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Von der strahlenden Sonne, die allmorgendlich über den stillen weiten Bergen langsam höher stieg, merkten wir in unseren Lagern wenig. Nur eine fahle Dämmerung schlich durch den dichten Bambus, der sich über uns schloß und nicht den geringsten Ausblick auf den Himmel gewährte. Nur das Knistern der neuaufflammenden Lagerfeuer verkündete uns den neuen Tag und hieß uns aus unserem schwankenden Blätterdach in den leisen Tauregen hinaustreten. Unsere ersten Blicke galten stets den Phi Tong Luang, waren sie noch da? Denn nur mit Mühe hielten wir die ewig Rastlosen 3-4 Tage an einer Stelle zurück. Sobald die Blätter ihrer flüchtig errichteten Windschirme zu welken begannen, zogen sie weiter, um von einer anderen Stelle aus von neuem auf Nahrungssuche zu gehen. Da gab es nichts, was sie zurückhalten konnte – und wir mußten mit ihnen ziehen.
So scheu und zurückhaltend das Verhalten der Phi Tong Luang uns gegenüber auch war, so war es doch keineswegs ein unterwürfiges zu nennen. Es gibt bei ihnen keine Untergebenen oder Hochgestellten, diese Begriffe sind ihnen unbekannt, und ihr Verhalten richtet sich ausschließlich nach dem Grade des Fremdseins.
In den ersten Tagen hockten sie sich, bevor sie sich uns näherten, immer erst in einiger Entfernung auf den Boden und warteten die Aufforderung ab, näherzukommen. Mit der Zeit aber verloren sie ihre Scheu, kamen auf uns zu und verlangten, was sie wünschten. Sie verlangten es einfach mit dem Worte »tôt«, d. h. »geben«, denn ein »Bitte« oder »Danke« kennen sie nicht.
Auch eine Grußformel gibt es nicht. Wenn sich Phi Tong Luang begegnen, so fragen sie einander: »Woher kommst du?, wo gehst du hin?«, und beim Abschied sagt der Scheidende bloß »gehen«. Die Familienmitglieder untereinander verwenden nicht einmal diese Form der Begrüßung, und vor allen Fremden läuft man davon.
Höflichkeitsbezeigungen, Gesten des Wiedersehens oder der Begrüßung konnte ich nicht beobachten, wie sich ja überhaupt die Phi Tong Luang im Verkehr untereinander durch eine fast abgeklärt erscheinende Ruhe und Gelassenheit auszeichnen. Ich habe niemals einen Phi Tong Luang ärgerlich oder zornig gesehen, ebensowenig aber freudig erregt. Auch das zärtliche Liebkosen der Kinder ist niemals stürmisch.
Ich war Zeuge des Wiedersehens zweier Brüder, die sich monatelang nicht gesehen und lange vergeblich aufeinander gewartet hatten. Der eine hockte am Feuer, als der andere ankam, blickte einen Augenblick zu dem Ankommenden auf, grüßte nicht, sagte kein Wort, blieb ruhig sitzen und nahm gerade nur die Anwesenheit des anderen zur Kenntnis.
Diese Sparsamkeit im Ausdruck von Empfindungen ist jedoch keineswegs mit einem völligen Fehlen solcher gleichzusetzen. Dies beweist die aufopferungsvolle Haltung zu den Kindern, vor allem aber die Rücksicht und Fürsorge, die alten Leuten und Gebrechlichen zuteil wird. Auch die Sorge um Abwesende, wenn sie zu lange ausbleiben, und das selbstverständliche Aufheben der oft spärlichen Nahrungsmittel für die Abwesenden spricht dafür.
Gastfreundschaft gegen Stammesgenossen ist den Phi Tong Luang eine Selbstverständlichkeit, und lieber bleibt man selbst hungrig, als daß dem Gaste kein Bissen vorgesetzt würde. Einem Fremden gegenüber kommt eine Gastfreundschaft nur dann in Frage, wenn sie diesen schon gut kennen, wie z. B. unseren Chinesen oder einen der Meau. Im anderen Fall ist Angst und Scheu viel zu groß, um sich dem Fremden auch nur zu nähern.
Bestimmte Anstandsregeln gibt es nicht, doch konnten wir niemals eine Handlung beobachten, die unserem Begriff von Schicklichkeit widersprochen hätte. Es sei denn Spucken oder Rülpsen, was aber selbst ein Phi Tong Luang während des Essens vermeidet. Groß ist die Scham im sexuellen Verkehr, der nie für andere sichtbar stattfindet. Auch ist es unschicklich, über derlei Dinge, oder über Zeugung und Geburt zu reden.
Obwohl die Phi Tong Luang von uns und unseren Leuten überaus rücksichtsvoll behandelt wurden und sie wohl merkten, daß sie von uns nichts zu fürchten hatten, waren sie doch weit entfernt davon, uns jenes Zutrauen und jene Anhänglichkeit entgegenzubringen, die wir bei anderen Völkern, vor allem auch bei den primitiven Semang geerntet hatten. Ich kann wohl sagen, daß ich niemals im Verkehr mit Menschen soviel Geduld, soviel Rücksicht und Nachsicht walten ließ, wie diesen Kindern des Urwaldes gegenüber, die uns nur zu leicht entwischen konnten. Sie wurden geradezu mit »Glacéhandschuhen« angefaßt, und keiner konnte sich genug darin tun, ihre Wünsche zu erfüllen. »Hast du kalt, rücke näher zum Feuer, willst du rauchen, hier ist Tabak, willst du vielleicht Zuckerrohr, bitte, bediene dich« – in dieser Tonart sprachen Bun Ma und Nam Som zu ihnen, und auch von den Meau bekamen sie kein böses Wort zu hören.
Wir wunderten uns oft über die Gutmütigkeit der Lao. Wohl belächelten sie die Phi Tong Luang mit Mienen von Besserwissern, doch verrichteten sie ohne Murren jede Arbeit für sie, sahen zu, wie sie den ganzen Tag faulenzten und trugen ruhig ihr Fleisch und ihren Reis zu ihnen hinüber, wenn sie auch selbst nicht genug zu essen hatten. Dafür unterhielten sie sich wohl auch auf Kosten »unserer Kinder«. Sie ahmten ihre merkwürdige Sprechart nach, oder sie bemühten sich, Tulug »Manieren« beizubringen. »Sag dem Vater ›danke‹«, belehrten sie ihn gutmütig, wenn er von mir Tabak bekam, und klopften ihn lobend auf die Schulter, wenn er ihre Worte nachsprach. Tulug merkte es gewiß nicht, daß sie sich, wenn auch in netter Art und Weise, über ihn lustig machten – und auch dieses Verhalten war für uns von Bedeutung.
Trotz dieser guten Behandlung, die den Phi Tong Luang zuteil wurde, blieben sie ernst und zurückhaltend. Niemals mischten sie sich unter die Meau oder Lao. Wenn diese lustig beisammensaßen, scherzten und lachten, blieben sie unter ihrem Windschirm für sich allein und blickten wie aus weiter Ferne zu der fröhlichen Schar hinüber. Nur im Kreise ihrer eigenen kleinen Gemeinschaft fühlten sie sich wohl. Ein zufriedenes Behagen lag auf ihren Gesichtern, wenn sie nach ihrem einfachen Mahl das Bambuspfeifchen entzündeten und still ins Feuer blickten. Aber auch dann wich niemals jener Schimmer eines tiefen Ernstes aus ihren Zügen, der alle Phi-Tong-Luang-Gesichter einander so ähnlich machte.
Unser »ältester Sohn« lag dreiviertel des Tages auf seinem Lager, rauchte und starrte ins Feuer. Tatsächlich konnte er stundenlang so dasitzen, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Nur wenn seine kleine Tochter mit ihrem schwarzen Köter spielte und Scherze machte, breitete sich langsam ein Lächeln über sein Gesicht.
Die Phi Tong Luang sprachen sehr wenig miteinander und konnten stundenlang beisammensitzen ohne ein Wort zu sagen, nur ab und zu hörte man die langgezogenen Laute wie »m–m« und »ähähäh«. Nur wenn die Frauen beisammensaßen ertönten manchmal ihre hohen Stimmen bis zu uns herüber.
Diese Ausdauer, die sie beim Nichtstun bekunden, fehlt ihnen bei der Arbeit. Ob sie nun Matten flechten, was ihnen die Meau beigebracht haben, oder diesen bei den Feldarbeiten helfen, sie laufen mitten in der Arbeit davon, und es liegt ihnen nichts daran, etwas Begonnenes zu Ende zu bringen.
Auch unser Gewährsmann, der, wenn wir mit ihm sprachen, meist unbekümmert auf seiner Pritsche liegenblieb, brach mitten im Gespräch die Unterhaltung ab, wenn es ihm gerade gefiel, nun dies oder jenes zu tun. Stellte ich ihn dann zur Rede, so sagte er nur »ähäh« und setzte sich für eine Zeit wieder willig hin, bis er schließlich nach einer Weile rief: »Akadnyit« (Nacht oder finster), was soviel bedeutete wie: »Es ist nun Zeit, daß du gehst.«
Noch aus einem anderen Grunde war es außerordentlich schwierig, mit den Phi Tong Luang zu arbeiten. Sie waren nicht fähig, abstrakt zu denken, oder Schlüsse zu ziehen. Erst viel später kamen wir darauf, daß es keinen Sinn hatte, ihnen die Folgen irgendeiner Handlung im vorhinein auseinanderzusetzen. Erst wenn diese eintraten, waren sie für die Phi Tong Luang existent.
Ebensowenig waren sie imstande, Vergangenes oder Zukünftiges zu erwägen. Diese Einstellung erschwerte unsere Arbeit, und nur dadurch, daß wir während unseres gemeinsamen Lebens so ziemlich auf alle Probleme ihres Daseins stießen, war es uns möglich, Einblick in ihre Gedankenwelt zu gewinnen. Weitgehend kamen uns auch die jahrelangen Erfahrungen Tsin Tsais und anderer Meau zu Hilfe, die die Lebensweise der Urwaldnomaden zu jeder Jahreszeit recht gut kannten, so daß in manchen Belangen unsere Aufgabe nur darin bestand, die Behauptungen der Meau zu überprüfen. Ohne ihre Hilfe wäre es wohl kaum möglich gewesen, Dinge zu erfahren, wie zum Beispiel die Begräbnissitten oder Heiratsverbote und dergleichen mehr.
Wenn die Phi Tong Luang von sich sprachen, sagten sie nicht »ich« oder »wir«, sondern: »Der Sohn geht, der Vater möchte dies oder jenes«, oder »Die Yumbri haben Angst, die Yumbri möchten fort …«. So drücken sich unsere Kinder aus, bevor in ihnen das Bewußtsein des persönlichen Eigenlebens erwacht ist, bevor sie sich selbst aus der Gemeinschaft, in die sie sich gesetzt sehen, herauszuheben imstande sind. In dem Augenblick aber, in dem unsere Kinder zum erstenmal »ich« sagen, folgt bald darauf das »ich will«. Gleichzeitig mit der Erkenntnis des Ichbegriffes erwacht der Wille. Die Form der sozialen Organisation, die Einstellung der Phi Tong Luang zum Lebenskampf, und noch viele andere Erscheinungen deuten darauf hin, daß der Individualitätsbegriff ebenso wie die Willensfähigkeit bei ihnen nur in ganz geringem Maße entwickelt ist.
Es verging immer einige Zeit, bis sie eine Frage, die man an sie stellte, verstanden hatten. Erst wiederholten sie die Frage, dachten dann darüber nach, und das Resultat dieses Nachdenkens war oft recht aufschlußreich. So spielte sich zum Beispiel ein Gespräch in folgender Weise ab:
Ich fragte: »Was machst du, wenn sich dein Sohn das Bein gebrochen hat?« Mit tief unglücklichem Gesicht hockt der Alte neben uns am Lagerfeuer, starrt an mir vorbei in den Bambus und wiederholt mit hoher, näselnder Stimme mehrere Male meine Frage: »Was Vater machen, wenn Sohn Bein gebrochen? Was Vater machen, wenn Sohn Bein gebrochen? Was Vater machen … Äh–äh–äh, der Sohn hat sich ja gar nicht das Bein gebrochen!« – Und meine Arbeit begann von neuem.
Oder: Als ich mich einmal tagelang bemühte herauszubekommen, bis zu welchem Grade Blutsverwandtschaft ein Ehehindernis darstellt, fragte ich Tulug, ob er das Mädchen, das neben ihm saß und die Tochter seines Vaterbruders war, heiraten könne. Da wies er auf das etwa zwölfjährige Mädchen hin und schüttelte lächelnd den Kopf: »Die ist noch zu jung, die kann ich doch nicht heiraten!« Als ihn Bun Ma aber fragte: »Würdest du sie heiraten, wenn sie älter wäre?«, da sagte er wieder: »Sie ist zu jung zum Heiraten«, und dabei blieb er.
Es war oft zum Verzweifeln. Trotzdem aber beschränkten wir unsere Aufnahmen nicht auf unsere Beobachtungen und auf die Aussagen der Meau, sondern stellten immer wieder Fragen an die Phi Tong Luang selbst. Denn wenn man auch oft nicht eine der Frage entsprechende Antwort erhielt, so war doch alles, was sie sagten, irgendwie aufschlußreich und von Bedeutung. Als wir dann später noch mit anderen Horden zusammenstießen, war es uns möglich, viele jener Aussagen zu überprüfen, die uns bisher unwahrscheinlich oder ungeklärt erschienen waren.
An Hand der großen Zahl unserer Beobachtungen ließ sich feststellen, daß das geistige Niveau dieser Primitiven weit hinter dem der Moken oder Semang zurücksteht. Vor allem scheint die Lernfähigkeit außerordentlich gering zu sein. Doch ist sie ohne Zweifel vorhanden, wie es aus der Tatsache, daß sie imstande waren Flechten, Schmieden und die Herstellung kleiner Geräte von anderen Völkern zu erlernen, hervorgeht. Andererseits aber ist von einem raschen Begreifen oder Erlernen keine Rede, wie dies aus der absoluten Unverwendbarkeit zu irgendwelchen Arbeiten, die unsere Anwesenheit erforderte, nur zu oft zutage trat.
Ebensowenig konnten wir spezielle Fähigkeiten feststellen, weder Erfindungsgabe, noch kaufmännische Begabung, Organisationstalent oder irgendwelche Kenntnisse der Natur. Die Unterscheidung von brauchbaren Pflanzen, Tieren und eventuell Steinen ist für sie der einzige Gesichtspunkt, unter welchem die Umwelt betrachtet wird, und nur soviel wissen sie von ihr; Namen für die verschiedenen Spezies kennen sie nicht.
Auch die Himmelserscheinungen erklären sie sich nicht. Die Sonne stirbt jeden Abend und jeden Morgen wird eine neue geboren. Die tote Sonne aber wandert unter der Erde umher. Sowohl die Sonne wie auch der Mond sind nach ihrer Vorstellung runde Kugeln von zirka 40 cm Durchmesser (man gab die Größe mit den Händen an). Der Mond sei größer als die Sonne. Erklärungen über die Mondphasen konnte ich keine erhalten. Für die Sterne gibt es nur einen Sammelnamen »tšun'oyn«.
Wenn sie über derartige Dinge sprachen, machten sie den Eindruck von Kindern, die mit ihren Händen den Mond greifen wollen. Weder Vorstellung von Ursache und Wirkung, noch Erkenntnis oder Kritikvermögen war ihnen eigen.
Sehr gering sind auch ihre geographischen Kenntnisse. Weder die bei den Nachbarvölkern üblichen Namen »Pa Sam Sao«, »Nam Pun« oder die der zahlreichen Quellen und Flüsse waren ihnen bekannt, was auf einen äußerst geringen Kontakt mit diesen Völkern hinweist – noch hatten sie eigene Namen für die verschiedenen Gebiete und Landschaften.
Sie kennen auch keinen Ausdruck für Europäer, und keiner von ihnen hatte gehört, daß es weiße Menschen gibt.
Wenn wir die Lebensform dieser Primitiven betrachten, so ist es verständlich, daß alle diese Fähigkeiten und Kenntnisse für sie von keiner oder teilweise nur sehr geringer Bedeutung sein müssen. So wird auch ein Phi Tong Luang von seinen Stammesgenossen keineswegs wegen größerer oder geringerer »Klugheit« geschätzt oder mißachtet. Man hält auf den Menschen, der es versteht, viele eßbare Pflanzen im Urwald zu finden. »Dumm« ist nur, wer dies nicht kann.
Die Gedächtnisprüfungen, die wir bei anderen Naturvölkern anstellten, wiesen meist erstaunlich positive Ergebnisse auf. Menschen, die keine Schrift aber eine reiche mündliche Überlieferung besitzen, deren Kulturleben ebenso wie auch die Erwerbung des Lebensunterhaltes die Fähigkeit, Dinge zeitlebens im Gedächtnis zu behalten erfordert, sind im hohen Maße auf ihr Erinnerungsvermögen angewiesen. Unsere Träger und Begleiter übertrafen uns nicht selten in der Evidenthaltung von Ereignissen, deren Verlauf uns lange entschwunden war. Wenn meine Frau Nachtragungen für ihr Tagebuch zu machen hatte, konnten die Meau ihrem Gedächtnis immer weitaus besser nachhelfen als ich. Bei den Phi Tong Luang hingegen liegen die Verhältnisse anders. Ihr Leben zwingt sie in keiner Weise, ihr Gedächtnis zu schulen, und sie besitzen nur in sehr geringem Maße das Bedürfnis, Ereignisse festzuhalten oder zu erzählen.
Flüchtige Gedächtnisprüfungen ergaben bei ihnen jedenfalls meist oder immer die Antwort: »Das weiß ich nicht mehr.«
In ganz anderer Richtung scheint sich jedoch das sprachliche Gedächtnis zu entwickeln. Dieses war auch bei den Phi Tong Luang in ausgesprochener Weise vorhanden. Fast jeder von ihnen sprach außer seiner eigenen Sprache noch eine oder zwei andere, je nachdem, mit welchen Bergvölkern er in Berührung gekommen war. Ja, manche von ihnen hatten sogar in recht kurzer Zeit einige englische Worte richtig aussprechen gelernt, die sie von uns und Bun Ma öfter hörten.
Es hatte zuerst infolge ihrer größeren Lebhaftigkeit den Anschein, als ob die Frauen die intelligenteren wären. Dies stellte sich jedoch bald als Irrtum heraus. So oft ich auch den Versuch machte, etwas Wesentliches durch eine von ihnen zu erfahren – es war stets vergebliche Liebesmühe. Sie sind jedoch zweifelsohne die aktiveren.
Obwohl die Phi Tong Luang einen ausgeprägten Orientierungssinn besitzen, der für sie ja eine der Lebensbedingungen darstellt, kommt es doch häufig vor, daß sich die einzelnen Mitglieder einer Horde nicht finden. Wir trafen drei Phi Tong Luang im Wald, von ihrer Horde abgesprengte Individuen, die selbst nicht wußten, wo sich ihre Hordengenossen befanden. Niemals haben uns Phi Tong Luang ihre eigenen Leute suchen geholfen. Sie scheinen tatsächlich die Aufenthaltsorte der verschiedenen Horden nicht zu kennen, ganz anders als die Semang. Allerdings spielt dabei der außerordentlich häufige Wechsel des Lagers eine erschwerende Rolle. Oft sehen sich Verwandte monatelang nicht, wenn sie sich einmal verloren haben. So kam es, daß, als wir wieder im Meaudorf lagerten, zwei Frauen bei Tsin Tsai erschienen, die sich auf der Suche nach ihren Männern befanden. Zwei Tage später kamen diese und suchten ihre Frauen, die einstweilen schon wieder über alle Berge waren. So treffen sich die Phi Tong Luang selbst oft mehr oder weniger zufällig auf ihren Wanderungen, die weg- und regelloser sind, als die Wechsel des Wildes.
Im allgemeinen dienen wohl Kammlinien, Bäche und Flüsse, deren Verlauf sie mit der Hand in der Luft andeuteten, als Merkpunkte auf der Wanderung. Die Mittel, um sich gegenseitig zu verständigen, sind gering. Wird ein Lager verlassen, so nimmt man Asche aus der Mitte der Feuerstelle mit sich und knickt ein Bäumchen oder einen Ast in der Richtung ab, in der man weiterzieht. Findet dann der andere in der Feuerstelle eines verlassenen Lagers ein Loch, so weiß er, daß die Horde nicht mehr hierher zurückkommt.
Wenn ausgetretene Wildwechsel benützt werden und ein Teil der Horde dem anderen folgen soll, legt man Äste quer über den Pfad, der nicht benützt werden darf, damit die Nachfolgenden nicht die falsche Richtung einschlagen.
Yu, der Chinese, der die Phi Tong Luang seines Gebietes gut kannte, behauptete folgendes: Wenn eine Horde auf Nahrungssuche geht und vorhat in dasselbe Lager zurückzukehren, so wird im Lager ein Stab, den sie einknicken oder mit Einkerbungen versehen, zurückgelassen. Die Lao bestätigten zwar die Richtigkeit dieser Angabe, unsere Phi Tong Luang jedoch wußten nichts von dieser Sitte.
Um sich zusammenzurufen, pfeifen sie auf einer Bambuspfeife. (Abb. 62.) Sie haben kein bestimmtes Alarmsignal, wenn eine Gefahr droht. Nähert sich ein Feind, so rufen sie: »o tady din uy tadya.« Ist es ein Freund: »o tšakaleng!« Oft aber rufen sie auch nur »Ui ui, ui!«, wenn sie sich einer unbestimmten Gefahr gegenübersehen.
Ich stellte die Frage: »Woran erkennt ihr den guten oder den schlechten Menschen?« Da sagten sie: »Gute Menschen sind wie Yumbri gekleidet (also in spärlichen Fetzen), schlechte Menschen wie die Lao, und die bösesten sind die, welche einen Hut tragen.« Diese Weisheit hatten sie gewiß jenseits der Grenze unter den französischen Lao gesammelt, und im Urwald wird sie auch meistens den Tatsachen entsprechen.
Als ich mich bemühte, Einblick in die soziale Organisation zu gewinnen, gab mir ein Alter kopfschüttelnd die Antwort: »Wenn der Vater einen Fremden sieht, fragt er ihn nicht solche Dinge wie du!«
Die auffallendste Charaktereigenschaft der Phi Tong Luang ist wohl ihre übergroße Ängstlichkeit und Scheuheit. Trotz ihrer kaum vorstellbaren Genügsamkeit sind sie gegen Schmerzen, Hunger und Kälte außerordentlich empfindlich. Sie litten oft an körperlichem Unbehagen oder zitterten vor Kälte, während die Meau nichts dergleichen empfanden.
Ihre Gutmütigkeit und vor allem ihre Verträglichkeit sei hier besonders hervorgehoben. Falschheit oder Verlogenheit konnten wir nicht an ihnen beobachten. Die Lüge ist auch tatsächlich sehr verpönt und eines von den wenigen Vergehen, das an Kindern gestraft wird. Ein Versprechen wird immer gehalten. Hingegen scheinen sie nicht in demselben Maße ehrlich zu sein. Wohl haben sie aus unserem Lager niemals etwas entwendet, weder Tabak, noch Reis, noch andere Dinge, die für sie von Wert waren. Die Reislasten aber, die wir ihnen manchmal zu tragen gaben, verringerten sich während eines Tagesmarsches oft beträchtlich. Ob sie den Reis stahlen, versteckten oder einfach fortwarfen, um die Last zu erleichtern, darüber waren Bun Ma und ich verschiedener Meinung. Er, der gerne die Faulheit der Phi Tong Luang hervorhob – diese war gewiß bemerkenswert –, verdächtigte sie der letzteren Handlung.
Selbstmord kommt bei den Phi Tong Luang niemals vor. Sie lachten, als wir davon sprachen, und meinten: »Warum sollte man sich denn selbst etwas zuleide tun?« Mußte man nicht froh sein, wenn man im Urwald überhaupt mit dem Leben davonkam? Sich selbst töten zu wollen, war für sie undenkbar.
Ein Beurteilen ihrer eigenen Lage oder gar der Wunsch, diese zu ändern, dürfte ihnen niemals in den Sinn kommen. Sie denken gewiß auch nicht, daß es den Meau oder anderen Völkern, deren mehr oder weniger gesicherte Lebensweise sie kennenlernten, besser ginge als ihnen. Sie waren eben die »Yumbri«, die Dschungelmenschen, und wanderten in ihren Urwäldern umher wie es vor Jahrtausenden ihre Vorfahren taten.
Mit einer beschränkten kindlichen Phantasie und einem nur auf die augenblicklichen Bedürfnisse gerichteten Denkvermögen, so leben diese Reste ferner Vergangenheit in ewiger Furcht vor Mensch und Tier. Wie sich dieses Volk waffenlos bis in unsere Tage erhalten konnte, wird wohl ewig das Geheimnis der unendlich weiten undurchdringlichen Dschungel bleiben, die dem einen Verderben bedeuten, dem anderen aber Schutz und Zuflucht.