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Auf der Westseite des Klosters unter hohen, breitästigen und dicht belaubten Kastanienbäumen, Buchen und Linden und weiter hinein unter Tannen mit frischen Schossen standen festgerammte Tische und Bänke. Am Morgen saßen hier blau gekleidete Mädchen, lesend, schreibend, mit Handarbeiten beschäftigt. Manchmal war leises Summen, aber nicht lauter als das Summen der Bienen in den blühenden Kastanienbäumen, manchmal auch ein Hin- und Herhuschen, aber nicht mehr als das Aufflattern eines Vogels droben in den Zweigen.
Unter einer großen Tanne am Tische saß Manna und nicht weit von ihr unter einer schlanken, hochaufgeschossenen Buche, an deren Stamm viele Namen eingeschnitten waren und ein eingerahmtes Madonnenbild hing, auf einem Kniebänkchen ein kleines Kind; es sah manchmal zu Manna auf und sie nickte ihm zu mit dem Bedeuten, es möge fleißiger in seinem Buche lernen, sie müsse auch arbeiten. Das Kind wurde Heimchen genannt, da es so sehr an Heimweh gelitten hatte, und Heimchen war die Spielpuppe der ganzen Kinderschaar auf der Klosterinsel geworden. Manna hatte das Kind geheilt, wenigstens schien es so, denn am Tage nach Aufführung des heiligen Stückes hatte sie von einer Laienschwester, die der Gärtnerei vorstand, die Erlaubniß erhalten, für das Kind ein besonderes Gärtchen herrichten zu dürfen, und nun schien das Kind mit den Pflanzen, die es begoß und pflegte, sich in der Fremde einzuwurzeln; von Manna aber war es unzertrennlich.
Manna arbeitete eifrig; sie hatte vor sich auf dem Tische himmelblaues Tonpapier liegen, auf das sie aus kleinen Muscheln mit feinem Pinsel Sternbilder in Goldfarbe auftrug. Manna setzte einen besonderen Stolz darein, die saubersten Schreibhefte zu haben, jedes Blatt war mit feinen Linien eingerändert und mit größter Nettigkeit und in gleichmäßiger, nie zu hastiger und nie zu langsamer Schrift geschrieben. Sie hatte seit wenigen Tagen die höchste Ehre erhalten, die für einen Zögling zu erlangen ist, sie war einstimmig zum ruban bleu ernannt worden; die drei Classen der Kinder: enfants Jésus, anges und enfants de Marie hatten ihr diese Würde zuerkannt. Es war kaum eine Wahl gewesen, so selbstverständlich erschien es, daß Niemand als Manna zum blauen Bande bestimmt sein könne. Diese Auszeichnung machte sie gewissermaßen auch zu einer Art Oberin.
Während sie nun zeichnete und manchmal ihr Auge über die ihrer Aufsicht anheimgegebenen Kinder hingleiten ließ, hatte sie ein offenes Buch neben sich liegen: es war Thomas a Kempis. Im Auftragen der Sternbilder, die sie mit jener Zierlichkeit und Genauigkeit ausführte, wie solche vielleicht nur im Kloster möglich ist, haschte sie gewissermaßen Worte von Thomas a Kempis, um doch während dieses spielerischen Thuns einen höheren Gedanken in die Seele zu nehmen.
Da tönte Ruderschlag vom Ufer drüben; die Mädchen schauten auf und erblickten einen schönen jungen Mann, der im Kahne stand, den Hut hob und schwenkte, als grüßte er die Insel.
»Ist dies Dein Bruder? Dein Vetter?« lispelten die Mädchen unter einander.
Sie kannten den Fremden nicht. Manna, die Prancken alsbald erkannt hatte, blieb ruhig sitzen.
Der Kahn landete. Die Mädchen waren voll Neugier, aber sie durften die Arbeit nicht verlassen, denn Alles hatte seine gemessene Zeit. Glücklicherweise hatte ein großes hochblondes Mädchen die grüne Wolle aufgebraucht, sie durfte nach dem Kloster zurückkehren und winkte einverständlich den Anderen zu, sie werde schon erkunden, wer da gekommen sei. Aber noch ehe die Hochblonde zurückkam, erschien eine dienende Schwester und meldete Manna Sonnenkamp, sie möge ins Kloster kommen. Manna stand auf, Heimchen wollte mit ihr: sie befahl dem Kinde hier zu bleiben und es setzte sich still wieder auf das Kniebänkchen unter der Buche mit dem Madonnenbilde. Manna riß einen kleinen Zweig mit frischen Sommertrieben vom Baume, unter dem sie gesessen, und legte den Zweig als Zeichen in ihr Buch; dann übergab sie die blaue Schärpe, die sie über der rechten Schulter trug, einer Genossin und folgte mit dem Buche in der Hand der dienenden Schwester.
Unter den Zurückgebliebenen war ein Hin- und Herfragen: Wer ist das? Ist es ein Vetter? Die Sonnenkamps haben ja gar keine Verwandten in Europa. Vielleicht ein Vetter aus Amerika.
Die Kinder hatten keine Ruhe und in ihrer Beschäftigung schien kein rechter Trieb mehr zu sein. Die Genossin hielt es für Pflicht, strenge Aufsicht zu halten.
Manna kam nach dem Kloster. Als sie in das Empfangszimmer zur Oberin eintrat, stand Otto von Prancken rasch auf und verbeugte sich.
»Herr von Prancken,« sagte die Oberin, »bringt Dir Grüße von deinen Eltern und Fräulein Perini.«
Prancken näherte sich Manna und streckte ihr die Hand entgegen, sie aber hatte das Buch in der rechten Hand und gab ihm zögernd die Linke. Prancken, der Redefertige, brachte nur mit Stottern hervor – denn der Anblick Manna's hatte ihn verwirrt – wie sehr er sich freue, sie so wohl und erwachsen zu sehen, und wie glücklich die Eltern und Fräulein Perini sein würden, solches nun auch bald zu sehen. Der stotternde, von einer gepreßten Innigkeit bewegte Ausdruck Pranckens hörte nicht auf, auch während er länger fortsprach; denn inmitten der unwillkürlichen Ergriffenheit wurde er sich plötzlich bewußt, daß diese offenbare Herzbewegung von Manna nicht unbemerkt und bei ihr nicht ohne Eindruck bleibe. Er sprach im begonnenen Tone fort und freute sich selbst über seine Kunst, so den Blöden, Verzagten, Betroffenen zu spielen. Er erzählte manches Erfreuliche vom Elternhause und pries die Jungfrau glücklich, die auf einer seligen Insel leben dürfe, bis sie wieder auf den Continent zurückkehre, wo eine schöne Gemeinschaft von Freunden gleichsam auch einen gesellschaftlichen Continent bilde.
Manna sprach lange nicht, endlich sagte sie:
»Roland schreibt mir sehr begeistert von einem Hauptmann Dournay, der sein Hofmeister werden soll. Sie kennen ja den Mann, erzählen Sie mir von ihm.«
In Prancken zuckte etwas, aber er sagte lächelnd:
»Ich war so glücklich, den armen jungen Mann zu finden, der unserm Roland . . . Sie erlauben mir, ihn so zu nennen, denn ich liebe ihn wie einen Bruder . . . an Stelle des Herr Knopf Unterricht gebe. Die Prüfung seines Charakters und die Bestimmung seiner Annahme bleibt natürlich Sache Ihres Herrn Vaters, der ein größerer Menschenkenner ist, als ich.«
»Roland schrieb mir, daß er Ihr Freund sei.«
»Ich werde es nicht bestreiten, wenn Roland dadurch endlich mehr Respect vor einem Lehrer bekommt. Aber Ihnen darf ich's sagen, ich bin mit dem Worte Freund etwas karg.«
»Was ist es denn für ein Mann?« drängte Manna.
»Man hat ihm Veranlassung gegeben, den Dienst zu quittiren.«
»Doch nicht wegen ehrenrühriger Handlungen?« fiel die Oberin ein.
Prancken suchte sie zu beruhigen und die Oberin fuhr fort:
»Es thäte mir doppelt leid auch um seine Mutter, die eine Jugendgenossin von mir war; sie ist zwar protestantisch, aber doch das, was die Weltkinder gut und edel nennen.«
Prancken schien in Verlegenheit; aber mit einer Bewegung der Hand, die etwas mild Zudeckendes hatte, sagte er, zur Erde schauend, man könne Erich gerade nichts Besonderes vorwerfen, er gehöre nur zu jenen sogenannten starken Geistern, die keine Autorität im Himmel und auf Erden anerkennen.
Groß und streng wurde plötzlich das Angesicht Manna's da sie sagte:
»Aber ich begreife nicht, wie man einen Knaben, meinen Bruder, einem Manne übergibt, der . . .«
Prancken bat um Entschuldigung, daß er sie unterbreche; er erzählte, wie er sich von Mitleid mit dem verlassenen Kameraden und von Dankbarkeit für seinen Lehrer habe überraschen lassen, versprach indeß, dafür zu sorgen, daß Erich nicht in das Haus käme. Er zeigte ein so gutes Herz, so viel Menschenliebe, daß Manna ihm jetzt freiwillig die Hand reichte.
Die Oberin stand auf; sie glaubte, daß es Zeit sei, das Gespräch abzubrechen. Eine neue Begegnung mit Prancken hatte stattgefunden; das konnte einstweilen genügen. Die Oberin war in der That nicht so ausschließlich für das Kloster, daß sie dagegen gekämpft hätte, wenn es Prancken gelingen mochte, die Liebe Manna's zu gewinnen. Ein solches Haus und eine solche Familie, mit so ungeheuren Reichthümern ausgestattet, konnte dem Kloster und der Kirche überhaupt genugsam förderlich sein.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie uns besuchten,« sagte sie jetzt. »Bitte, bringen Sie auch Ihrer Schwester, Gräfin Bella, meinen Gruß und sagen Sie ihr, daß ich sie in mein Gebet einschließe.«
Prancken sah sich verabschiedet und doch hatte er noch keine Gewähr für die Erfüllung seines Wunsches. Ein Leuchten ging durch sein Gesicht, indem er plötzlich auf das Buch in der Hand Manna's deutend in demuthsvollem Tone sagte:
»Fräulein Manna! Wir irrenden Menschen draußen haben gern ein festes Zeichen in der Hand.«
»Was wünschen Sie?« fuhr die Oberin rasch und scharf dazwischen.
»Würdige Mutter,« wendete sich Prancken schnell mit bescheidenen Mienen nach der ernsten Frau, »ich wollte Sie bitten, daß Fräulein Sonnenkamp das Buch in meine Hand gebe.«
»Wunderbar!« rief Manna, »das wollte ich ja! Ich wollte es Ihnen ja geben, daß Sie es meinem Bruder bringen. Er soll hier einen festen und sichern Führer gewinnen, er soll jeden Tag von hier an, wo der grüne Zweig liegt, ein Capitel weiter lesen und so jeden Tag denselben Gedanken in die Seele nehmen wie ich.«
»Wie glücklich mich diese gleiche und im Moment zusammenstimmende Seelenregung macht! Ich wollte das für mich selber bitten,« sagte Prancken.
Die Oberin wußte sich nicht zu helfen und Prancken fuhr fort: »Ich bitte, Fräulein Manna, vergeben Sie meine Unbescheidenheit, geben Sie mir dies heilige Buch zu meiner Erbauung, daß auch ich gleichen Schritt mit den Geschwistern halte.«
»Aber mein Name steht in dem Buche,« sagte Manna erröthend.
»Um so besser,« wollte Prancken ausrufen, aber er konnte es glücklicherweise zurückhalten; er wendete sich zur Oberin, legte die Hände zusammen und stand, wie im Gebete sie anflehend. Auch Manna wendete sich, Bescheid erwartend, gegen die Oberin, die endlich sagte:
»Mein Kind, Du kannst Herrn von Prancken diese Bitte wohl gewähren; er wird Deinem Bruder ein anderes Exemplar geben. Und nun leben Sie wohl.«
Prancken empfing das Buch. Er verließ das Kloster. Als er im Kahne saß, sagte der Ferge zu ihm:
»Sie haben wohl eine Braut da drüben?«
Prancken antwortete nicht, aber er gab dem Fergen ein großes Stück Geld. Mit freudetrunkenem Herzen stürmte er das Ufer hinan und gab sofort ein Telegramm an seine Schwester auf.
Der Telegraphist war erstaunt, da der junge Mann mit dem weltmännischen Ansehen und dem bescheidenen Wesen, das aber doch eine vornehm geringschätzige Läßlichkeit gegen Bedienstete nicht verleugnen konnte, ein Telegramm in geheimnißvollen Worten aufgab. Das Telegramm lautete:
Gott gesegnet! Ein grüner Zweig von der Insel der Glückseligkeit. Neuer Stammbaum. Himmelsmanna. Unendlicher Besitz. Ein Geweihter. Neugeboren.
Otto v. Prancken.