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Erich und Roland lebten mit einander auf den Thurmzimmern als wären sie in einen neuen Wohnort eingezogen und ganz allein; dahin drang kein Laut aus der Menschenwelt, nur Vogelsang von den Bäumen und Glockenklang von den Kirchen der Bergdörfer.
Eine regelmäßige Thätigkeit setzte sich fest; bis zum Mittag wußte man nichts vom Getriebe im Hause und Roland lebte fast nur im Denken an Benjamin Franklin.
Immer neue Anknüpfungen boten sich dar, und gerade daß ein amerikanischer Jüngling, und dazu der reiche Jüngling, der nie etwas entbehrt hatte, ein Leben voll Entbehrungen vor sich sah, wurde überraschend ergiebig. Bei Tisch sprach Roland von Benjamin Franklin, als wäre er ein Mann, der eben jetzt erst gekommen ist und überall unsichtbar mitsitzt und mitspricht. Roland wollte sogar nach der Art, wie Franklin sich eine Selbstrechenschaft angelegt hatte, das Gleiche thun, aber Erich hielt ihn davon zurück, denn er wußte, daß dies doch nicht durchgeführt wurde, dazu war Roland zu unstet. Und jene Selbstrechenschaft eignete sich auch nur für den Alleinstehenden oder allein den Weg Suchenden, Roland aber war vom ersten Augenaufschlag bis zum Niederlegen mit Erich. Sie ahmten die physikalischen Entdeckungen Franklins nach, sie durchdachten seine kleinen Erzählungen, ja bei vielen Vorkommnissen fragte Roland:
»Was würde wol Franklin dazu sagen?«
Es war indeß eine große Bewegung auf der Villa, denn der Inhalt des Warmhauses wurde in den Park gebracht. Ein neuer Garten stand in dem Garten. Roland und Erich sahen das erst, als Alles hergerichtet war.
Prancken kam fast täglich auf kurze Zeit, und wenn er zu Tische blieb, sprach er viel von dem Kirchenfürsten; er nannte den Bischof nie anders. Ein zweites Hofleben schien sich ihm aufgethan zu haben und dieser Hof hatte etwas Weihevolles, sich selbst Ordnendes, das keines Hofmarschalls bedurfte. Herr Sonnenkamp fragte stets mit vieler Theilnahme nach allen Verhältnissen am bischöflichen Hofe, Frau Ceres war vollkommen gleichgültig, da sie vernommen hatte, daß es dort keine Hofbälle gebe, überhaupt keine Frauen sichtbar seien, außer etwa höchst ehrwürdige Ordensschwestern.
Die Tage waren still; die südländischen Bäume dufteten und grünten mit den einheimischen, aber die stillen Tage waren gemessen, denn es wurde gerüstet und gepackt im Hause. Lutz war der Regent, große Koffer wurden bereits vorausgeschickt.
Es war an einem regnerischen Morgen, als Erich und Roland beisammen saßen und wiederum das Leben Franklins vor sich hatten. Erich fand Roland unaufmerksam, denn der Knabe schaute oft nach der Thür.
Endlich klopfte es an und Sonnenkamp, der bisher die Morgenthätigkeit nie gestört hatte, trat ein. Er sprach seine Freude aus, daß der Unterricht nun so geordnet sei; er hoffe, daß derselbe durch die Reise nur eine kurze Unterbrechung erleide, denn bei der Ankunft in Vichy könne damit fortgefahren werden.
Erich fragte, was denn das mit Vichy zu bedeuten habe, und er hörte, daß die ganze Familie mit männlicher und weiblicher Dienerschaft, sowie Roland und Erich nach Vichy zur Badecur reise und von da aus ins Seebad nach Biarritz.
Erich erklärte, daß er nicht ins Bad reisen könne.
»Sie können nicht mitreisen? Warum nicht?«
»Es thut mir leid, die Erörterung vor Roland führen zu müssen, aber ich glaube, daß er reif genug ist, diese Sache zu verstehen. Ich bin der festen Ueberzeugung, daß ein ernstliches Studium nicht in einem eleganten Badeorte aufgenommen und dann in Biarritz fortgesetzt werden kann.«
Sonnenkamp sah Erich erstaunt und Roland sah ihn bittend an. Sonnenkamp schien sich nicht Fassung genug zuzutrauen, jetzt in der erforderlichen Weise dem Hauslehrer entgegenzutreten; er sagte daher in leichtem Tone, die Sache könne noch am Abend besprochen werden. In halb spöttischer Weise fügte er eine Entschuldigung hinzu, daß er nicht bereits in der Universitätsstadt Erich seinen Sommerplan mitgetheilt habe.
So saß nun Erich allein mit Roland; dieser schaute still zu Boden. Erich ließ ihn geraume Weile gewähren, denn er sagte sich, jetzt kommt die erste Entscheidung, jetzt wird die Probe gemacht.
»Verstehst Du meine Gründe,« fragte er endlich, »warum ich unser Arbeitsleben, dieses unser gemeinsames Leben nicht an einem Vergnügungsorte fortsetzen kann und will?«
»Ich verstehe es nicht,« sagte der Knabe trotzig.
»Soll ich's Dir erklären?«
»Ist nicht nöthig,« erwiderte der Knabe unwillig.
Erich antwortete nicht und die Stille ließ Roland inne werden, wie er sich benommen; aber in der jungen Seele kämpfte etwas, das sich gegen eine Knechtschaft aufbäumte. Es kam ein Anderes zu Wort, denn Roland fragte:
»Bin ich nicht fleißig und folgsam gewesen?«
»Wie sich's gebührt.«
»Verdien' ich nicht jetzt auch ein Vergnügen?«
»Nein. Die Uebung der Pflicht wird nicht bezahlt, und gewiß nicht durch Vergnügen.«
Wieder war lange Stille.
Unbeweglich war das Gesicht Rolands und unbewegt standen Thränen in seinen Augen. Erich fragte:
»Gibt es ein Gutes auf der Welt, das ich Dir nicht geben möchte?«
»Ja, aber . . .«
»Nun, was aber? Sprich doch weiter.«
»Ach, ich weiß nichts. Ja doch . . . doch . . . thu's mir zu lieb und geh mit; ich könnte nicht vergnügt sein, wenn Du nicht bei uns wärst, ich dort und Du hier allein.«
»Du möchtest also wol ohne mich reisen?«
»Ich will ja nicht, Du sollst ja mit!« Der Knabe sprang auf und warf sich Erich an den Hals.
»Ich erkläre Dir auf das Entschiedenste, ich reise nicht mit.«
Roland ließ die Hände sinken, Erich faßte sie und sagte:
»Sieh, ich könnte es ja umkehren, ich könnte ja auch sagen: »Thu Du's mir zu lieb und bleib hier; aber ich will es nicht. Komm und schau hell auf und denke Dir, wie es wäre, wenn wir Beide hier allein bleiben. Deine Eltern reisen ins Bad, wir erwarten sie hier und lernen etwas Ordentliches und sind heiterer als auf der Promenade unter der Kurmusik, heiterer als am Meeresstrande. Sieh, Roland, ich habe Frankreich, ich habe das Meer noch nie gesehen, ich versage mir's, der Pflicht zu lieb; und weißt Du, was Deine Pflicht ist?«
»Ach, die Pflicht kann ja auch mitreisen!« rief der Knabe und lachte unter Thränen. Auch Erich mußte lachen, aber er sagte:
»Diese Pflicht kann nicht mitreisen. Du hast Dein Lebenlang Zerstreuungen genug gehabt. Komm, sei mein lieber Kamerad. Was Du noch nicht einsiehst, vertraue mir, daß ich es einsehe.«
»Ja, ich vertraue Dir. Aber es ist so schön, Du kannst Dir's gar nicht denken und ich will Dir Alles zeigen.«
Ein Wirbelwind schien Roland erfaßt zu haben. Es stürmte auf ihn ein, daß er Erich gezwungen hatte, bei ihm zu bleiben, daß er den Vater gezwungen, ihm Erich zu geben, und jetzt sollte er ihn lassen! Aber dort lockten Freuden, lockte Musik, lockten lustige Fahrten, beschützende Frauen und neckische Mädchen, die mit ihm spielten. Der Knabe stand auf und wußte nicht, was er thun sollte.
Erich ging zum Vater und sagte ihm, daß er es für einen Verderb Rolands halte, wenn man jetzt, wo er sich freiwillig gebunden habe und auf gutem Wege sei, das Alles zerstöre. Er erklärte, daß, so weh es ihm auch thue, er das Haus verlassen müsse, wenn Roland mit ins Bad reise. Er habe das Roland nicht gesagt, da dieser nicht an die Lösbarkeit denken dürfe. Sonnenkamp fand einen Ausweg, er sagte Roland, er habe nur seine Standhaftigkeit prüfen wollen und freue sich, daß er die Prüfung bestanden habe; er habe gehofft, daß Roland den Vorschlag machen würde, mit Erich zurückzubleiben, und er bewillige ihm das.
Schon am andern Tage reisten die Eltern ab.
Erich und Roland fuhren mit bis zur Bahnstation, und als der ankommende Zug bereits signalisirt war, nahm Sonnenkamp seinen Sohn bei Seite und flüsterte:
»Junge, wenn Dir's zu schwer wird, spring noch in den Wagen und laß den Doctor allein. Glaube mir, er entläuft Dir nicht, es gibt eine goldene Pfeife, mit der lockt man Jeden. Sei muthig, Junge.«
»Vater, gehört das noch zur Prüfung, die Du mit mir anstellst?«
»Du bist ein tapferer Junge,« erwiderte Sonnenkamp betroffen und gerührt.
Der Bahnzug brauste heran. Eine große Zahl schwarzer, mit gelben Nägeln bedeckter Koffer wurde aufgeladen, Joseph und Lutz zeigten sich als gewandte Reisemarschälle. Schachteln, Flaschen, Rollen wurden in die erste Wagenclasse gelegt, wo Sonnenkamp, Frau Ceres und Fräulein Perini einstiegen. Noch einmal wurde Roland geküßt und Sonnenkamp sagte ihm dabei ganz leise etwas ins Ohr. Der Zug rollte davon; Erich und Roland standen allein auf dem Perron.
Lautlos fuhren sie zurück nach der Villa. Roland sah blaß aus, jeder Blutstropfen war aus dem Antlitz gewichen. Sie kamen auf der Villa an; Alles war so still und leer. Roland faßte die Hand Erichs und sagte:
»Nun sind wir Zwei allein auf der Welt.«