaß sein Leben lang nicht jenes kalte Justizmördergesicht, in welchem gewissermaßen jeder Zug nach Blut lechzte, namentlich die im Verhältniß zur Oberlippe kleine umgekrümmte rothe Unterlippe, die immer den Blutbecher eben abgesetzt zu haben und dessen genossenen Inhalt wollüstig hinunter zu schlürfen schien, um ihn sogleich auf's neue zu leeren.

Der brave Sergent fügte seiner obigen Mittheilung die Mahnung an die Priester bei, der Schiffsmannschaft gegenüber durch nichts zu verrathen, daß sie um die Wendung der Dinge in Paris wüßten. Nach Beendigung des Begräbnisses sagte er dann, in scheinbar streng befehlendem Tone, zu den Priestern: »Brennt's euch nicht auf der Plätte? Mir will es bedünken. Ihr habt euere Sache gut gemacht, drum verfügt euch auf einen Augenblick in die Cabine dort; da ist es kühler.« Die Deportirten gehorchten; der Sergent aber bewirthete sie in der Cabine mit gutem Wein, nachdem er den Soldaten bis auf zwei befohlen hatte, Platz zu machen, d. h. die Cabine zu verlassen. Die zwei Zurückgebliebenen, welche der Sergent für Freunde von ihm erklärte, stürzten mit einem Schrei der Ueberraschung auf einen der Priester zu, drückten ihm die Hand und bezeugten ihm ihren Schmerz, ihn in dieser Lage wieder zu sehen. Der Proscribirte war ihr früherer Professor und der Vorsteher des Gymnasiums, an dem sie studirt hatten. Die jungen Leute schwärmten für die Revolution, aber nicht für Robespierre und dessen Gesellen, deren Sturz und Tod sie bestätigten.

Bei ihrer Rückkehr auf den »Washington« erzählten die Deportirten ihren Gefährten, was sie erfahren hatten. Die freudige Ueberraschung Aller war um so größer, als sie seit zwei Monaten nichts mehr über den Gang der Revolution vernommen hatten; aufgefallen war ihnen jedoch während dieser Zeit, daß die Schiffsmannschaft bei ihren täglichen Orgien stets nur die Republik hatte hochleben lassen; das frühere » Vive Robespierre!« wurde seit längerer Zeit nicht mehr gehört. Jetzt war ihnen dies erklärlich.

Die Gewißheit des Sturzes der Bergpartei verbesserte zwar zunächst nichts an der Lage der Gefangenen, aber sie gab ihnen doch Hoffnung. Das schon seit mehrern Wochen verbreitete Gerücht, daß man von ihrer Deportation nach Madagascar Abstand genommen habe, gewann bei jeder Fahrt nach der Leichen-Insel an Festigkeit. Auch das war ein glückverheißendes Zeichen, daß die an Bord der »Hospital«-Schiffe beförderten Kranken nicht durch neue Sträflinge ersetzt wurden, wie früher; man bekam mehr Raum auf dem »Washington«. Dagegen ließen der Capitain und Marius Corcoret mit ihrem Troß nicht ab, sie auf jede Weise zu chicaniren und zu quälen. Für die Priester, welche vormals keineswegs Alle Musterbilder ihres Standes gewesen, war der Aufenthalt auf den Sklavenschiffen ein heilsamer Läuterungsproceß. Selbst die verkommenen Matrosen mußten das erbauliche, wahrhaft christliche Dulderleben der Deportirten bewundern. »Da seht euch doch diese Briganten an,« sagte eines Tages Einer aus ihnen; »je mehr man sie schindet, desto zufriedener werden sie!«

Da die Zahl der Sterbenden andauernd wuchs, so schlossen die Bewohner der Leichen-Insel Aix, daß eine verheerende Seuche auf den Gefangenenschiffen wüthe. Sie wendeten sich daher mit einer Petition an die Behörden von Rochefort, um von der Verpflichtung, den Leichen eine Grabstätte auf ihrer Insel zu geben, entbunden zu werden. Der Rocheforter Magistrat gab dieser Beschwerdeschrift Statt und ordnete an, daß auf der Insel »Dame«, welche von der Revolution in »Bürgerin« um getauft worden war, Zelte für die Kranken errichtet und Grabstätten für die Verstorbenen ausgeworfen werden sollten. Anfangs September wurden die Kranken nach dieser Insel gebracht. Schon am 8. forderte der Arzt neue Wärter, weil die erst geschickten selbst erkrankt seien. Der Abbé Lecomtois meldete sich freiwillig für dieses Amt; mehrere andere Proscribirte wurden ihm mitgegeben. Die Kranken wurden auf Matratzen gelegt, die mit Hanfabfällen gefüllt waren. Jeder erhielt ein Bettlaken, eine Decke und ein Kopfkissen. Um Ordnung in die Bedienung zu bringen, theilten die Wärter sich in ihre Arbeit. Einige holten Wasser und mußten zu diesem Zwecke täglich wenigstens acht Mal, ein Tönnchen auf der Schulter, den Weg zu dem Fort der Insel machen. Andere wuschen die Hemden und Laken im Meer. Diese warfen die Gräber aus und bestatteten die Todten – es starben täglich drei bis sechs; – Jene saßen in den Zelten am Lager der Kranken. Zwei besorgten die Küche, zwei Andere halfen die Medicin präpariren. Ueber das Essen war nicht zu klagen. In jedem Zelte lagen zwanzig bis dreißig Patienten. Die neu ankommenden Kranken mußten ihr Gepäck am Eingang der Zelte abgeben. Ueber Nacht wurde es dort von den Soldaten und Matrosen, welche die Ueberfahrt besorgt hatten, geplündert. Die Aerzte machten zwar täglich zur bestimmten Zeit ihre Runde bei den Kranken, aber sie behandelten die Priester hart und als Uebelthäter. Wagte einer von den Kranken zu klagen, so drohte man, ihn auf den »Washington« zurückzuspediren. Sobald der Zustand eines Patienten sich verschlechterte, sagten die Aerzte zu ihm: »Mit dir ist es aus, mache dir keine Hoffnung!«

Von einem Rocheforter Bürger, der einen Besuch auf der Insel machte, erfuhr der Abbé Lecomtois, daß die gesetzgebende Versammlung die Freilassung der Priester beschlossen habe; jedoch sollten sie oder ihre Anverwandten eine Petition um Freilassung an das Comité von Rochefort richten, und die Verwandten müßten für das gut republikanische Verhalten der Priester die Bürgschaft übernehmen. Die Bittschrift wurde sogleich von den Gefangenen redigirt und einem der Aerzte übergeben, der sie für zweihundert Francs Bestellgeld dem Rocheforter Comité einzuhändigen versprach. Als die Deportirten einen Monat später noch keine weitere Auskunft erhalten hatten, setzten sie eine zweite Bittschrift auf und baten um deren Besorgung einen Offizier, welcher aufrichtig Antheil an ihnen zu nehmen schien. Der Mann übernahm den Auftrag ohne Widerrede und empfing die gleiche oben genannte Summe. Als er am Abende wieder bei den Zelten erschien, hielt der Abbé Lecomtois ihn an und erkundigte sich, wie es ihm ergangen sei.

»Ich war in Rochefort,« erwiderte der Offizier, »und habe den Behörden das Schriftstück überreicht. Sie haben mir versprochen, daß sie sich mit euch beschäftigen werden.«

Eine Woche nachher waren der Arzt, der die erste Petition empfangen, und der Offizier, welcher die zweite übernommen hatte, zusammen in dem Zelte, in welchem der Abbé Lecomtois den Wärterdienst versah. Der Arzt hatte einem Kranken einen werthlosen Gegenstand für vier Francs verkauft. Sei es, daß der Offizier dem Arzte seinen Gewinn nicht gönnte, sei es aus welchem Grunde sonst, genug, er frug ihn höhnisch, ob er jetzt Trödler geworden sei.

»Widerrufe auf der Stelle diese Worte!« versetzte der Arzt mit zornglühenden Blicken.

»Nie!« entgegnete der Offizier.

»Wessen du mich bezüchtigst, das bist du selber!« rief der Arzt. »Hast du nicht neulich von den Deportirten eine Petition zur Besorgung an die Behörden von Rochefort erhalten?«

»Und was weiter?«

»Du schiltst mich einen Trödler, weil ich den Leuten Waare für ihr Geld liefere. Du aber läßt dich für Dienste bezahlen, die du nicht leistest. Die Deportirten haben dir zweihundert Francs gegeben+...«

»Und dir haben sie ebenfalls zweihundert gegeben. Und du hast ihre Bittschrift verbrannt, wie du mir selbst gesagt hast.«

In dieser Weise dauerte der Hader noch einige Minuten, bis Beide, sich gegenseitige ihre Schurkerei vorwerfend, aus dem Zelte sich entfernten.

 

Von Gesetzes wegen waren sie nun frei, die Priester; aber die Capitaine des »Washington« und der »Zwei Kameraden« waren auf Anstacheln Marius Corcoret's entschlossen, das Gesetz nicht eher in Kraft treten zu lassen, als bis die »Pfaffen« alle »crepirt« seien.

Ein Gut erworben zu haben und keine Möglichkeit vor sich zu sehen, es in seinen Besitz zu bringen, – welche verzehrende Tantalusqual! Gleichwohl hoffte der Abbé Lecomtois.

Aber er hoffte auf einer Leichen-Insel …Auch ihn ergriff die Ruhr, und schon am zweiten Tage erklärte ihm der Arzt: »Mit dir ist's aus, Adressenfabricant!«


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