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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (16)

Wer vermag fröhlicher zu sein als ein Kranker? nichts zwingt ihn, sich dem Lebenskampf zu stellen, es steht ihm sogar frei zu sterben. Er ist nicht gezwungen, aus den Ereignissen, die der Tag ihm zuträgt, induktive Schlüsse zu ziehen, um danach sein Verhalten einzurichten, er darf in sein eigenes Denken eingesponnen bleiben, – eingesponnen in die Autonomie seines Wissens, darf er deduktiv, darf er theologisch denken. Wer vermag fröhlicher zu sein als der, der seinen Glauben denken darf! Manchmal gehe ich allein aus. Ich gehe langsam, die Hände in den Taschen, und schaue in die Gesichter der Passanten. Es sind endliche Gesichter, – doch häufig, ja eigentlich immer gelingt es mir, das Unendliche dahinter zu entdecken. Das sind gewissermaßen meine induktiven Eskapaden. Daß ich bei diesen Streifzügen, die mich übrigens nicht sehr weit führen – bloß einmal gelangte ich bis nach Schöneberg, wurde aber sehr müde davon –, niemals Marie getroffen habe, daß unter den Gesichtern niemals das ihre auftauchte, daß sie mir so völlig entschwunden ist, das enttäuscht mich kaum, denn sie war immer darauf gefaßt gewesen, auf auswärtige Mission geschickt zu werden, und das war wohl geschehen. Nun, ich bin auch fröhlich ohne sie.

Die Tage waren kurz geworden. Und da der elektrische Strom kostspielig ist und ein in die eigene Autonomie eingesponnener Mensch ohne weiteres dieses Lichtes entraten kann, habe ich lange Nächte. Nuchem sitzt dann oft bei mir. Sitzt in der Dunkelheit und spricht wenig. Er denkt wohl an Marie, doch nie hat er ihrer Erwähnung getan.

Einmal sagte er: »Jetzt wird aufhören der Krieg.«

»So«, sagte ich.

»Jetzt wird sein Revolution«, sagte er weiter.

Ich hatte eine Hoffnung, ihn zu packen: »Da wird die Religion abgeschafft.«

Ich hörte ihn in der Dunkelheit lautlos lachen: »Steht das in Ihre Bücher?«

»Hegel sagt: es ist die unendliche Liebe, daß Gott sich mit dem ihm Fremden identisch gesetzt hat, um es zu töten. Das sagt Hegel … und dann wird die absolute Religion kommen.«

Wieder lachte er, ein leichter Schatten in der Dunkelheit: »Das Gesetz bleibt«, sagte er.

Seine Hartnäckigkeit war unerschütterlich; ich sagte: »Ja, ja, ich weiß, Sie sind der ewige Jude.«

Er sagte leise: »Jetzt werden' wir gehen nach Jerusalem.«

Ich hatte ohnehin schon zu viel gesprochen und ließ es dabei bewenden.

 


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