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Weihnachten im Dschungel

Um die Stellung der Meau und Phi Tong Luang eindeutig festzustellen, schien es uns notwendig, auch die anderen Bergvölker der nordsiamesischen Gebirge und südlichen Schanstaaten, und zwar die Akha, Lisu, Lahu, Katchin und Wa, aufzusuchen. Sie alle sind heute noch in einer Abwanderung nach Süden begriffen, als deren Ursache die Unterdrückung durch die Chinesen, Mangel an Siedlungsraum, Mißernten und Epidemien und schließlich auch der alte Drang der asiatischen Völker, sich nach Süden auszubreiten, zu betrachten sind. Diese Völker unterscheiden sich in Rasse, Kultur und Sprache oft wesentlich voneinander.

Dort, wo in Nordsiam das Urgebirgsmassiv des Doi Tung in die Flußtäler des Me Kok und Me Fang hineinragt, westlich von der alten Thaistadt Tshieng Sen, suchten wir die Akha auf.

Dieses Volk, das in mehrere Unterstämme zerfällt, spricht eine tibetobirmanische Sprache und gehört dem Kulturgut wie der Rasse nach zu tibetanischen Bergstämmen. Auch die Akha sind viehzüchtende Ackerbauer, betreiben Hackbau und bewohnen ausschließlich die bewaldeten Höhen, wenn auch ihre Siedlungsgrenze bei weitem nicht so hoch hinaufreicht wie die der Meau. Sie sind ein kräftiges, sich stark vermehrendes Volk. Ihre Dörfer, die nur wenige Stunden voneinander entfernt liegen, bestehen oft aus etwa 150 auf Pfählen errichteten großen Häusern.

Die Gebirgswälder, die wir durchquerten, waren vielfach durch neuangelegte Rodungen gelichtet, aber noch mehr alte, verlassene Felder breiteten sich, von Unkraut und sekundärem Buschwald überwuchert, an den Berghängen aus, die nicht nur von Akha, sondern auch von Lahustämmen und einigen wenigen Lisu besiedelt sind.

Wieder waren wir tagelang mit 14 Trägern, Bun Ma und einem Akhaführer unterwegs, bis endlich das große Dorf vor uns lag. Schon hörten wir das Lachen der Kinder, das regelmäßige Stampfen der Reismörser und das hungrige Quieken von Schweinen, da stießen wir auf eigenartige Gebilde. Es waren hölzerne Pfeile, nach allen Richtungen in die Erde gesteckt, die den bösen Geistern den Eintritt in das Dorf verwehren sollten. Kaum hundert Meter weiter stießen wir auf eine Gruppe Holzschwerter, die demselben Zwecke dienten. Unser Führer eilte ins Dorf, um unseren Besuch anzukündigen.

Vor den sechs großen, mit Schnitzereien versehenen Torbogen, die kein Fremder ohne ausdrückliche Genehmigung des Häuptlings durchschreiten darf, machten wir halt. Daß es sechs Bogen waren, bedeutete, daß das Dorf bereits sechs Jahre an dieser Stelle stand. Neben dem Eingang ins Dorf standen große, primitiv geschnitzte menschliche Figuren in Koitusstellung. Diese Fruchtbarkeitssymbole sollten die Geister anregen, für den Reichtum der Felder und die Zeugungskraft der Menschen zu sorgen.

Drei alte Männer, darunter der Häuptling des Dorfes, kamen uns feierlich zur Begrüßung entgegen, hockten sich auf den Boden nieder und überreichten uns auf blütengeschmückter Schüssel Reis, Salz und Wasser. In kleinen Schälchen boten sie uns Reisschnaps zum Willkommentrunk an. Ernst und zeremoniell erklangen ihre Fragen nach Woher und Wohin, nach unserem Begehren. In unnahbarer Würde geleiteten sie uns ins Dorf.

So stand unser Zeltlager wieder auf einem Bergrücken. Die Bäume waren hier nur spärlich, und der Wind, der von der heißen Ebene aufstieg, wehte über uns hinweg, schüttelte die Zeltbahnen und trug alles Leichtbewegliche mit sich fort. Es war ein herrlich luftiges Lager nach den vielen Monaten, die wir im dichtesten Dschungel verbracht hatten, aus dem es kein Entrinnen und keinen Ausblick gab. Hier aber wölbte sich endlich wieder der blaue Himmel über unser Lager, und reihten sich Berge an Berge, soweit das Auge reichte. Wenn wir morgens die Stirnseite unseres Zeltes lüfteten, sahen wir ein weißes Nebelmeer über den Tälern liegen. Sieghaft stieg die Sonne darüber empor. Wenn wir mittags ins Lager heimkehrten, hatte sie ihr Werk vollbracht, und klar und rein lagen die bewaldeten Hügel und in weiter Ferne graublau die Ebene da. Nach Westen aber war der Blick von hohen Gipfeln begrenzt.

Am Westhang unseres Berges lag Kayäka, das Akhadorf. Ein Tag verging wie der andere, wir saßen in den Häusern der Akha. zeichneten deren Grundrisse und sämtliche Geräte, gingen mit den Dorfbewohnern auf die Felder, sahen ihnen bei ihren Hausarbeiten zu und hatten tagelang eine Gruppe im Lager, um Sprachaufnahmen zu machen.

Die kleinen Frauen mit ihren breiten Gesichtern unter dem schweren Kopfputz aus Hunderten von Perlenketten, Muscheln, Früchten und gefärbten Affenhaaren (Abb. 71) haben eine merkwürdige Tracht; ein perlenbesticktes blaues Jäckchen, das vorne offen ist, um die Brust ein schmales Tuch, und von den Hüften bis oberhalb der Knie ein kurzes Röckchen, dazu noch Stoffgamaschen. Ihr Körper ist also überall bekleidet, nur der Bauch ist unbedeckt, die Schönheit des Nabels gilt als besonderer Vorzug. Mit Schulterbrett und Stirngurt trugen Frauen und Kinder die Feldfrüchte heim und rasteten gerne bei uns im Lager. Die Fruchtbarkeitssymbole scheinen im übrigen ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn nirgends gab es soviele Kinder wie bei den Akha. Sie waren schmutzig, aber gut genährt und munter, und spielten, zu Gruppen zusammengeschlossen, den ganzen Tag auf den Plätzen des weitläufigen Dorfes. (Abb. 74.)

Es war nicht leicht, mit den Akha zu arbeiten. Immer wieder stießen wir auf Schwierigkeiten, die in ihrem strengen Sittenkodex und Zeremoniell begründet waren. Außerdem war ein Geist, der im Traume zu den Menschen sprach, für alle ihre Handlungen richtunggebend, für sie also ein Mittel, um sich jeder Verantwortung zu entziehen, für uns aber ein Moment der Unsicherheit, dem man in keiner Weise Rechnung tragen konnte. Irgend etwas stand zwischen uns und ihnen. Immer noch waren wir die »Weißen«, andere Menschen also, aus einer fremden Welt, denen man mit größtem Mißtrauen begegnen mußte. Vorsichtig tasteten wir uns weiter in die Seele dieser Menschen hinein, die voller Merkwürdigkeiten und Widersprüche zu sein schienen.

Festtage, Totentrauer und Arbeitstage wechseln miteinander ab. Die Nächte waren kühl, die Tage heiß und voller Licht. In duftender Blüte lag das Unkraut wie ein weißer Schleier auf den alten Feldern. So kam Weihnachten heran, und meine Frau schrieb in ihr Tagebuch:

»Wie groß war meine Überraschung, als ich feststellte, daß heute der 23. Dezember ist. Ich sehe die gelbbraunen Gesichter der Akha nicht mehr, die in Haufen um mich herumhocken, sehe die fremde Welt nicht mehr, die mich umgibt. Ich fühle einen Schmerz im Herzen, etwas würgt in der Kehle. Es hilft kein Vergessenwollen, kein Zurückdrängen, mit unbeirrbarer Macht steigen Bilder vor mir auf von versperrten Türen, unruhigen Kindergesichtern, geheimnisvoll hastenden Menschen, von Paketen, die versteckt sind und die man sucht, von dem ersten beglückenden Duft des Tannenbaumes, den liebevolle Hände in ein Zimmer stellen. Mich erfaßt jene weihnachtliche Erregung, die wir nüchternen Menschen des 20. Jahrhunderts lächelnd überwinden wollen, in die wir aber doch gerne flüchten wie in ein weltfernes Reich voll Ruhe und Frieden. Nein, auch die Urwälder Hinterindiens sollen mir mein Weihnachtsfest nicht nehmen!

Es ist die Zeit der zweiten Hälfte des zunehmenden Mondes, und allabendlich versammelt sich die Jugend des Dorfes an einem bestimmten Platz im Walde (Abb. 72), nicht weit von den letzten Häusern. Es ist die Zeit der Liebe, Mädchen und Burschen haben nichts anderes im Sinn als Lachen und Kichern, Tanz und Flirt. (Abb. 73.) Oft tauchen wir in später Nachtstunde dort auf, um uns das Getriebe anzusehen. Heute bleibe ich zu Hause, und mein Mann geht mit Bun Ma allein hinüber, sobald es dunkel wird. Auch unsere beiden Burschen, junge Kerle, die in allen Dörfern den Mädchen den Kopf verdrehen, hält es nicht zu Hause, und bald bin ich allein im Lager und verschwinde mit einer kleinen Sturmlampe unter das Vordach unseres Zeltes. Hier kann mich niemand stören. Andachtsvoll packe ich meine Schätze aus, die ich aus Bangkok für Weihnachten mitgenommen habe. Einiges Naschwerk, buntes Seidenpapier, Silberflitter und eine elfenbeingeschnitzte Überraschung für meinen Mann, das ist alles, denn viel Platz ist nicht in meinem kleinen Blechkoffer. Aus dem Deckel einer Zigarettenschachtel schneide ich einen Stern, beklebe ihn mit dem Silberpapier einer Schokoladentafel, wickle die Bonbons ein, wie ich es zu Hause immer tat, zerschneide einige Kerzen und verstecke alles wieder in meinem Koffer. Als mein Mann kommt, liege ich schon im Zelt.

Am nächsten Morgen, am 24. Dezember, gehe ich in den Wald und suche ein Bäumchen. Frisch ist die Morgenluft, Tauperlen glänzen silbern auf allen Blättern, im Dorfe stampfen die Frauen Reis und krähen die Hähne. Blau liegt der Himmel über mir, dichter Nebel zu meinen Füßen. Von einem Nadelbaum ist keine Spur zu sehen. In zartem Lila blüht das nach Pfefferminz duftende Unkraut, mächtige Baumriesen ragen empor, Palmen, wilde Bananenstauden, dorniges Buschwerk – doch kein brauchbares Bäumchen kann ich finden. Da endlich steht ein schlanker Jungbaum vor mir mit zartgefiederten Blättern, wie die der Akazien. Er soll es sein!

Der Tag vergeht wie jeder andere in ununterbrochener Arbeit. Als aber die Sonne schon hinter den Bergen versinkt, habe ich genug und jage alle davon, packe meinen Mann unter dem Arm, und wir gehen unseren Weihnachtsbaum holen. Er ist voller Dornen: mit blutenden Händen bringen wir ihn ins Lager und stecken ihn vor unserem Zelt in die Erde. Gemeinsam schmücken wir ihn mit meinen verborgen gehaltenen Schätzen und stecken den Stern an die Spitze. Zufrieden betrachten wir unser Werk. Festessen gibt es keines, unser alltäglicher Reis wird mit Früchten verzehrt. Doch nein, da findet sich noch eine Dose mit Hummer und gutes krachendes Knäckebrot in der schon längst leergegessenen Proviantkiste! Ein köstliches Mahl! Die Petroleumlampe wird heute verschmäht, und sechs Kerzen stehen auf dem weiß gedeckten Klapptisch. Erst als unsere Tafel geräumt ist und unsere Leute das Lager verlassen haben, zünden wir unseren Christbaum an. Das kleine Blätterbäumchen leuchtet im Glanze seiner vielen Kerzen, die zwar recht schief auf den schwachen Zweiglein stehen, aber die Blätter überstrahlen, so daß man gar nicht merkt, daß es keine Tanne ist. Schwarz erscheint die Nacht um uns, nur der Himmel breitet sich wie ein von Milliarden Sternen bestickter dunkelblauer Teppich über uns aus. Friedvoll leuchtet der Mond. Ganz still ist es um uns, nur hier und da ertönt der Ruf eines Nachtvogels.

Langsam brennen die Kerzen nieder. Es riecht nach verbranntem Papier und den nahen Fährten der Zibetkatzen, aus dem Busch bringt ein schwacher Wind den Duft der Jasminblüten zu uns herüber. Die stille Nacht um uns erscheint uns leer und traurig, ist keine Christnacht. Wenn wir doch Briefe hätten von daheim! Die liegen wohl voller Weihnachtszauber auf irgendeinem kleinen Postamt, das wir wer weiß wann erreichen werden. So fern sind wir der Heimat. Während wir uns sonst so verbunden fühlten mit diesen einfachen Naturmenschen und ihren Bergen, kommen wir uns jetzt so fremd und einsam vor – wie zwei einsame Menschen im Weltall.

Da führt uns die göttliche Phantasie auf ihren Flügeln hinweg – hinweg aus Hinterindiens Bergen, über Meere und Kontinente in ein Land, das schimmert in nächtlichem Schnee, in dem der Frost die Luft erstarren läßt, führt uns in einen tannenduftenden warmen Raum. Kindergesichter strahlen im Schein der Kerzen auf, bejubeln den Weihnachtsbaum und Menschen singen ›Stille Nacht, heilige Nacht …‹ und denken dabei auch an uns. Mit einem Male sind wir mitten unter ihnen, unter Kindern, Eltern, Geschwistern und Freunden und teilen mit ihnen die Freude und den Zauber dieser Nacht. Wir sind gar nicht mehr einsam und traurig, denn in unsere Herzen ist Weihnacht eingezogen, die frohe Botschaft der Liebe.

Und während des Nachts die Tiere der Wildnis flatternd und raschelnd ums Zelt streichen, kläglich heulen und aufschreien – höre ich die Glocken, wie sie über meiner Heimatstadt läuten. Ich bin wieder zum Kinde geworden, zum seligen Kind, das staunend vor den Wundern der Christnacht steht und zum Himmel emporblickt, um vielleicht zwischen den Wolken das Christkind zu erspähen.

Ein Gemurmel in rauher unverständlicher Sprache weckt mich aus meinen Träumen. Das Zeltdach über mir bringt mich in die Gegenwart zurück. Draußen stehen Frauen mit breiten mongoliden Gesichtern, Männer mit mächtigen schwarzen Turbanen und viele nackte Kindlein, und betrachten den Wunderbaum. Wir schlüpfen in unser Khaki und treten zu ihnen hinaus in den goldenen Morgen. Ja, die Weißen haben ein Fest, sie haben den Geisterbaum mit Opfergaben geschmückt und Lichter angesteckt als Zeichen, daß der große Geist erschienen ist. Das alles kennen die Akha auch. Auch sie schmücken am ersten Tag des neuen Mondjahres einen Baum, auch sie entzünden Kerzen bei jeder Opferhandlung. Doch der silberne Stern da oben, was hat der zu bedeuten? Christentum und Heidentum schmelzen ineinander, als wir ihnen den Sinn unseres Festes zu erklären versuchen. Sie lächeln zufrieden und verständnisvoll. Wir erscheinen ihnen von nun ab weniger fremd und unheimlich, wir sind ja Menschen wie sie, die den Blick nach oben richten, nach dem großen unsichtbaren Wesen, das über Menschenschicksale, über Tiere, Berge und Wälder herrscht.

Armselig steht unser Christbaum da. Im grellen Sonnenlicht, mit abgebrannten Kerzen und verwelkten Blättern, kann er nicht bestehen. Papierschnitzel liegen um die halbverbrannten Stämme des gestrigen Lagerfeuers. Fort mit diesem blassen Abglanz eines trauten Festes, fort mit den Phantasien der Nacht, die doch nur Heimweh gebären, das elend und krank macht. Wir lassen die Kinder den Christbaum plündern, im Nu ist er seiner armseligen Pracht entblößt und verschwunden. Die kleinen braunen, nackten Knirpse aber suchen sorgfältig das Zuckerwerk aus den Papieren, stecken sich die bunten Papierschnitzel ins Haar, raufen um schillernde Ketten und Kerzenstumpfe. Ein Vater nimmt den silbernen Stern von der Spitze des Baumes und reicht ihn seinem zweijährigen Sohn. Die dicken Patschhändchen des kleinen Akhaknaben halten den Stern und große Augen blicken ihn lange in stiller Verwunderung an. Als die größeren Knaben sich um ihn drängen, verteidigt er heftig seinen Besitz. Der Stern gehört ihm!

Mit zusammengebissenen Zähnen gehen wir wieder an die Arbeit. Viele Monate heißt es noch durchhalten, bis es in die ferne Heimat geht, die uns so nahe war am Heiligen Abend.«


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