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Rasch nimmt uns fremde Wanderer, die wir aus gegenwartsfernen Dschungeln kommen, diese Stadt gefangen. Kaum wundert man sich, daß man diese oder jene Vorteile der Zivilisation so lange entbehren konnte, so findet man sie auch schon selbstverständlich. Das Langersehnte, das so verlockend scheint solang man es entbehrt, achtet man wenig, wenn man es besitzt.
Da ist das moderne Siam mit seinen neuen Zielen, das unerbittlich und lächelnd zugleich hinwegstrebt über die Trümmerfelder einer großen Vergangenheit. Wohin? »Siam den Siamesen«, steht unter der geballten Faust eines Soldaten geschrieben, der auf prangenden Plakaten abgebildet ist. Es ist der Weckruf der asiatischen Jugend.
Diese junge Generation hat oft in europäischen Staaten ihre Ausbildung genossen. Schnell, vielleicht zu schnell, hat sie die Ergebnisse fremder Kulturentwicklung in sich aufgenommen und versucht nun, sie dem eigenen Lande zugute kommen zu lassen. Dabei ist man bemüht, eine allzu große Abhängigkeit von Europa abzuschütteln, man besinnt sich und ist gewillt, nicht nur nach außen hin ein selbständiger Staat zu sein. Ein starker Nationalismus breitet sich immer mehr aus. Schon den Schulkindern wird in eindringlicher Weise auf Landkarten vor Augen geführt, daß man den lieben Nachbarn nicht zu sehr trauen darf. Es wird die Größe des Königreiches Siam vor etwa 100 Jahren aufgezeigt und deutlich jene Gebiete gekennzeichnet, die seither an Franzosen und Engländer verlorengegangen sind. Wenn man sich den Reichtum der abgetrennten Gebiete vor Augen hält und bedenkt, daß sie von den gleichen Völkern besiedelt sind wie das Mutterland, kann man die Gefühle eines nationalen Siamesen verstehen.
Nach europäischem Muster wird das Heer ausgebildet. Infanterie, schwere Artillerie und Tankkolonnen exerzieren in den Ebenen der weiten Niederungen, Geschwader einer jungen Fliegerwaffe durchziehen die Lüfte, und in allem lebt jener kriegerische Geist der Siamesen, der sich in jahrhundertelangen Kämpfen und stolzen Siegen bewährt hat.
Aber auch auf anderen Gebieten ist das moderne Siam auf Fortschritt bedacht. Spitäler, Schulen, Verwaltungsgebäude und Geschäftshäuser stehen an den Fronten der modernen Straßen, herrliche Alleen, weite Rasenflächen und gepflegte Gärten, in deren Mitte die behaglichen Häuser der Europäer und reichen Siamesen stehen, geben uns ein Bild von moderner Wohlhabenheit.
Doch über dieser neugestalteten Welt erhebt sich das Wahrzeichen Bangkoks, das Wahrzeichen des prunkvollen Ostens. Es ist das über 80 m hohe wunderbare Wat Arun, der Tempel der Morgenröte, der sich in den trägen Fluten des Menam widerspiegelt. (Abb. 33.) Nicht nur die prachtvolle Keramik, die den ganzen ungeheuren Bau bedeckt und deren bunte Farbenpracht märchenhaft in der Sonne aufblitzt, nicht nur die schönen Mosaiken und Malereien sind Schöpfungen höchsten künstlerischen Könnens, auch vom technischen Standpunkt ist das Wat Arun ein Meisterwerk, ist doch der massive Ziegelbau auf dem Schwemmland der Menammündung erbaut worden.
Prachtvoll ist der Blick vom Pu Khao Tong, dem Goldenen Berg, über die königliche Stadt und das angrenzende grüne Land. Der Gipfel dieser künstlich erbauten Anhöhe wird von einer feinen Prachedi, einem turmartigen Grabbau, gekrönt (Abb. 28), zu dem alljährlich im November Tausende von Gläubigen wandeln, um die Knochensplitter aus den Gebeinen des großen Buddha zu verehren, die hier in einem goldenen Reliquienschrein ruhen.
Keine Stadt des Ostens ist so reich an wundervollen Baudenkmälern, deren Großartigkeit religiöse Inbrunst mit künstlerischem Schwung vereint. Die siamesische Architektur ist aus den alten Hochkulturen der Mon und Khmer hervorgegangen, jener hinduistischen Völker, die einst von den von Norden kommenden Thai (Siamesen) vernichtet wurden. Zu der altindischen Monumentalität hat sich im Verlaufe vieler Jahrhunderte eine zarte Ornamentik und Formenschönheit gesellt und eine Kunst entwickelt, die der Verherrlichung des Buddhismus dient.
Strahlend ist die Pracht und der Reichtum all dieser tausend Wat und ihrer Türme. Doch jagst du als Deutscher von Tempel zu Tempel, verweilst du auch still vor mächtigen Götterbildern, ergreift auch Staunen und Bewunderung deine Seele, so werden vor deinem inneren Blick sich dennoch die schlanken Türme gotischer Dome erheben, wird sich dein Geist in jenes andachtsvolle Dunkel flüchten, in jene Welt künstlerischer Schönheit, die Meister schufen, die deines Blutes und deines Geistes waren …
Der feine Rhythmus und die Anmut der siamesischen Kunst, die in der liebevollen Durcharbeitung jeder einzelnen Form ihren Höhepunkt erreicht, spiegelt sich vor allem in der Tanzkunst wider. Auch sie erhielt reiche Anregungen aus dem Mythenkreis des Heldenepos Ramakien, der siamesischen Version des altindischen Ramayana, das brahmanischen Ursprungs ist. Sorgfältig ausgebildete Tänzer und Tänzerinnen zeigen die Eingebung eines Volkes, das vor Jahrtausenden diese Kunst gebar, die sich durch ein zähes Festhalten an der alten Tradition bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Eng sind die schweren golddurchwirkten Stoffe um die schlanken Körper der Tänzerinnen genäht (Abb. 30), es funkelt der überreiche Schmuck aus Edelsteinen und Gold (Abb. 31), es blitzen in allen Farben die Halbedelsteine in den zarten Gebilden der goldenen Kronen. Wundervoll sind die langsamen Gebärden der beiden Mädchen, die ein Liebespaar darstellen. (Abb. 29.) Der siamesische Tanz besteht aus einer komplizierten Gebärden- und Fingersprache, jede Stellung der Finger hat eine besondere Bedeutung. Nur angedeutet erscheinen die schmeichelnden Bewegungen des Körpers, das leise Neigen des Kopfes, das Locken, das Abwehren, das sieghafte Werben, das demutsvolle Sichergeben des Weibes. Die ruckweisen, abgezirkelten, an sich unnatürlichen Bewegungen verkörpern dennoch ein inneres Erleben, wirken durch die Reinheit ihres hohen Stils und durch ihre klassische Anmut.
Völlig ausgeschaltet bleibt das Mienenspiel. Wie starre Masken erscheinen die weißgepuderten Gesichter mit den geschwungenen, schwarz gemalten Augenbrauen und den hellroten Lippen. Inmitten der Starrheit des Gesichtes haben die sich bewegenden schwarzen Augen einen ganz eigenartigen Schimmer. Das Weiße glänzt wie Glas, die Pupille scheint hervorzutreten. Man muß an die Augen jener Buddhastatuen denken, deren Blicke uns so fremd und rätselhaft erscheinen.
Die Männer wieder tragen bunt bemalte Masken vor dem Gesicht, wie es die Handlung des Ramakien verlangt. In der Art von lebenden Bildern stellen sie aufeinanderfolgende Szenen des Heldenepos dar. (Abb. 32.)
Diese Bilder aus Fleisch und Blut gleichen auf ein Haar den Darstellungen der siamesischen Malerei und Skulptur und den aus Kuhhäuten geschnitzten Schattenfiguren. In den Dörfern Südsiams, in denen das Kino den Sinn für diese althergebrachte Volksbelustigung noch nicht zerstört hat, kann man noch diese aus Java übernommenen Spiele sehen.
Wir trafen eine der wandernden Schauspielergruppen, die abends vor dem Dorfe mit ihren kunstvollen beweglichen Figuren Vorstellungen geben. Ein großes Feuer wirft seine Schatten auf die Leinwand, vor der in dichten Scharen Männer, Frauen und Kinder hocken. Während die Künstler ihre Figuren lenken (Abb. 34), rezitiert einer von ihnen in singendem Ton die alten wundervollen Verse. 2000 verschiedene Figuren, die alle nach feststehender Tradition geschnitten sind, gehören allein zum Ramayana. (Abb. 35.) 5-6 Stunden dauert eine Vorführung, und viele Tage nimmt das ganze Epos in Anspruch. Immer wieder konnte es das einfache Landvolk sehen, wie Hanuman, der Affenfeldherr, Benyakai, die Tochter des Dämonenfürsten, raubt, wie er sie gewaltsam mit sich fortschleppt und sie ihn zu lieben beginnt. Wie der Kriegs- und Liebesheld aber auch sie schnöde wieder verläßt wie so viele andere Mädchen zuvor. Im Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen guten und bösen Mächten ist das Affenheer Verbündeter der Götter, und schließlich werden die Dämonen und Riesen besiegt.
Heute aber ist der zeitlose Osten auch schon schnellebiger geworden, und der Führer der wandernden Truppe sagte mir, daß er von Jahr zu Jahr die Vorstellungen kürzen müsse.
Zusammengeschmolzen ist die Zahl der Fürsten, die einst die hohen Künste förderten. Wohl gibt es Kreise in Bangkok, die sich bemühen, die alten Kulturgüter nicht verschwinden zu lassen, doch das Volk selbst strebt anderen Idealen zu. So wird es nicht mehr lange dauern, bis die heute noch lebendige Kunst in den Mauern des Nationalmuseums ein totes Dasein führen wird, wie all die vielen Herrlichkeiten einer stolzen Vergangenheit, die wir dort bewunderten.
Bunt ist das Bild der Straße. In engsten Gassen bieten laut schreiend die Chinesen ihre Waren an und warten, auf ihren hohen Stühlen hockend, auf Käufer, während sich Frau und Kinder im Laden herumtummeln. Die Menge der Kinder setzt den Europäer immer wieder in Erstaunen. Sie sehen wohlgenährt und munter aus. Wie ist die gelbe Rasse doch zäh und aufstrebend! Jeder einzelne erkämpft sich seinen Platz an der Sonne und arbeitet für seine Nachkommen. Während man sich in Europa bemüht, mit Hilfe von Gesetzen die Geburtenzahl zu steigern, setzt hier eine elementare Kraft Millionen und aber Millionen Kinder in die Welt, trotz Opium, Syphilis, Tuberkulose und Armut!
Splitternackt laufen sie neben den Autos der Europäer her, die sich langsam eine Gasse durch die dichte Menschenschar bahnen, um in jenes Viertel zu gelangen, in dem sich ein Kunstladen an den anderen reiht. Denn das Einkaufen von altem Silber und Schmuck, Möbeln, Bildern, Skulpturen und Bronzen scheint eine Leidenschaft aller Europäer in Bangkok zu sein. Besonders die Frauen sind stolz darauf, wenn sie tagelang um den Preis handelten oder auf ein ihnen entsprechendes Angebot Wochen hindurch warteten. Jeder ist fest davon überzeugt, daß er den niedrigsten Preis bezahlt hat, und daß er etwas errungen hat, was kein zweiter besitzt. In den meisten Fällen ist dies natürlich absolut nicht der Fall, gibt es doch nur ganz wenige Kenner, die den überaus schlauen Praktiken der chinesischen Händler gewachsen sind.
Auch die großen Geschäftsstraßen haben keineswegs europäisches Gepräge. Daß es kein sogenanntes Europäerviertel gibt, ist ein großer Reiz der Stadt Bangkok. Sie ist und bleibt die Hauptstadt des Königreiches Siam, und die Europäer, wenn sie auch viele Unternehmungen gegründet haben und große Handelshäuser besitzen, sind doch nur geduldete Gäste.
Von den Brücken der Stadt sehen wir hinab auf die zahllosen Wasserstraßen, die kreuz und quer die Stadt durchziehen. (Abb. 36.) Die schwimmenden Märkte da unten bieten ein wahrhaft abwechslungsreiches Schauspiel von menschlichem Selbsterhaltungstrieb, von Armut und Lebenskampf, Tüchtigkeit und rücksichtslosem Ausbeutertum. So dicht stehen die beladenen Boote, daß man das Wasser nicht mehr sieht und nicht verstehen kann, wie sich dennoch immer wieder eines der Boote durchzwängen kann.
Wir fahren hinaus in das idyllische Gartenland der Klongs, das sich am Westufer des Menam weithin ausbreitet. Da wohnen die kleinen Leute, Händler, Handwerker, Obst- und Gemüsegärtner, meist Siamesen, in ihren kleinen Strohhütten am Wasser. Es sind die Gebiete, von denen sich alljährlich am Ende der trockenen Jahreszeit schwere Choleraepidemien über die ganze Stadt hin ausbreiten.
Wir fahren abends durch die grell erleuchteten Straßen und suchen eines der chinesischen Theater auf. In phantasievollen Mandarinengewändern, die mit Drachen, Schlangen und allen Himmelsgestirnen bestickt sind, treten die Schauspieler abwechselnd an die Rampe, um ihre Rolle herzusagen. Der lange wallende Bart, der nur mittels eines Gummibandes befestigt ist, pflegt beim Sprechen von einem Ohr zum anderen zu wandern. Stereotype Arm- und Handbewegungen begleiten die Worte, während im grellsten Scheinwerferlicht die bunt bemalten Seitenkulissen aus- und eingesetzt werden. Nimmermüde sitzt das chinesische Publikum familienweise auf den holzgezimmerten Bänken und ergötzt sich stundenlang an der ununterbrochenen Szenenfolge, deren wirkungsvolle bunte Pracht die mangelnde Handlung ersetzt.
Wir sitzen in dem modernen Bau des Lichtspieltheaters. Die Luft seiner Räume ist durch große Maschinenanlagen getrocknet und gekühlt, und man fühlt sich in diesem künstlich erzeugten europäischen Klima wie neugeboren. Doch um so lähmender wirkt, wenn man dann nachts auf die Straße tritt, die feuchte Schwüle, die das Leben in dieser schönen Stadt so erschwert.
Man geht ins chinesische Restaurant und ißt, vom Geschrei Ma Chong spielender Chinesen umgeben, mit Eßstäbchen natürlich, einen ausgezeichneten Fisch in Zucker und Essig, Haifischflossen und uralte Eier, Vogelnester und gebackene Gänsehaut, geröstete Leber mit Knoblauch, gewürzte Saucen in allen möglichen Farben, und chinesischen Tee am Anfang und am Ende des Mahles. Dazwischen aber wird aus kleinen Silberbechern Reisschnaps getrunken und zum Schlusse eine dampfende Serviette aufs Gesicht gelegt …
Man ist Gast von Prinzen und Handelsherren und nimmt an Gartenfesten teil, auf denen sich die elegante Welt, nach Pariser Mode gekleidet, tummelt, man geht zu Soupers und Diners und findet dieses Leben schließlich anstrengender als das Leben im Dschungel.
Mit dankbarem Herzen genießen wir die warmherzige Gastfreundschaft der Deutschen, die sich hier zu einer überaus netten Gemeinschaft zusammengeschlossen haben. Freundschaftbande werden geknüpft, die wert sind, daß sie bestehen mögen.
Ich halte Vorträge, suche Behörden und Bibliotheken auf – und vier Wochen in Bangkok vergehen wie im Fluge.
Meine Frau gebe ich in »Generalreparatur«. Die beste ärztliche Behandlung wird ihr zuteil und bringt sie wieder auf die Beine. Ein Stein fällt uns vom Herzen, denn wir haben uns ein großes Ziel gesteckt. Über den bewegten Tagen in Bangkok steht es groß geschrieben: »Wir müssen die ›Geister der gelben Blätter‹ finden!«