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Zur Einführung

Die Dichtung des Rheinlands ist alt wie seine Kultur. Ich denke an das Rheinland im weitesten Sinne, das sich deckt mit der alten historischen Heerstraße und seinen Nachbargebieten, auf der die Kultur ihren Entdeckerweg mit Schwert und Kruzifix und Pergament gegangen ist und langsam diese gesegneten Gefilde für sich erschlossen hat. Und während im Osten und Norden noch die germanischen Ursitten durch die hohen Wälder gespensterten, wuchsen dem Laufe des Rheinstromes nach die Dörfer und Städte zu reicher Blüte auf und erlebten eine bunte und wechselvolle Geschichte. Fast ganz im Gegensatz zu späterer Zeit hat sich der erste Strom der Geistesbildung vom Rhein aus in die deutschen Gaue ergossen; der Kern der unschätzbaren Sagenzyklen, der alten Heldenlieder, der Legendenpoesie und des Minnesangs haben ihren Sitz und ihre Heimstätte oder ihren wahrscheinlichen oder mutmaßlichen Verfasser im Gebiete der Rheinlande. Es ist ein weiter Weg von Decimus Magnus Ausonius' Moselidyllen über Otfried und seine altdeutsche Messiade, Heinrich von Veldeke, den Dichter der Enëit, über den Kreuzritter und liebenswürdigen Minnesinger Friedrich von Husen bis in das verflossene Jahrhundert, das einsetzt mit den Romantikern, seinen Höhepunkt in der starken Dichterpersönlichkeit Heinrich Heines findet und nach einer Zeit des Niederganges, epigonenhafter Nachbeterei und markloser Gefühlspoesie in den Jungstrom der neuen Zeit einmündet, der geboren worden ist aus der elementaren Literatur-Revolution der achtziger Jahre.

Wenn man zurückblickt auf die Entwicklung der rheinischen Dichtung, so begegnet man in vielen Jahrhunderten nur verhältnismäßig vereinzelten Charakterköpfen, die scharf sich abheben aus dem nicht immer erfreulichen Rahmen ihrer Zeit; die Wesensart der kirchlichen und die Zerrissenheit der politischen Verhältnisse tragen die Schuld, daß es über der literarischen Produktion, wenn sie auch niemals erstorben war, doch oft in langen Zeiträumen wie Erschlaffung und Unempfänglichkeit gelegen hat. Ein behaglicher, selbstzufriedener, vorzugsweise dem materiellen Erwerb zugewandter Zug beherrschte den Rheinländer des ausklingenden Mittelalters und der späteren Jahrhunderte, dem – im allgemeinen – die Geisteskultur vergangener Geschlechter eben so wenig Herzenssache war wie der Trieb, die eigene und die seiner Zeit zu pflegen und zu erhöhen. Bis die Stürme der französischen Revolution in diese geistige Genügsamkeit hineinbliesen und die glatten Gewässer aufwirbelten, die Worte der Philosophen und der Klassiker an der Wende des Jahrhunderts auch an die Tore der Rheinlande pochten. Dann kam es, daß die Romantiker, zuerst Friedrich v. Schlegel, dann Achim v. Arnim und Clemens Brentano, den Rhein und seine landschaftlichen Schönheiten, die echte Rheinromantik gewissermaßen neu entdeckt und in die deutsche Literatur wieder eingeführt, und Heine, Uhland und ferner den angeknüpften romantischen Faden aufgenommen und fortgesponnen haben. Eine nationale Kraft und Farbe und Betonung hat die Rheinromantik durch die Sänger der Freiheitskriege und ihre Nachfolger erhalten – der vielumkämpfte Rhein wird zum verklärten Mittelpunkt des deutschen Nationalgefühls wie der See bei den Vierwaldstätten in der Schweiz – aber beide Aeste verflachen gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts: vorgetäuschte Empfindungen, verschwommene Bilder, eine Sprache ohne subjektive Eigenart kennzeichnen die Dichter dieser Periode, obgleich nicht übersehen werden soll, daß sich für das Rheinland interessante dichterische Persönlichkeiten, die aber doch im Gesamtstrom der deutschen Nationalliteratur zurückblieben, daraus hervorheben.

Dann kamen die Stürme der Jüngstdeutschen, rissen die Familienblatt-Literaturscheingötter von den Piedestalen, wollten, daß Leben, Erleben und Kunstschaffen einander durchdringen, daß das Unwahre aus der Dichtung ausgemerzt werde, daß neue, hohe Ziele und Ideale, für die sie selbst nicht immer Wort und Bild zu finden wußten, an die Stelle oberflächlicher Weltbetrachtung treten. Es war ein großes und lärmvolles Ringen, aus dem die Jugend, der immer die Welt gehört, als Sieger hervorging. Aber auch von dieser Jugend ist kaum mehr die Rede – neue Strömungen kamen und gingen, und wie der Naturalismus sind der Symbolismus und der Impressionismus, der Mystizismus und die Neuromantik aufgetaucht und rieseln, sobald der Modefluß versiegt war, in kleinen Bächlein in unseren Tagen mehr oder minder auffällig nebeneinander weiter, wir suchen die Richtung und den Stil der Zukunft und haben beide bisher nicht gefunden. Ob es gut wäre, wenn wir ihn finden würden in unserm nervös forttreibenden Zeitalter? Unsere Zeit, gekennzeichnet durch Erscheinungen einer fast unglaublichen Vielfältigkeit, aber auch der Schnellebigkeit und der Zucht nach dem Wechsel und der Veränderung hat nicht die Gabe und die Kraft, sich selbst zu durchleben und bleibt so ohne das Bewußtsein der Befriedigung im Besitze.

Wie hat sich nun das Rheinland zu dieser Literaturbewegung gestellt? Gerade wie damals, als das Zeitalter der klassischen Kunst mit seinem hellen Licht hereinbrach: ohne tiefere Teilnahme, abwartend und beobachtend. Aber dann ist das Neue, lebendige um so kräftiger aufgenommen worden; noch nie zuvor ist wie in jüngster Zeit aus dem Rheinland eine so große Zahl von Dichtern auf den Turnierplatz der deutschen Dichtkunst getreten, und in dem ritterlich-edlen Wettkampf hat rheinische Art und rheinisches Wesen wieder den guten Klang der ältesten Zeiten. Ich möchte dies weniger auf eine eindringliche Wirkung der sogenannten Heimatkunst zurückführen, weil dieses Wort, und was es umgrenzen soll, seine ursprüngliche hohe Bedeutung verloren hat, weil Aeußerlichkeit geworden ist, was aus dem heimatlichen Mutterboden erwachsen sich allgemeincharakteristisch erweitern lassen soll. Es ist tatsächlich ein neues literarisches Leben eingezogen, und zwar auch in den Teil, den ich enger als oben umspannen will und dem dieses Buch gewidmet ist: das Gebiet der heutigen preußischen Rheinprovinz von der hessischen bis zur holländischen Grenze. Ein Gebiet, das, weil es die Literaturgeschichte der letzten Jahrhunderte nicht übermäßig belastet hat, unterschätzt und nicht besonders geachtet ist. Den Nachweis zu führen, daß es Besseres gibt als feuchttrunkene Wein- und singfröhliche Mägdeleinlieder sowie eine flache Karnevalspoesie, war eine Aufgabe, die mich gereizt hat und die ich durchzuführen mich bemüht habe. Ein literarisches Sammelwerk, das nach Möglichkeit umfassend die Gesamtheit der rheinischen Dichter und ein getreues Bild ihres Schaffens in sich vereinigt, hat bisher noch nicht bestanden. Wohl sind mir einige ähnliche Anthologien bekannt, die aber ausschließlich das Gebiet der Lyrik und dazu entweder nur einen begrenzten Kreis der sogenannten modernen Lyrik berücksichtigen, oder aber durch die Einbeziehung von Westfalen fast den ganzen Westen der Monarchie umspannen. Sie können deshalb nur einem überaus eng gefaßten Begriff und einem jeweils nach einer bestimmten Richtung hinzielenden Teile der neuern rheinischen Literatur gerecht werden und weder einen erschöpfenden Ueberblick noch eine richtige Würdigung ihres Charakters, ihres Umfanges und ihrer Bedeutung gewähren. Denn schließlich gibt es neben der Lyrik noch einige andere Dichtungsarten, die eine mindestens ebenso rücksichtsvolle Behandlung verdienen, zum andern ist das auch in der Literatur historische Rheinland tatsächlich groß und reich genug, literarisch für sich allein zu stehen, und dann sind unter den Dichtern auch manche, die nach dem Sturm und Drang der neunziger Jahre ihre eignen stillen Wege gegangen sind, ohne sich einer bestimmten Richtung einzugliedern, und einen Anspruch erheben können, neben den Sonnen der Jüngeren mit dem zwar geliehenen, aber doch immer noch leuchtkräftigen Licht des Mondes über den literarischen Himmel zu ziehen.

Nach fast dreijähriger Arbeit, die mich mit allen rheinischen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt vertraut werden ließ, habe ich dies Werk geschlossen, das neben den geborenen Rheinländern in gleicher Weise die Dichter berücksichtigt, die wohl in anderen Provinzen und Staaten geboren, durch langjährigen Aufenthalt in den Rheinlanden aber zu Rheinländern geworden sind. Denn es liegt wohl auf der Hand, daß der eine, der als Kind vom Rheinstrom weg in eine andere Gegend verpflanzt worden ist und sich nord- oder süd- oder ostdeutsch entwickelt hat, im Verhältnis weniger von dem »Erdgeruch« und »Schollenduft« der rheinischen Heimat in seine Poesien trägt wie der andere, der vielleicht als Jüngling und gereifter Mann in das Rheinland verschlagen, allmählich mit tiefem Verständnis sich in die rheinische Eigenart und in den Reiz der rheinischen Landschaft hineingelebt hat und diese erlebten Eindrücke in seinen Dichtungen rheinisch widerklingen und widerspiegeln läßt. So bin ich bemüht gewesen, alle Dichter heranzuziehen, die alten wie die jungen, die Lyriker wie die Prosaisten und die Dramatiker, aus der neuromantischen wie aus der realistischen Schule, Epigonen wie Moderne und Dekadente, Vertreter der sogenannten katholischen Literatur, Bekannte und Unbekannte, mundartliche Lyrik wie auch charakteristische Uebersetzungsproben, aber alles unter dem Gesichtswinkel einer strengen künstlerischen Auswahl. Daß nicht alles in gleicher Weise typische Höhenkunst sein kann, ist bei der großen Verschiedenheit der Mitarbeiter nur zu verständlich, aber ein solches Sammelwerk soll eben auch kleinen begabten Talenten einen vorläufig bescheidenen Platz einräumen, erst die Zeit wird es lehren, ob gelungenen Versuchen literarische Taten folgen.

Manchen hätte ich seiner Bedeutung und Eigenart entsprechend wohl noch vielseitiger und auch besser vertreten gesehen, aber mir waren häufig Grenzen meiner Wünsche dadurch gesetzt, daß ich selbst auf wiederholte Bitte nicht mehr und nichts Besseres erhalten konnte. Auch hatte ich ursprünglich den Gedanken, gerade die einzelnen Bezirke, das bergische Land, das Wuppertal, die Eifel, den Hunsrück, das Sauerland und das Oberland noch schärfer, als es geschehen, hervortreten zu lassen, mußte aber darauf verzichten, um nicht durch minderwertige Lokalpoesie den künstlerischen Charakter des Ganzen zu gefährden. Mit Recht sagt Theodor Herold in seinen »Streifzügen durch die rheinische Dichtung der Gegenwart« (Kölnische Zeitung 1906 Nr. 1015), nachdem er die Ernte aus den neuen Gedichtbüchern als reicher denn in den meisten übrigen Landesteilen bezeichnet hat: »Mit dem Begriff Rheinische Lyrik pflegt man unwillkürlich bestimmte poetische Vorstellungen zu verbinden. Wir denken an unsern Rhein mit seinen Rebenhügeln, an die sagenumsponnenen Berge mit ihren Ritterburgen und Ruinen, an stolze Männer und schöne Frauen, an Pfalzen, Kirchen, Kapellen und an die Stadt mit dem ewigen Dom; und wie von selbst spannt sich über dieses Wunderland mit seinem frohen geschäftigen Treiben ein klarblauer, heiterer Sonnenhimmel voll Glockenklang und Liebesliedern. Wer aber die jüngsten Gedichtsammlungen nach solchen echten, warmen Stimmungsbildern durchblättert, wird sie enttäuscht aus der Hand legen. Nur in den epischen Sängen und in einzelnen Gedichten klingt dieser Ton an; doch schwingt er nicht eigen und kräftig genug, um reine, volle Wirkungen zu erzielen. Es scheint fast, als wollten unsere modernen rheinischen Lyriker dieses fruchtbare Gebiet absichtlich brach liegen lassen. Das wäre allerdings sehr zu beklagen. Aber soviel ist jedenfalls gewiß, es gehört eine starke, bodenwüchsige Künstlerpersönlichkeit und ein gewisser Mut dazu, Motive und Stoffe, die jahrhundertelang, und zwar nicht bloß von rheinischen Dichtern, bearbeitet worden sind, wieder aufzugreifen und in neue fesselnde Formgebilde voll Leben und Wärme umzuprägen ... Der Heimatcharakter, die landschaftliche Färbung, das Bodenständige, der echte Schollengeruch, fehlt im Grunde genommen sämtlichen Gedichtbüchern; sie könnten gerade so gut aus Sachsen, Ostpreußen oder Mecklenburg stammen. Man braucht durchaus kein Verfechter der sogenannten Heimatkunst zu sein, um diese Tatsache einigermaßen bedauerlich zu finden. Aber die Gedichtsammlungen der andern Gaue tragen fast ebensowenig den Stempel landschaftlicher Sonderart. Es geht eben durch die gesamte moderne Lyrik der letzten fünfundzwanzig Jahre ein gewisser internationaler Zug, der das Vaterländische in Natur, Geschichte und Leben zugunsten der eigenen Persönlichkeit bewußt in den Hintergrund drängt. Der Dichter möchte sich zunächst rein als Mensch und Individuum durchsetzen, er will die Welt in seinem Innern, das Labyrinth der Brust bis in seine dunkelsten Untiefen und Schlupfwinkel durchforschen und dieses Neuland der Seele künstlerisch ausbeuten und gestalten. Mit andern Worten: der Persönlichkeitskultus beherrscht unsern modernen Lyriker in so gesteigertem Maße, daß alle übrigen Stoffgebiete fast ihren Reiz für ihn verloren haben. Aber es sind schon deutliche Anzeichen vorhanden, daß wir uns auch hier in einem Uebergangsstadium befinden.«

Ich kann dies nur durch meine Wahrnehmungen bestätigen. Ein Aufblühen zeigt sich vorzugsweise auf dem Gebiete der Ballade, der novellistischen Skizze und des Romans. Wo ich aber diese landschaftlichen Farben gefunden, da habe ich sie sorgsam gesammelt. Und so hoffe ich, daß in all der Menge von dichterischen Charakterköpfen, denen ich in ihrer Wesensart gerecht werden wollte, doch der Grundzug des Buches rheinisch geblieben ist.

Dann fehlen noch einige im literarischen Reigen, aber ihre Zahl ist verschwindend klein, das sind diejenigen, die sich aus nicht immer leicht begreiflichen Gründen ablehnend verhalten haben, trotz meiner und der Verleger redlichen Bemühungen. Ich habe aber in dieser Beziehung einen guten und starken Glauben auf die Zukunft.

Andererseits ist es eine Pflicht der Dankbarkeit, der rückhaltlosen und warmherzigen Unterstützung und Ermunterung gerade der besten der rheinischen Dichter zu gedenken, die mir die Arbeit wesentlich erleichtert haben. Gerade sie waren darin einig, wenn sie sich auch manchmal nicht als Freunde von Anthologien bekannten, daß eine solche Sammlung, die einen bestimmten landschaftlichen Kreis umschließt, und gerade den des bisher sehr stark vernachlässigten Rheinlands, »nicht nur von Berechtigung, sondern auch von innerer Notwendigkeit getragen« sei.

Köln, im Juni 1909.

Dettmar Heinrich Sarnetzki.

 


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