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Daß Herr August Esch seine Arbeit in der Redaktion auf solch grimmig unduldsame Art betrieb und daß er sich auf diesem Platze so besonders unwohl fühlte, mag weitgehend darauf zurückzuführen sein, daß er zeit seines Lebens einen buchhalterischen Beruf ausgeübt hatte, viele Jahre hindurch sogar als Oberbuchhalter eines großen Industrieunternehmens in seiner luxemburgischen Heimat, ehe er – man war schon mitten im Kriege – infolge einer unvorhergesehenen Erbschaft in den Besitz des »Kurtrierschen Boten« und des dazugehörigen Anwesens gelangte.

Denn ein Buchhalter, und gar ein Oberbuchhalter, ist ein Mensch, der innerhalb eigener und außerordentlich präziser Ordnungen lebt, Ordnungen, die so präzis sind, daß sie ihm von keiner andern Betätigung je wieder geboten werden können. Gestützt und gefestigt durch solche Ordnungen ist er gewohnt, in einer machtvollen und dennoch demütigen Welt zu leben, in der jedes Ding seinen Platz hat, in der er selber sich stets wiederfindet und sein Blick unbeirrbar und unverloren bleibt. Er wendet die Seiten des Hauptbuchs und vergleicht sie mit denen des Journals und des Saldokontos; lückenlose Brücken führen hinüber und herüber, sichern das Leben und das Tagewerk. Des Morgens bringt der Diener oder ein kleines Fräulein aus dem Korrespondenzbüro die Buchungsbelege, und der Oberbuchhalter paraphiert sie, damit sie sodann von den jungen Leuten in die Strazza eingetragen werden. Ist dies getan, kann der Oberbuchhalter über die schwierigeren Fälle in Ruhe nachdenken, gibt seine Weisungen, läßt nachschlagen. Wenn er dann im Geiste einen schwierigen Buchungsfall geordnet und geregelt hat, spannen und überspannen sich ihm neue und gesicherte Brücken von Kontinent zu Kontinent, und dieses Gewirr von gesicherten Beziehungen zwischen Konto und Konto, dieses unentwirrbare und für ihn doch so deutliche Netz, in dem kein Knoten fehlt, symbolisiert sich schließlich in einer einzigen Zahl, die er jetzt schon voraussieht, mag sie auch erst nach Monaten in die Bilanz eingehen. Oh, süße Aufregung der Bilanz, gleichgültig ob sie Gewinn bringt oder Verlust, denn dem Buchhalter bringt jedes Geschäft Gewinn und Zufriedenheit. Schon die monatlichen Rohbilanzen sind Siege der Kraft und Gewandtheit und sind dennoch nichts gegen die großen Buchabschlüsse am Halbjahrsende: in diesen Tagen ist er der Führer des Schiffes und seine Hand verläßt nicht das Steuerrad; die jungen Leute der Abteilung sind gleich Ruderknechten an ihren Plätzen, und man achtet nicht der Mittagspause und des Schlafs, bis alle die Konti abgeschlossen sind; doch die Aufstellung des Gewinn- und Verlustkontos und des Bilanzkontos behält er sich selbst vor, und wenn er den Saldo eingesetzt und den schrägen Abschlußstrich gezogen hat, dann besiegelt er die Arbeit mit seiner Unterschrift. Wehe aber, wenn die Bilanz um einen Pfennig nicht stimmt. Neue, doch bittere Lust. Begleitet vom ersten Hilfsbuchhalter geht er mit den Augen des Detektivs die verdächtigen Konti durch, und wenn es nichts nützt, werden unnachsichtig alle Buchungen des Halbjahres neuerdings überrechnet. Und wehe dem jungen Mann, in dessen Arbeit der Fehler entdeckt wird, – ihn trifft Grimm und kalte Verachtung, ja Entlassung. Findet man indes, daß der Fehler nicht der Buchhaltung unterlaufen ist, sondern bei der Aufnahme der Inventuren in den Magazinen, so zuckt der Oberbuchhalter bloß die Achsel und hat ein bedauerndes oder sarkastisches Lächeln auf den Lippen, denn die Aufnahme der Inventuren liegt außerhalb seines Machtbereichs, und überdies weiß er, daß in den Magazinen wie im Leben niemals jene Ordnung erreichbar sein wird, die er in seinen Büchern hält. Mit einer wegwerfenden Geste der Hand geht er in sein Büro zurück, und wenn dann die Tage ruhiger werden, dann geschieht es nicht selten, daß der Oberbuchhalter auf gut Glück einen der Folianten aufschlägt, mit raschem Daumen die Seite glättet und die Kolonne der Ziffern zur Probe summiert, sich seiner Fertigkeit freuend, die es erlaubt, bei aller Sicherheit der ölig laufenden Rechnung die Gedanken fernab schweifen zu lassen und die Überraschung zu genießen, die man erwartet und die trotzdem entzückt, wenn das Wunder der Rechnung wie ein sicherer Fels in der Welt des Unbestimmten noch immer besteht. Und es geschieht dann auch, daß ihm die Hand vom Buche herabgleitet, daß Wehmut sein Herz beschleicht und er über die neuen Systeme nachsinnt, die einzuführen zur Pflicht des modernen Buchhalters gehört, und wenn er dabei bedenkt, daß die neuen Systeme statt der gewichtigen und großen Bücher nüchterne Karten benutzen und die persönliche Kunst durch Rechenmaschinen ersetzen, so ist er voller Gram.

Außerhalb ihres Berufes sind die Buchhalter reizbar. Denn die Grenze zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit ist nirgends deutlich zu erkennen, und wer in einer Welt geschlossener Bindungen lebt, gestattet nicht, daß es irgendwo eine andere Welt gäbe, deren Bindungen für ihn unverständlich und undurchschaubar sind: wer aus seiner festgefügten Welt heraustritt oder aus ihr herausgerissen wird, ist unduldsam, er wird zum asketischen und leidenschaftlichen Eiferer, ja, er wird zum Rebellen. Der Schatten des Todes hat sich auf ihn herabgesenkt, und der einstige Buchhalter – ist er bejahrt genug – taugt eigentlich nur mehr für den kleinen Alltag des Pensionisten, der, verschlossen gegen alles Außen und alle Zufälligkeiten, sich darauf beschränkt, den Rasen seines Gartens zu sprengen und die Obstbäume zu hegen; ist er aber noch rüstig und arbeitsam, so wird sein Leben zum aufreibenden Kampfe gegen eine Wirklichkeit, die für ihn Unwirklichkeit ist. Nun gar, wenn ihn Schicksal oder Erbschaft auf einen so exponierten Posten wie den eines Zeitungsherausgebers geführt hat, und mag es auch nur ein kleines Provinzblatt sein, dem er vorstehen soll. Denn es gibt wohl keinen Beruf, der so sehr von den Unberechenbarkeiten und den Unsicherheiten des Weltenlaufs abhängig ist wie der eines Schriftleiters, insonders zu Kriegszeiten, in welchen Nachricht und Gegennachricht, Hoffnung und Verzweiflung, Mut und Elend so nahe beieinander stehen, daß eine ordnungsmäßige Eintragung in die Bücher zur baren Unmöglichkeit wird: nur mit Hilfe von Zensurstellen kann statuiert werden, was als wahr zu gelten hat und was unwahr bleiben muß, und ein jedes Volk lebt in seiner eigenen patriotischen Wirklichkeit. Hier ist ein Buchhalter schlecht am Platze, denn leicht ist er geneigt zu schreiben, daß unsere wackeren Truppen, gewärtig des Befehls zu weiterem Vormarsch, sich noch am linken Marneufer befinden, während in Wirklichkeit die Franzosen ihrerseits schon längst auf das rechte Ufer vorgestoßen sind. Und wenn der Zensor solche Unwahrheiten rügt, so wird der Buchhalter, vor allem wenn er ein Mensch impetuoser Haltungen ist, unweigerlich zornig werden und wird nachweisen, daß der Generalquartiermeister zwar die Errichtung des Brückenkopfes am linken Ufer gemeldet hatte, daß aber von der Zurücknahme der Truppen niemals die Rede gewesen war. Dies ist bloß ein Beispiel unter vielen, man könnte wohl sagen, unter Hunderten, und an ihnen läßt sich immer wieder zeigen, wie unmöglich es ist, die Eintragungen in die Annalen der Geschichte mit jener Genauigkeit vorzunehmen, die für die Eintragung von Geschäftsvorfällen als erste und unbedingte Vorschrift gilt, und wie durch die Unkorrektheit des unübersichtlich gewordenen Krieges eine Rebellion genährt wird, zu der ein akriber und korrekter Mensch sogar schon im Frieden manchen Anlaß gefunden hätte, die aber hier zum notwendigen und unausweichlichen Kampf zwischen der Behörde und der Gerechtigkeit werden muß, zum Kampf zwischen zwei Unwirklichkeiten, zwischen zwei Vergewaltigungen, zu einem Kampf, der immer bestehen muß, vergleichbar dem Kreuzzug Don Quichottens gegen eine Welt, die sich den Forderungen des ordnungsetzenden Geistes nicht fügen will. Immer wird der Buchhalter für das Gerechte streiten, er wird um einen Pfennig durch alle Instanzen Prozeß führen, wenn solche Forderung in seinen Büchern steht, und ohne eigentlich ein guter Mensch zu sein, wird er sich zum Anwalt des gebeugten Rechtes aufschwingen, sobald er das Unrecht und die Gesetzwidrigkeit erkannt und registriert hat, unnachgiebig und zornig wird er auf seinem Platze stehen, ein hagerer Ritter, der mit seiner eingelegten Lanze Angriff um Angriff reiten muß zu Ehren der Rechnung, die in der Welt glatt aufgehen soll.

Solchermaßen war die Redaktionsarbeit des Herrn Esch keineswegs so einfach, wie man etwa meinen mochte. Gewiß wurde dem zweimal wöchentlich erscheinenden Blatt alles Material von einer Kölner Nachrichten- und Feuilletonkorrespondenz geliefert, und der Schriftleiter hatte eigentlich nichts anderes zu tun, als unter den brennenden Tagesnachrichten die brennendsten herauszusuchen, brauchte bloß unter den schöngeistigen Romanen und Artikeln die schönsten auszuwählen, und höchstens die Lokalberichte, die überdies zum Großteil aus »Eingesendet« bestanden, hatte er selber zu versorgen. Aber wenn sich dies auch sehr einfach anließ und es im Grunde auch sehr einfach war, insolange Esch sich auf die Führung der Buchhaltung beschränkte, die er dem »Kurtrierschen Boten« (allerdings nicht in amerikanischer sondern in der bescheideneren italienischen Manier) neu eingerichtet hatte, es stellten sich alle Komplikationen ein, als der bisherige Schriftleiter zu den Waffen gerufen wurde und Herr Esch durch seinen natürlichen und buchhalterischen Sparsinn sowie durch die schwieriger gewordenen Verhältnisse dazu getrieben wurde, die Redaktion des Blattes selber in die Hand zu nehmen. Da begann der Kampf! es begann der Kampf um die akribe Evidenz der Welt und gegen die falschen und gefälschten Buchungsbelege, die man den Menschen reichen wollte, es begann der Kampf gegen die Behörden, die es nicht duldeten, daß der »Kurtriersche Bote« von den Mißständen im Felde und im Hinterland, von Matrosenaufständen und von Unruhen in den Munitionsfabriken die Öffentlichkeit benachrichtige, ja, sogar von den Vorschlägen des Blattes zur wirksamen Bekämpfung solcher Übel wollte man nichts hören; vielmehr fand man es verdächtig – obzwar bloß ein Übelwollender es verdächtig finden konnte –, daß Herr Esch derartige Nachrichten zugetragen bekam, und es wurde bereits erwogen, ihm als ausländischem Staatsbürger (Luxemburger) die Ausübung seiner redaktionellen Tätigkeit zu untersagen; er wurde mehrmals verwarnt, und der Verkehr mit der Zensurstelle in Trier gestaltete sich von Woche zu Woche unangenehmer. Kein Wunder also, daß Herr Esch, selber mit der Welt im Streite, Brüderlichkeit zu der gedemütigten und getretenen Menschenkreatur zu empfinden begann und ein Oppositioneller und ein Rebell wurde. Aber er gestand es sich nicht ein.

 


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