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85

»Keiner sieht den andern im Dunkeln.«
Ereignisse des 3., 4. und 5. November 1918

Was Huguenau vorausgesagt hatte, ging tatsächlich in Erfüllung: man erlebte etwas, und zwar am 3. und 4. November.

Am Morgen des 2. November fand eine kleine Demonstration der Arbeiter aus der Papierfabrik statt. Man zog, wie stets bei solchen Anlässen, vor das Rathaus, doch diesmal wurden, eigentlich ohne besonderen Grund, die Fenster eingeworfen. Der Major ließ die Halbkompagnie, die ihm noch zur Verfügung stand, aufziehen, und die Demonstranten zerstreuten sich. Trotzdem war es bloß eine scheinbare Ruhe. Die Stadt war voller Gerüchte; der Zusammenbruch der Front war bekannt, von Waffenstillstandsverhandlungen hingegen war nichts zu erfahren, schreckliche Dinge lagen in der Luft.

So verging der Tag. Abends sah man im Westen rötlichen Schein, und es hieß, Trier brenne an allen vier Enden. Huguenau, der nun bedauerte, daß er die Zeitung nicht schon längst an die Kommunisten verkauft hatte, wollte eine Separatausgabe drucken lassen, doch die beiden Arbeiter waren unauffindbar. In der Nacht gab es eine Schießerei in der Nähe der Strafanstalt. Man munkelte, daß es ein Zeichen gewesen wäre, um die Gefangenen zum Ausbruch zu bewegen. Späterhin wurde verlautbart, daß ein Gefangenenwärter infolge eines Mißverständnisses Alarmschüsse abgegeben hätte; aber niemand glaubte daran.

Kalt, neblig, winterlich war inzwischen der Morgen angebrochen. Bereits um sieben Uhr versammelte sich der Magistrat in dem ungeheizten, kaum beleuchteten, getäfelten Sitzungssaale; allgemein war die Bewaffnung der Bürgerschaft gefordert worden, – auf den laut gewordenen Einwand, daß dies als aufreizende Maßnahme gegen die Arbeiter ausgelegt werden könnte, wurde die Errichtung einer Schutzgarde beschlossen, welcher sowohl Bürger als Arbeiter angehören sollten. Es gab einige Schwierigkeiten mit dem Stadtkommandanten wegen Beistellung von Gewehren aus den Beständen des Munitionsmagazins, aber schließlich – beinahe über den Kopf des Majors hinweg wurden die Waffen geholt. Natürlich war zu einer regelrechten Werbung keine Zeit mehr, und so wurde bloß ein unter dem Vorsitz des Bürgermeisters zusammentretendes Komitee gewählt, dem die Waffenverteilung obliegen sollte. Noch am Vormittag wurden Gewehre an alle jene ausgegeben, die sich als ortsansässig und waffenkundig legitimierten, und als es so weit war, konnte der Stadtkommandant das Zusammenwirken von Militär und Schutzgarde nicht mehr ablehnen; die Ausstellung der Posten geschah bereits von der Kommandantur aus.

Esch und Huguenau hatten sich selbstverständlich gemeldet. Esch, – vor allem bestrebt, in der Nähe des Majors zu bleiben, – ersuchte um Verwendung innerhalb der Stadt. Er wurde für den Nachtdienst bestimmt, während Huguenau nachmittags an der Brücke zu wachen hatte.

 

Huguenau saß auf der Steinbalustrade der Brücke und fror im Novembernebel. Sein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett lehnte neben ihm. Zwischen den Steinen der Balustrade wuchs Gras, und Huguenau beschäftigte sich damit, es auszurupfen. Auch uralte Mörtelstückchen konnte man zwischen den Steinen herauslösen und sie dann ins Wasser fallen lassen. Er langweilte sich reichlich und fand die ganze Angelegenheit sinnlos. Der aufgeklappte Kragen seines kürzlich gekauften Wintermantels scheuerte rauh an Hals und Kinn und gab keine Wärme. Aus Langeweile verrichtete er seine Notdurft, aber auch das ging vorbei, und er saß wieder da. Sinnlos war es, hier zu sitzen, mit der dummen grünen Binde am Ärmel, und außerdem kalt. Und er überlegte, ob er nicht ins Bordell rübergehen sollte, – schon weil dem Major die Schließung gar nichts genützt hatte; jetzt nannte sich's eben Geheimbetrieb.

Wie er sich gerade ausmalt, daß die Alte im Puff geheizt haben dürfte und daß es dort schön warm sein würde, steht Marguerite vor ihm. Huguenau war erfreut: »Tiens«, sagte er, »was treibst du hier … ich dachte, du wärst verreist … was hast du denn mit meiner Mark angefangen?«

Marguerite antwortete nichts.

Huguenau möchte lieber ins Bordell: »Ich kann dich nicht brauchen … du bist noch nicht vierzehn … schau, daß du heimkommst.«

Nichtsdestoweniger nimmt er sie auf den Schoß; es ist wärmer so. Nach einer Weile fragt er: »Hast du dir die warmen Hosen angezogen?« Als sie's bejahte, war er befriedigt. Sie saßen eng aneinander geschmiegt. Die Rathausuhr tönte durch den Nebel herüber; fünf Uhr, und wie dunkel es schon ist.

»Kurze Tage«, sagte Huguenau, »ein Jahr schon wieder herum.«

Eine zweite Uhr folgte mit vier und fünf Schlägen. Er wurde immer trauriger. Wozu dies alles? was hatte er hier zu tun? dort jenseits der Felder lag Eschs Anwesen, und Huguenau spuckte in weitem Bogen nach der entsprechenden Richtung. Aber da überkam ihn jäher Schreck: er hatte die Tür zur Druckerei offenstehen lassen, und wenn es heute zu Plünderungen kommt, so werden sie ihm seine Maschinen zerschlagen.

»Runter«, sagte er grob zu Marguerite, und als sie zögerte, versetzte er ihr eine Ohrfeige. Hastig durchsuchte er seine Taschen nach dem Druckereischlüssel. Sollte er selber nach Hause oder sollte er Marguerite mit dem Schlüssel zur Eschin schicken?

Schon war er nahe daran, die Pflicht im Stiche zu lassen und sich nach Hause zu begeben, da fuhr er zusammen, denn das war nun wirklich ein Schreck, der durch Mark und Bein ging: am Waldrand droben leuchtete es grell auf und im nächsten Augenblick erfolgte eine fürchterliche Detonation. Er erfaßte gerade noch, daß es in der Kaserne der Minenwerferkompagnie war, daß irgendein Dummkopf Munitionsreste zur Explosion gebracht haben mußte, hatte sich aber auch schon instinktmäßig zu Boden geworfen und war klug genug, liegen zu bleiben, um weitere Explosionen abzuwarten. Richtig folgten in kurzem Abstand noch zwei heftige Detonationen, und dann ging der Lärm in vereinzeltes Geknatter über.

Huguenau lugte vorsichtig über die Steinbalustrade, sah die Ruinenmauern der Magazinschuppen von innen her rot und schwelend erleuchtet und das Dach der Kaserne brennen. »Also, es geht los«, sagte er sich, stand auf, putzte seinen neuen Wintermantel ab. Dann blickte er sich nach Marguerite um, pfiff ihr einige Male, aber die war davongerannt, – hoffentlich nach Hause. Er hatte wenig Zeit, sich zu besinnen, denn da kam auch schon ein Trupp Menschen von der Kaserne heruntergelaufen, Stöcke, Steine und sogar Gewehre in den Händen. Und zu Huguenaus Verwunderung lief Marguerite daneben her.

Es ging auf das Gefangenenhaus los, das war klar. Huguenau hatte es im Nu kapiert, und er fühlte sich wie ein Generalstabschef, dessen Befehle auf die Sekunde genau ausgeführt werden. »Brave Leute«, sagte etwas in ihm und fand es natürlich, daß er sich ihnen anschloß.

Im Sturmschritt und johlend langten sie bei der Anstalt an. Das Tor war geschlossen. Ein Steinhagel prasselte dagegen, und dann wurde der direkte Angriff geführt. Huguenau schmetterte den ersten Kolbenschlag gegen die Bohlen. Einer hatte sich ein Brecheisen verschafft, man mußte nicht lange arbeiten, die Bresche war bald gelegt, das Tor sprang auf und die Menge flutete in den Hof. Er war menschenleer, das Personal hatte sich irgendwo versteckt; nun, man wird sie schon ausräuchern, die Burschen, – aber aus den Zellen tönte wilder Gesang: »Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!«

 

Als die erste Detonation erfolgte, befand sich Esch in der Küche. Mit einem Satz war er beim Fenster, prallte aber zurück, als ihm bei der zweiten Explosion das gelockerte Fenster samt Rahmen entgegensauste. War's ein Fliegerangriff? Die Frau lag zwischen den Scherben auf den Knien und ratschte das Vaterunser. Eine Sekunde lang staunte er mit offenem Mund: sie hatte ihr ganzes Leben lang nicht gebetet! dann riß er sie empor: »In den Keller, Flieger.« Indes schon von der Stiege aus sah er den Brand des Munitionsmagazins, hörte das von dort kommende Geknatter. Also es ging los. Und sein nächster Gedanke war: »Der Major!« Die winselnde Frau – noch klang ihr Jammern ihm nach, er möge sie nicht verlassen – ins Zimmer zurückstoßen, das Gewehr nehmen und die Stiege hinunterstürzen, war das Werk eines Augenblicks.

Die Straße war voll schreiender Menschen. Vom Marktplatz tönte ein Trompetensignal. Esch keuchte die Straße hinauf. Hinter ihm wurden im Laufschritt ein paar angeschirrte Pferde gebracht; er wußte, daß sie für die Feuerwehr bestimmt waren, und es tat ihm wohl, daß ein Stück Ordnung noch intakt geblieben war. Die Spritze stand schon auf dem Marktplatz, man hatte sie herausgezogen, aber es fehlte an Mannschaften. Der Hornist war auf den Bock gestiegen, ließ immer wieder den Sammelruf ertönen, vorderhand waren erst sechs Mann vorhanden. Von der andern Seite des Platzes kam die Kompagnie herangelaufen, und der Hauptmann war so besonnen, sie in den Dienst der Feuerwehr zu stellen; sie ratterte mit der Spritze davon.

Im Rathaus waren alle Türen offen. Kein Mensch zu finden; die Kommandantur leer. Es war eine Erleichterung für Esch; also würden sie den Alten wenigstens hier nicht gleich finden. Aber wo war er? Als Esch heraustrat, kam ihm endlich ein Soldat in den Weg. Esch rief ihn an, ob er den Kommandanten gesehen hätte. Ja, der habe zuletzt die Schutzgarde alarmieren lassen und sei entweder bei der Kaserne oder bei der Strafanstalt … die sei angeblich gestürmt worden.

Also zur Strafanstalt! Esch setzte sich in schweren ungelenken Trab.

 

Während die Menge in die Gefängnisgebäude eindrang, war Huguenau im Hofe stehen geblieben. Es war ein Erfolg, zweifelsohne, es war ein Erfolg, – Huguenau zog die ironische Miene, die ihm jetzt schon ganz gut gelang. Der Major würde sich nicht übel wundern, wenn er ihn hier sähe, und Esch dito. Kein Zweifel, es war ein ausgezeichnet prachtvoller Erfolg; nichtsdestoweniger war es Huguenau unbehaglich zumute, was nun? er betrachtete den Hof, die brennende Kaserne gab ein schönes Licht, aber so was unerhört Besonderes war's schließlich nicht, er hatte sich den Hof nie anders vorgestellt. Und von der Bande hier hatte er auch schon genug.

Plötzlich gellende Schreie! Sie hatten einen Wärter aufgespürt und zerrten ihn auf den Hof heraus. Als Huguenau hinkam, lag der Mann wie gekreuzigt auf der Erde, bloß das eine Bein stieß krampfhaft hochgereckt und rhythmisch in die Luft. Zwei Weiber hatten sich über ihn geworfen, und auf der einen Hand stand mit genagelter Sohle der Kerl mit der Brechstange und ließ das Eisen auf die Knochen des Gemarterten sausen. Huguenau spürte, daß er sich übergeben müsse. Panik in Bauch und Herzen, rannte er mit geschultertem Gewehr in die Stadt zurück.

Diese aber lag im Scheine der brennenden Kaserne scharf beleuchtet, spitzgieblig, und die schwarzen Konturen der Häuser überragt von den Türmen des Rathauses und der Kirchen. Von dort schlug es halb sechs, unbekümmert, als schwebte noch tiefer Frieden über dieser menschlichen Ansiedlung. Und der vertraute Klang der Uhren, der vertraute Anblick der Häuser, all der Friede, der noch da war, während es ringsumher schon brannte, ließ Huguenaus atemlose Angst zu einer unbändigen Sehnsucht nach menschlicher Nähe werden. Quer über die Felder rannte er, manchmal stehenbleibend, um Atem zu holen. Da merkte er, daß es nach Selchstube roch, und neuerdings durchfuhr es ihn, daß die Türe zur Druckerei nicht abgesperrt sei, daß die Schränker und Einbrecher jetzt aus dem Gefängnis strömen würden, und mit verdoppelter Angst, mit verdoppelter Anstrengung strebte er weiter und nach Hause.

 

Hanna Wendling lag mit hohem Fieber zu Bett. Dr. Kessel hatte zuerst die Schuld auf die allnächtlich geöffneten Fenster schieben wollen; später mußte er zugeben, daß es die spanische Grippe war.

Als die Explosion stattfand und die Scheiben ins Zimmer klirrten, wunderte sich Hanna keineswegs: nicht sie trug die Verantwortung für die geschlossenen Fenster, die waren ihr aufgezwungen worden, und da Heinrich es verabsäumt hatte, Gitter einsetzen zu lassen, so würden jetzt natürlich die Einbrecher einsteigen. Fast befriedigt konstatierte sie: »Der Einbruch von unten«, und wartete auf das, was nun weiter erfolgen würde. Doch da es ärger und ärger krachte, kam sie zur Besinnung, sprang aus dem Bett im plötzlichen Wissen, daß sie zu dem Jungen mußte.

Sie hielt sich am Bettpfosten fest, trachtete ihre Gedanken zu sammeln: der Junge war in der Küche, ja, sie erinnerte sich, sie hatte ihn der Ansteckungsgefahr wegen hinuntergeschickt. Sie mußte hinunter.

Ein scharfer Luftzug wehte durch das Zimmer, wehte durch das ganze Haus. Alle Fenster und Türen waren aus den Rahmen geschleudert worden und im ersten Stockwerk waren die Scheiben der ganzen Vorderfront eingedrückt, denn hier an dieser hochgelegenen Stelle des Tales wirkte sich der Luftdruck besonders stark aus. Die nächste Detonation deckte die Hälfte des Ziegeldachs prasselnd ab. Hätte das Haus nicht Zentralheizung gehabt, eine Feuersbrunst wäre unvermeidlich gewesen. Hanna allerdings bemerkte die Kälte nicht, sie bemerkte kaum den prasselnden Lärm, sie begriff nicht, was geschehen war, suchte auch gar nicht zu begreifen: an dem kreischenden Stubenmädchen vorbei, dem sie im Garderobenraum begegnete, eilte sie in die Küche.

In der Küche fiel es ihr auf, daß es kalt gewesen sein mußte, denn da war es wohlig. Hier unten hatten die Fenster nicht gelitten. In einem Winkel hockte die Köchin und hielt den heulenden zitternden Jungen auf dem Schoß. Die Katze lag friedlich vor dem Herd. Auch der merkwürdige brenzliche Geruch war aus der Nase verschwundenes roch sauber und warm. Man hatte das Gefühl, gerettet zu sein. Dann entdeckte sie, daß sie in unbegreiflicher Geistesgegenwart ihre Bettdecke mitgenommen hatte. Sie wickelte sich in die Decke und setzte sich in das entfernteste Kücheneck; man mußte acht haben, daß der Junge nicht angesteckt werde, und sie wehrte ab, als er zu ihr herüberwollte. Das Stubenmädchen war ihr gefolgt, und nun kam auch der Gärtner mit seiner Frau herüber: »Die Kaserne brennt … dort.« Der Gärtner wies zum Fenster, doch die Frauen getrauten sich nicht hinzugehen, blieben an ihren Plätzen. Hanna fühlte sich völlig bei Besinnung. Sie sagte: »Wir müssen es abwarten«, und wickelte sich fester in ihre Decke. Plötzlich erlosch aus irgendeinem Grunde das elektrische Licht. Das Stubenmädchen schrie wieder auf. Hanna wiederholte ins Dunkel hinein: »Wir müssen es abwarten …« und dann geriet sie wieder ins Dämmern. Der Junge war im Schoße der Köchin eingeschlafen. Das Stubenmädchen und die Gärtnersfrau saßen auf der Kohlenkiste, der Gärtner lehnte beim Herde. Die Fenster klirrten noch immer, und von Zeit zu Zeit ging draußen wieder eine Lage Ziegel nieder. Sie saßen im Finstern, sie schauten alle auf die beleuchteten Fenster, sie schauten unbeweglich hin, und sie wurden immer unbeweglicher.

 

Auf der Straße, die zur Strafanstalt hinunterführte, hastete Esch, – das Gewehr war ihm von der Schulter gerutscht, und er hielt es in der Hand wie ein stürmender Soldat. Etwa mittwegs hörte er das Johlen eines herankommenden Trupps. Er warf sich ins Gebüsch, um ihn vorbeiziehen zu lassen. Es waren etwa zweihundert Leute, alles mögliche Gesindel, darunter die Sträflinge, an ihren grauen Gewändern kenntlich. Einige versuchten, die Marseillaise zu singen, andere die Internationale. Eine Feldwebelstimme schrie fortwährend: »Viererreihen bilden«, aber keiner hielt sich daran. An der Spitze des Zuges schwebte eine Puppe über den Köpfen der Marschierenden: an einer Stange, an einer Art Galgen hing die mit Zeug und Tüchern ausgestopfte Montur eines Gefangenenwärters – den hatten sie wahrscheinlich zu diesem Zwecke nackt ausgezogen –, die Puppe trug einen weißen Zettel an die Brust geheftet, und in dem zuckenden Licht der brennenden Depots konnte Esch das Wort »Stadtkommandant« entziffern. Sogar ein Kind hatten sie mit, es saß auf den Schultern eines der Kerle, ein kleines Mädchen, das an Marguerite erinnerte, doch Esch gab nicht mehr darauf acht: er ließ den Zug passieren, und um etwaigen Nachzüglern auszuweichen, lief er neben der Straße auf der Wiese weiter.

Die Scheinwerfer eines Autos tauchten vor ihm auf. Esch gerann das Blut, – das konnte bloß der Major sein! der Major, der da den Aufrührern unweigerlich in die Arme fuhr. Man mußte ihn aufhalten! aufhalten um jeden Preis! Esch rutschte die Böschung hinab, stellte sich laut schreiend und winkend mitten auf die Straße. Aber man bemerkte ihn nicht oder wollte ihn nicht bemerken, und wäre er nicht zur Seite gesprungen, er wäre überfahren worden. Er konnte noch wahrnehmen, daß es tatsächlich der Wagen des Majors war, daß sich neben dem Major drei Soldaten befanden, einer davon auf dem Trittbrett. Hilflos starrte er dem Wagen nach, dann rannte er aus Leibeskräften hinterher; in entsetzensvoller Angst rannte er, jede Sekunde erwartend, Furchtbares sehen zu müssen. Und schon fielen dort vorne einige Schüsse, es folgte ein krachender explosionsartiger Schlag, Schreien und Lärmen. Esch sprang wieder die Böschung hinauf.

Vor den ersten Häusern stand der Haufe; die Gegend war noch immer von dem Brande beleuchet. Hinter den Gebüschen Deckung suchend, gelangte Esch zum ersten Gartenzaun und konnte sich nun im Schutze der Einfriedung nähern. Der Wagen hatte sich überschlagen und lag brennend auf der jenseitigen Straßenböschung. Augenscheinlich hatte der Chauffeur, angesichts der Menge oder von einem Stein getroffen, die Herrschaft über den Wagen verloren und war aufgefahren. Halb gekauert vor einem Baum, an dem er sich den Schädel zerspalten hatte, röchelte er noch, während der eine Soldat ausgestreckt auf der Straße lag. Der andere hingegen, ein Unteroffizier, wohl mit heiler Haut aus dem Sturze hervorgegangen, war von der tollwütigen Meute umringt. Unter den Faust- und Stockhieben machte er schwache flehentliche Bewegungen, sprach etwas, das in dem Lärm unverständlich blieb; dann brach auch er zusammen. Esch überlegte, ob er in die Horde hineinschießen sollte, aber in diesem Augenblick zuckte eine blaue Flamme aus der Motorhaube, und einer rief: »Der Wagen explodiert!« Die Menge wich zurück, verstummte und wartete auf die Explosion. Als jedoch nichts erfolgte, der Wagen bloß still weitergloste, ertönten bald Rufe: »Aufs Stadtkommando«, »Aufs Rathaus«, und der Trupp wälzte sich weiter der Stadt zu.

Wo aber war der Major?! plötzlich wußte es Esch: unter dem Wagen und in Gefahr, bei lebendigem Leibe zu rösten. Von Angst gejagt, kletterte Esch über die Planke, sprang auf den Wagen zu, rüttelte an dem Gestell; trockenes Schluchzen überkam ihn, als ihm klar wurde, daß er ihn allein nicht zu heben vermochte. Verzweifelt stand er vor dem brennenden Gefährt, verbrannte sich seine ohnmächtigen Hände bei erneuten Versuchen. Da kam ein Mann herbei. Es war der dritte Soldat, unverletzt, denn er war über die Böschung hinausgeflogen und auf die Wiese gefallen. Zu zweit gelang es ihnen, die eine Seite des Wagens zu lüpfen. Esch kroch darunter, stützte die Wand mit dem Rücken, und der Soldat zog den Major hervor. Gottseidank! Doch damit war's noch nicht getan, es hieß, schleunigst aus der Nähe des gefährlichen Automobils fliehen, und so trugen sie den Bewußtlosen die Böschung hinauf, betteten ihn hinter ein paar Sträucher auf die Wiese.

Esch kniete neben dem Major nieder, schaute ihm ins Gesicht; es war ein friedliches Gesicht und der Atem ging regelmäßig, wenn auch schwach. Das Herz schlug gleichfalls in ruhigem Takt – Esch hatte des Majors Mantel und Rock aufgerissen –, und mit Ausnahme einiger Versengungen und Abschürfungen war keinerlei äußere Verletzung zu entdecken. Der Soldat stand daneben; »Wir haben noch die anderen …« Esch erhob sich schwerfällig. Eine ungekannte Müdigkeit. Alle Glieder taten ihm weh. Trotzdem raffte er sich noch einmal auf, und sie brachten auch den verwundeten Unteroffizier in Sicherheit. Die Leichen des verunglückten Soldaten und des Chauffeurs legten sie auf die Böschung. Als es geschehen war, warf Esch sich neben dem Major ins Gras: »Einen Augenblick verschnaufen … ich kann nicht weiter.« Er war so erschöpft, daß er es kaum beachtete, als über den Dächern der Stadt rasche Flammen in die Höhe loderten und der Soldat aufschrie: »Die Kerle haben das Rathaus angezündet!«

 

Im Lazarett war's drunter und drüber gegangen.

Zuerst waren alle in den Garten geflüchtet, ohne Rücksicht auf die Leute, die sich nicht erheben konnten; keiner hatte sich um ihre Klagen gekümmert.

Es hatte der ganzen Autorität Kuhlenbecks bedurft, um die Ordnung wiederherzustellen. Eigenhändig hatte er die schwersten Fälle ins Erdgeschoß geschafft, er trug die Leute wie kleine Kinder auf den Armen, seine Stimme dröhnte durch die Korridore, und er beschimpfte jeden, sogar Flurschütz und Schwester Mathilde, in unflätiger Weise, wenn seine Befehle nicht augenblicklich ausgeführt wurden. Schwester Carla war durchgegangen und unauffindbar.

Schließlich kam es ins Gleis. Die Betten aus dem verwüsteten Oberstock wurden heruntergebracht, und nach und nach fanden sich die Leute wieder ein. Einige fehlten. Sie waren im Garten oder noch weiter, im Wald oder sonstwo.

Flurschütz und ein Pfleger machten sich auf die Suche. Einer der ersten, den sie außerhalb des Gartens entdeckten, war Gödicke; er war nicht sehr weit gekommen, stand auf der Berglehne, die er sich als Aussichtspunkt gewählt hatte, und streckte seine beiden Stöcke gegen den Himmel.

Man hätte meinen können, daß er jauchze.

Und in der Tat: als sie näherkamen, hörten sie, wie er lachte, dieses brüllende Tierlachen, auf das die ganze Mannschaft schon seit Monaten gewartet hatte.

Er kümmerte sich nicht um die beiden, die ihn anriefen, und da sie näherkamen und sich anschickten, ihn zu holen, schwenkte er drohend seine Stöcke.

Flurschütz war ein wenig ratlos: »Aber, Gödicke, kommen Sie doch …«

Gödicke wies mit den Stöcken auf die Flammen drüben und brüllte entzückt: »Das Jüngste Gericht … auferstanden von den Toten … auferstanden von den Toten … wer nicht auferstanden ist, kommt in die Hölle … der Teufel holt euch alle … alle holt er euch jetzt …«

Was sollte man da machen! Aber nachdem sie ihm eine Weile zugesehen hatten, fiel dem Pfleger das Richtige ein: »Ludwig, Brotzeit ist's, komm vom Gerüst herunter.«

Gödicke wurde stumm; er schaute argwöhnisch aus seinem Bart heraus, doch schließlich humpelte er mit.

 

Atemlos und zitternd hatte Huguenau den Garten durchquert und war bei der Druckerei angelangt. Im ersten Augenblick wußte er nicht, was ihn hergeführt hatte. Dann begriff er. Die Druckmaschine! Er trat ein. Der dunkle Raum war von außen flackernd beleuchtet und lag in sonntäglich anmutender Ordnung. Huguenau, das Gewehr zwischen den Beinen, setzte sich vor die Maschine. Er war enttäuscht; die Maschine lohnte seine Anstrengung nicht, – kalt und ungerührt stand sie da und warf bloß unruhige Schatten, die ihm unbehaglich waren. Wenn die Verbrecherbande wirklich käme, die Saumaschine würde es eigentlich verdienen, daß sie zusammengeschlagen werde. Obwohl es ein schönes Maschinchen ist … er legte die Hände darauf, ärgert sich, daß sich das Eisen so kalt anfühlt. Merde, was ärgert ihn daran! Huguenau zuckt die Achsel, schaut auf den Hof, hinüber auf den Sonntagspredigtschuppen. Ob der Esch nächsten Sonntag wieder predigen wird? Haïssez les ennemis de la sainte religion. Pfaffengesindel. Ein leerer Schuppen, das ist ihr Geschäft, … was hat so einer zu verlieren! Die Knochen sollte man dem zerschlagen. Der hat keine Sorgen … am Sonntag predigen, und jetzt sitzt er droben bei seinem Weib, und sie trösten sich gegenseitig, während man hier bei der Saumaschine sitzen muß.

Neuerdings vergißt er, warum er gekommen ist. Er lehnt das Gewehr an die Maschine. Im Hofe schnuppert er: wieder der Selchküchengeruch, der ihm entgegenschlägt. Heute gibt's wohl kein Abendbrot, … na, oben wird's schon was geben, den Esch läßt sie schon nicht verhungern.

Wie er oben im Flur steht, erschrickt er, weil die Tür zu seinem Zimmer aus den Angeln gehoben ist. Da stimmt etwas nicht. Die Türe ist außerdem verklemmt, nur mit Mühe vermag er sie aufzureißen, und drinnen im Zimmer sieht es noch wüster aus: der Spiegel hängt nicht mehr über dem Waschtisch, sondern liegt auf dem zerschmetterten Geschirr. Wüst. Unverständlich und beunruhigend, es erinnert an Knochensplitter. Huguenau setzt sich auf's Kanapee, er möchte sich die Geschichte begreiflich machen, aber er will nicht nachdenken, … es soll jemand kommen, ihm alles gut erklären und ihn beruhigen … ihm über die Haare streichen.

Da fällt ihm ein, daß er ohnehin Frau Esch rufen müßte, ihr den Schaden zeigen, … sonst macht sie ihn am Ende noch dafür verantwortlich, … fällt ihm nicht ein, einen Schaden zu bezahlen, den er nicht angerichtet hat. Aber wie er sie eben rufen will, stürzt sie, die sein Kommen gehört hat, ins Zimmer: »Wo ist mein Mann?«

Eine weite wonnige und erregende Beruhigung überkam Huguenau, als er ein vertrautes Gesicht erblickte. Er lächelte ihr freundlich und herzlich entgegen: »Mutter Esch …« er strahlte ihr förmlich entgegen, … jetzt wird alles gut, sie soll mich zu Bett bringen …

Sie indes schien ihn überhaupt nicht zu sehen: »Wo ist mein Mann?« Die dumme Frage störte ihn, – was wollte die Frau jetzt von dem Esch? wenn der nicht da ist, so ist's doch nur gut … er antwortete grob: »Wie soll ich wissen, wo er sich herumtreibt, zum Essen wird er schon kommen.«

Vielleicht hatte sie's gar nicht gehört, denn sie war auf ihn zugetreten, hatte ihn bei den Schultern gepackt; sie schrie ihn geradezu an: »Er ist weggelaufen, mit der Flinte ist er weggelaufen … ich habe schießen hören.«

Eine Hoffnung stieg auf: der Esch ist erschossen! doch warum hatte diese Frau dann so eine jämmerliche Stimme? warum funktionierte sie falsch? Er wollte Ruhe von ihr empfangen und statt dessen sollte er herhalten, sie zu beruhigen, und noch dazu wegen dieses Esch! Sie flehte noch immer: »Wo ist er?« und noch immer hatte sie seine Schulter nicht losgelassen. Betreten und zornig zugleich tätschelte er ihr die dicken Oberarme wie einem weinenden Kinde, er hätte ihr sogar gern etwas Gutes getan, er fuhr an den Armen auf und ab, allein sein Mund sprach unfreundliche Worte: »Was jammern Sie denn nach Esch? haben Sie nicht auch schon genug von dem Patron? … ich bin doch hier bei Ihnen …« und während er so sprach, merkte er selber erst, daß er Gröberes von ihr verlangte … wie zum Ersatz für das, was sie ihm schuldig blieb. Nun spürte auch sie, worauf es hinauslief: »Herr Huguenau, um Gotteswillen, Herr Huguenau …« Aber im vorhinein fast ohne Willen, unter seinem keuchenden Drängen setzte sie ihm kaum mehr Widerstand entgegen. Wie ein Delinquent, der dem Henker selber behilflich ist, öffnete sie ihm die Hose, und zwischen ihren breitgeöffneten hochgereckten Schenkeln kippte er kußlos mit ihr auf das Kanapee.

Ihr erstes Wort nachher: »Retten Sie meinen Mann!« Huguenau war es gleichgültig; jetzt mochte der leben, solang er wollte. Jedoch im nächsten Augenblick brach sie in schrille Schreie aus: das Fenster war plötzlich blutrot erleuchtet, orangegelbe Garben stiegen auf, das Rathaus brannte. Sie sank zu Boden, ein unförmiger Klumpen, … sie, sie war an allem schuld: »Jesus Maria, was hab' ich getan, was hab' ich getan …« sie kroch zu ihm hin, »... retten Sie ihn, retten Sie ihn …« Huguenau war ans Fenster getreten. Er war verdrossen; nun ging es auch hier noch los. Er hatte schon von da draußen genug, übergenug. Und was wollte dieses Weib von ihm? verantwortlich war schließlich der Esch … mochte der mit dem Major drüben braten, Heilige sind immer gebraten worden. Und jetzt wird es doch noch Plünderungen geben … und wieder hat er vergessen, die Druckerei abzusperren … er nahm es zum Anlaß, mit guter Manier fortzukommen: »Ich werde nach ihm sehen.« Würde er Esch jetzt begegnen, überlegte er beim Hinausgehen, er würde ihn die Treppe hinunterschmeißen.

In der Druckerei aber war nach wie vor alles in Ordnung. Das Gewehr lehnte dort und die Maschine warf ihre unruhigen Schatten. Rot, schwarz, gelb, orangefarben schössen die Garben des Rathauses in den Himmel hinein, während es drüben bei der Kaserne und den Depots noch immer schmutzigbraun qualmte. Die Obstbäume streckten leere Äste hart empor. Huguenau besah das Schauspiel und fand mit einem Male, daß es richtig war … alles war richtig, auch die Maschine gefiel ihm wieder … alles war richtig, war in Ordnung gebracht, er war sich selbst und seiner klaren Nüchternheit zurückgegeben … jetzt mußte nur noch ein Schlußpunkt gesetzt werden, und dann war alles gut!

Er stieg leise wieder hinauf, lugte vorsichtig in die verwüstete Küche, schlich zur Brotlade, schnitt sich einen tüchtigen Ranken herunter, und da er sonst nichts fand, ging er in die Druckerei zurück, setzte sich bequem hin, nahm das Gewehr zwischen die ausgestreckten Beine und begann langsam zu essen, … mit den Plünderern wird man auch schon irgendwie fertig werden.

 

Esch und der Soldat knieten neben dem Major. Sie wollten ihn ins Bewußtsein zurückbringen und rieben ihm Brust und Hände mit nassem Gras. Als er endlich die Augen aufschlug, bewegten sie ihm Arme und Beine, und es zeigte sich, daß nichts gebrochen war. Aber er antwortete auf keinen Zuruf, ausgestreckt blieb er liegen, und bloß seine Hände waren ruhelos geworden, griffen in die feuchte Erde, gruben in der Erde, suchten nach Schollen, zerkrümelten sie.

Es war klar, daß man ihn je eher wegschaffen mußte. Hilfe aus der Stadt herbeizurufen, war nicht möglich; also mußten sie's allein besorgen. Der verletzte Unteroffizier hatte sich inzwischen so weit wieder aufgerafft, daß er sitzen konnte, – man durfte ihn also eine Weile sich selber überlassen, und sie beschlossen, vor allem den Major über die Felder zu Eschs Anwesen zu tragen; auf der Straße wäre es zu gefährlich gewesen.

Als sie eben beratschlagten, wie es am besten anzupacken wäre, schien es, als ob der Major sprechen wollte: einen Brocken Erde zwischen den Fingern, hatte er die Hand gehoben, und seine Lippen öffneten sich und schoben sich vor, aber die Hand sank immer wieder zurück und kein Ton wurde hörbar. Esch hatte sein Ohr ganz nahe an des Majors Mund gebracht und wartete; endlich verstand er: »Mit dem Pferde gestürzt … ein leichtes Hindernis, trotzdem gestürzt … das rechte Vorderbein gebrochen … ich werde ihn selbst erschießen … Unehrenhaftigkeit mit einer Kugel auslöschen …« und dann, deutlicher und als ob er eine Zustimmung erbitten wollte: »... mit einer Kugel, nicht mit unritterlichen Waffen …« – »Was sagt er?« fragte der Soldat. Esch antwortete leise: »Er glaubt, daß er vom Pferd gefallen ist … aber jetzt los … wenn's nur nicht so verdammt hell wäre … wir nehmen jedenfalls die Gewehre mit.«

Der Major hatte wieder die Augen geschlossen. Sie hoben ihn vorsichtig auf und, oftmals rastend und den Platz wechselnd, schleppten sie ihn über die regennassen aufgeweichten Felder, deren Erde sich schwer und klebrig an die Schuhe hängte. Einmal öffnete der Major die Augen, sah den Brand in der Stadt, und Esch voll anblickend, kommandierte er: »Gas … Flammenwerfer … löschen gehen.« Dann versank er wieder in Somnolenz.

Bei seinem Anwesen angelangt, verabschiedete Esch den Soldaten: er möge nun rasch zu seinem Kameraden zurückkehren, – er selbst wolle später nachkommen, und zum Hinauftragen des Majors würde er hier schon Hilfe finden. So legten sie ihn vorerst auf die Bank vor der Laube. Als aber der Soldat sich entfernt hatte, ging Esch leise ins Haus, lehnte das Gewehr an die Flurwand und öffnete die Falltür zur Kellerstiege. Dann lud er sich den Major auf die Schultern und trug ihn hinein, tappte vorsichtig die Kellerstiege hinab, und unten bettete er ihn auf einen Kartoffelhaufen, den er vorsorglich mit einer Kotze überdeckt hatte. Entzündete die Petroleumlampe, die an der schmutzigen Mauer befestigt war, dichtete die Kellerluke mit Brettern und Lappen ab, damit kein Lichtstrahl nach außen dringe. Kritzelte schließlich einen Zettel, den er dem Major zwischen die gefalteten Hände steckte: »Herr Major! Sie haben bei dem Kraftwagenunfall das Bewußtsein verloren. Ich komme bald zurück. Hochachtungsvoll Esch.« Er sah nochmals nach der Lampe und ob sie genügend gefüllt sei; vielleicht würde er lange ausbleiben müssen. Zur Kellertüre führten drei Stufen hinauf; bevor Esch öffnete, wandte er sich nochmals um, betrachtete fast zögernd das geduckte Gewölbe und darin den regungslosen langausgestreckten Mann: wäre der blakige Petroleumgeruch nicht gewesen, man hätte es für eine kühle Gruft halten können.

Langsam stieg er hinauf. Im Flur horchte er ein wenig nach oben. Es regte sich nichts, … nun, die Frau wird sich schon beruhigt haben; der Verwundete vor der Stadt war jetzt wichtiger. Er schulterte das Gewehr und trat auf die Straße.

Doch seine Gedanken waren bei dem Mann, der in dem Keller lag, die Petroleumlampe zu seinen Häupten. Wenn das Licht erlischt, ist der Erlöser nahe. Es muß das Licht erlöschen, damit die Zeit gezählt werde.

 

Huguenau war eben mit seinem Brot fertig geworden und überlegte, wie er zu weiteren Nahrungsmitteln gelangen könnte, als er in dem scharfen Lichte draußen eine Gestalt im Garten erblickte. Er griff nach dem Gewehr, aber da hatte er auch schon erkannt, daß es niemand anderer als Esch war und daß Esch eine Art Sack auf dem Rücken trug. Also ist der Herr Pastor sogar unter die Plünderer gegangen! verwunderlich wäre es ja nicht, nun, es wird sich ja gleich zeigen, und neugierig wartete er, daß jener mit der Last näherkäme. Eschs Schritte tappten langsam und schwerfällig durch den Hof, es dauerte lange, bis er vor dem Fenster sichtbar wurde. Doch dann ging Huguenau beinahe der Atem aus, – Esch schleppte einen Menschen! Esch schleppte den Major daher! ein Mißverständnis war ausgeschlossen, es war der Major, den Esch daherschleppte. Auf Zehenspitzen schlich Huguenau zur Türe, steckte den Kopf durch den Spalt – kein Zweifel, es war der Major –, und er sah, wie Esch mit seiner Bürde im Kellerloch verschwand.

Huguenau war aufs äußerste gespannt, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden. Und als Esch wieder zum Vorschein kam und auf die Straße hinaustrat, da schulterte auch Huguenau sein Gewehr und folgte in gemessener Entfernung.

Die Straßen, die in der Richtung zum Rathaus lagen, waren voll und grell beleuchtet, in den Querstraßen warfen die Häuser scharfe zuckende Schlagschatten. Kein Mensch war zu sehen. Alles war zum Marktplatz gerannt, von dem dunkles Getöse herübertönte. Huguenau muß daran denken, daß in den verödeten Gassen jeder nach Belieben plündern könnte; und wenn er selbst jetzt in irgendein Haus eindränge, herauszutragen was er wollte, niemand tät's ihm verwehren, – freilich, was ließe sich aus so einer Bude schon groß heraustragen, und der Ausdruck vom »bessern Wild« fällt ihm ein. Esch steuerte um die nächste Ecke; er ging also nicht zum Rathaus, der scheinheilige Halunke. Zwei Burschen rannten vorbei; Huguenau nahm das Gewehr, zum Zuschlagen bereit, in die Hand. Aus einer Seitengasse schwankte ihm ein Mann entgegen, der ein Fahrrad führte: mit der Linken hielt er die Lenkstange umkrampft, die Rechte hing, wie gebrochen, schlotternd herab; Huguenau sah mit Grausen in ein zerschlagenes, zerschmettertes Gesicht, aus dem noch ein Auge blicklos ins Leere starrte. Bloß bemüht, sein Rad festzuhalten, als wollte er es ins Jenseits mitnehmen, torkelte der Verwundete vorüber. Kolbenhieb ins Gesicht, sagte sich Huguenau und packte sein Gewehr fester. Ein Hund löste sich aus einem Haustor, schnüffelte hinter dem Verwundeten drein und dem herabtropfenden Blut, leckte daran. Esch war jetzt nicht sichtbar. Huguenau beschleunigte den Schritt. Bei der nächsten Straßenkreuzung gewahrte er wieder das Aufblinken des Seitengewehrs vor sich. Er folgte ihm rascher. Esch marschierte geradeaus, schaute nicht rechts, nicht links, sogar das brennende Rathaus schien seine Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Nun hallten seine Schritte nicht mehr auf dem buckligen Pflaster, denn hier draußen gab es keine Pflasterung, und nun bog er in eine Gasse ein, die längs der Stadtmauer führte. Huguenau trieb es vorwärts; er war jetzt etwa zwanzig Schritte hinter Esch, der ruhig seinen Weg fortsetzte: sollte er ihn mit dem Kolben erschlagen? nein, das wäre sinnlos, es mußte vielmehr ein Schlußpunkt gesetzt werden. Und da übermächtigt es ihn wie eine Erleuchtung, – er senkt das Gewehr, ist mit ein paar tangoartigen katzigen Sprüngen bei Esch und rennt ihm das Bajonett in den knochigen Rücken. Esch geht, zu des Mörders großer Verwunderung, noch ein paar Schritte ruhig weiter, dann stürzt er lautlos vornüber aufs Gesicht.

Huguenau steht neben dem Gefallenen. Sein Fuß berührt die Hand, die über einer Radspur im fettigen Straßenschmutz liegt. Soll er drauf treten? kein Zweifel, der ist tot. Huguenau war ihm dankbar, – es war alles gut! er hockte sich hin und sah in das seitwärts gedrehte bartstoppelige Gesicht. Als er den gefürchteten höhnischen Zug nicht darin fand, war er zufrieden und klopfte der Leiche wohlwollend, fast zärtlich auf die Schulter.

Es war alles gut.

Er tauschte die Gewehre aus, ließ sein eigenes blutiges bei dem Toten, eine an solchem Tage wohl überflüssige Vorsicht, aber er liebte eine ordnungsgemäße Gebarung. Und hernach begab er sich auf den Heimweg. Hell war die Stadtmauer vom Rathaus her beleuchtet, die Bäume zeichneten ihre Schatten auf ihr ab, eine letzte orangegelbe Garbe schoß aus dem Dach des Rathauses hervor – Huguenau mußte des Mannes auf dem Colmarer Bilde gedenken, der zu dem aufbrechenden Himmel emporschwebte, und am liebsten hätte er ihm die erhobene Rechte geschüttelt, so leicht und froh war ihm zumute –, dann krachte der Rathausturm in sich zusammen und das Feuer verebbte in bräunlichem Rot.

 

Das halbzertrümmerte »Haus in Rosen« lag noch immer lichtlos und schweigend im Nachtwind, der hier heroben blies.

In der Küche hatte sich nichts verändert. In starrer Regungslosigkeit verharrten die sechs Menschen noch immer dort, saßen noch immer regungslos, unbeweglicher vielleicht noch als vorher, wie eingespannt und gefesselt in den Drähten des Wartens. Sie schliefen nicht und sie wachten nicht, und sie wußten auch nicht, wie lange dieser Zustand schon währte. Bloß der Junge schlummerte. Von Hannas Schultern war die Decke herabgeglitten, Hanna fror nicht. Einmal sagte sie in die Stille hinein: »Wir müssen es abwarten«, aber die anderen hörten es wohl gar nicht. Und doch lauschten sie, lauschten ins Leere, lauschten auf die Stimmen, die von draußen hereindrangen. Und wenn es in Hannas Ohr immer wieder »Der Einbruch von unten« sagte, und sie auch keinen Sinn mehr damit verbinden konnte, sinnlose Worte, ein sinnloses Geräusch, so lauschte sie dennoch, ob es nicht diese sinnlosen Worte seien, die da draußen gerufen wurden. Die Wasserleitung tropfte einförmig. Keiner der sechs Menschen regte sich. Vielleicht vernahmen auch die anderen den Ruf vom Einbruch, denn trotz großer sozialer Unterschiede, trotz Isoliertheit und Unverbundenheit waren sie alle zu einer Gesamtheit geworden, es war ein Ring der Verzauberung um sie alle geschlagen, eine Kette, deren Glieder sie selber waren und die ohne schwere Schädigung nicht durchbrochen werden konnte. Und aus dieser Verzauberung, aus diesem gemeinsamen Trancezustand heraus wird es verständlich, daß für Hanna der Ruf des Einbruchs immer deutlicher wurde, so deutlich wie sie ihn mit ihren leiblichen Ohren niemals hätte wahrnehmen können; der Ruf kam heran wie getragen von der Kraft des gemeinsamen Lauschens, er schwamm auf dem Strom dieser Kraft, die dennoch eine kraftlose Kraft war, eine Kraft des bloßen Aufnehmens und Hörens, und der Ruf war sehr stark, die Stimme wurde immer mächtiger und war wie ein brausender Wind, der draußen wehte. Der Hund winselte im Garten, kläffte einige Male auf. Dann verstummt auch der Hund, und sie hört nur mehr die Stimme. Und die Stimme befahl es ihr: Hanna erhebt sich, sie steht auf, die anderen scheinen es nicht zu bemerken, auch nicht, als sie die Türe öffnet und den Raum verläßt; sie geht mit nackten Sohlen, aber sie weiß es nicht. Ihre nackten Sohlen gehen über Betonestrich, das war der Korridor, sie gehen über fünf steinerne Stufen, gehen über Linoleum, das war die Office, gehen über Parkett und Teppiche, das war die Hall, gehen über eine sehr trockene Kokosmatte, über Ziegelscherben, über das Pflaster eines Gartenwegs. In diesem geradlinigen Gehen, das fast ein Schreiten zu nennen ist, wissen bloß die Sohlen den Weg, denn die Augen wissen bloß das Ziel, – und als sie aus der Türe tritt, da sieht sie es auch, sieht das Ziel! am Ende des sehr verlängerten Pflasterweges, am Ende dieser sehr langen Brücke, dort, halb über den Gartenzaun geschwungen, der Einbrecher, der Mann, dort auf das Brückengeländer geklettert, – der Mann in grauer Sträflingskleidung, ein grauer Steinblock, so hängt er dort. Und rührt sich nicht. Mit vorgestreckten Händen betritt sie die Brücke, die Bettdecke läßt sie fallen, das Nachthemd wölkt sich im Winde, und so schreitet sie auf den unbeweglichen Mann zu. Aber, sei es, weil die Leute in der Küche ihr Fortgehen nun doch bemerkt haben, sei es, weil sie in magischer Kette von ihr nachgezogen worden sind, es folgt der Gärtner, es folgt das Stubenmädchen, es folgt die Köchin, es folgt die Gärtnersfrau, und wenn auch nur schwach und mit gebundenen Stimmen rufen sie nun die Herrin.

Es war wohl die Sonderbarkeit dieser Prozession, angeführt von der weißen Frau mit den geisterhaften Gewändern, die dem Einbrecher die Haare sich sträuben ließ und ihn so sehr lähmte, daß er kaum imstande war, das erhobene Bein zurückzuschwingen. Und als er es drüben hatte, da stierte er noch eine Weile auf das gespenstische Bild, und dann lief er davon und verschwand in der Dunkelheit.

Hanna indes ging auf ihrem Wege weiter, und als sie beim Zaun war, da streckte sie die Hände zwischen den Stäben hindurch wie durch das Gitter eines Fensters und als wollte sie einem Scheidenden winken. Von der Stadt her leuchtete Brand herüber, doch die Explosionen waren verstummt und der Bann gebrochen. Und sogar der Wind hatte sich jetzt gelegt. Sie sank schlafend am Gitter zusammen und wurde vom Gärtner und von der Köchin ins Haus zurückgetragen, wo man ihr im Wirtschaftszimmer neben der Küche das Bett rüstete.

(Im Wirtschaftszimmer neben der Küche erlag am nächsten Tag Hanna Wendling ihrer schweren Lungengrippe).

 

Huguenau marschierte heimwärts. Vor einem Hause stand ein weinendes Kind, sicherlich kaum drei Jahre alt. Wo mag Marguerite stecken? dachte er. Er hob das Kind auf, zeigte ihm das schöne Feuerwerk, das vom Marktplatz herüberstrahlte, und er ahmte das Prasseln und Zischen der Flammen, das Krachen des Gebälks so lange nach, ssss ssssscht schschschschschkrrach bis das Kind lachte. Dann trug er es ins Haus hinein, die Mutter belehrend, daß man in solchen Zeiten ein kleines Kind nicht unbeaufsichtigt auf der Straße zu lassen habe.

Daheim angelangt, lehnte er das Gewehr an die Flurwand, genau so wie Esch es getan hatte, öffnete hierauf die Falltüre und stieg zum Major hinunter.

Der Major hatte, seitdem Esch fortgegangen war, seine Lage nicht verändert; er ruhte noch immer auf dem Kartoffelhaufen, den Zettel zwischen den Fingern, aber seine blauen Augen waren geöffnet und starrten in das Licht der Kellerlampe. Er wandte den Blick auch nicht ab, als Huguenau eintrat. Huguenau räusperte sich, und wie der Major sich nicht rührte, war er beleidigt. Die Zeiten waren wahrlich nicht danach, kindischen Zwist so lange fortzusetzen. Er zog den Schemel heran, der sonst zum Kartoffellesen benutzt wurde, und mit einer gemessenen Verbeugung nahm er dem Major gegenüber Platz: »Herr Major, ich begreife ja, daß Herr Major Gründe haben, mich nicht sehen zu wollen, aber schließlich wächst über alles Gras, und die Umstände haben ja doch schließlich mir recht gegeben, und ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß mich Herr Major in durchaus falscher Beleuchtung gesehen haben; vergessen Herr Major nicht, daß ich das Opfer einer niedrigen Intrige gewesen bin, man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen, aber bedenken Herr Major die Geringschätzung, mit der mir dieser Pastor von allem Anfang an begegnet ist. Und niemals ein Dank! haben Herr Major ein Wort der Anerkennung gehabt für all die Feste, die ich zu Ehren des Herrn Major arrangiert habe; immer nur so ein, ich danke Ihnen – aber sonst: drei Schritt vom Leibe. Aber ich will nicht ungerecht sein, denn einmal haben mir der Herr Major ganz spontan die Hand gegeben, damals als wir den Eisernen Bismarck eingeweiht haben: Sie sehen, Herr Major, daß ich jede Freundlichkeit des Herrn Major gut im Gedächtnis behalten habe, aber selbst damals haben Herr Major einen ironischen Zug um den Mund gehabt, wenn Sie wüßten, wie ich es haßte, wenn der Esch so feixte! immer war ich ausgeschlossen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und warum? bloß weil ich nicht von vorneherein dazu gehört habe … sozusagen ein Ortsfremder, dahergelaufen, wie der Esch zu sagen beliebte, das war kein Grund, mich zu verhöhnen und mich zurückzusetzen; immer sollte ich abnehmen, das war auch so ein Ausdruck von ihm – immer sollte ich abnehmen, damit dieser Herr Pastor wachsen und sich vor dem Herrn Major großtun kann. Ich habe das ganz gut verstanden, Herr Major können versichert sein, daß das einen Menschen kränkt; und auch die Anspielungen, mit denen Sie mich ›böse‹ genannt haben, oh ja, das habe ich sehr genau verstanden, Herr Major mögen sich bloß erinnern, einen ganzen Abend lang haben Sie über die Bösheit gesprochen, kein Wunder, wenn ein Mensch, dem solches gesagt wird, schließlich auch wirklich einmal böse werden würde; ich gebe auch zu, daß es faktisch danach ausgesehen hat, und daß Herr Major mich vielleicht heute einen Erpresser oder Mörder nennen werden, und trotzdem sieht es bloß so aus; in Wirklichkeit ist alles anders, man kann's sozusagen nicht präzis ausdrücken; und Herr Major haben ja wahrscheinlich auch gar nicht das Interesse zu wissen, wie es wirklich ist. Ja, Herr Major haben damals auch viel von Liebe geredet, und der Esch hat seitdem immerzu von Liebe gefaselt – er war überhaupt zum Kotzen mit seinem Gefasel, aber wenn man immer von Liebe spricht, so sollte man einen andern wenigstens verstehen wollen, bitte, Herr Major, ich weiß natürlich, daß ich das nicht verlangen kann, und daß ein Mann in der Stellung des Herrn Major sich doch nie herbeilassen wird, für einen Menschen wie ich, wo ich doch ein gewöhnlicher Deserteur bin, solche Gefühle zu hegen, wenn ich mir auch zu sagen gestatten möchte, daß der Esch nicht so groß was Besseres als ich gewesen ist … ich weiß nicht, ob Herr Major richtig verstehen, was ich meine, aber ich bitte Herrn Major, Geduld zu haben …«

Seine Brillengläser putzend, schaute er den Major an, der immer noch keinen Laut und keine Bewegung von sich gab: »Ich bitte Herrn Major inständig, nicht etwa zu glauben, Herr Major werden von mir in diesem Keller gefangen gehalten, um Herrn Major zu zwingen, mich anzuhören; es geht draußen fürchterlich zu, und wenn Herr Major hinausgingen, würden Herr Major an die Laterne gehängt werden. Herr Major werden sich morgen selbst davon überzeugen können, haben Sie um Gottes Willen einmal Vertrauen zu mir …«

So sprach Huguenau auf die lebende unbewegliche Puppe ein, bis ihm endlich inne wurde, daß der Major ihn nicht hörte. Aber er wollte noch immer nicht daran glauben: »Ich bitte um Verzeihung, Herr Major sind erschöpft, und ich rede. Ich will etwas zu essen holen.« Eilfertig stürzte er hinauf. Frau Esch saß zusammengekrümmt auf einem Küchenstuhl und weinte krampfig in sich hinein. Als er eintrat, fuhr sie auf: »Wo ist mein Mann?«

»Es geht ihm ganz gut, er wird schon kommen. Haben Sie etwas zu essen? ich brauche es für einen Verwundeten.«

»Ist mein Mann verwundet?!«

»Nein! ich sagte Ihnen, er wird schon kommen. Geben Sie mir was Eßbares, können Sie eine Omelette machen; nein, das dauert zu lang …«

Er ging in den Wohnraum; dort stand Wurst auf dem Tisch. Ohne zu fragen nahm er sie, legte sie zwischen zwei Scheiben Brot. Frau Esch war ihm gefolgt, kreischte angstvoll: »Lassen Sie das, das gehört für meinen Mann.«

Huguenau hatte das unangenehme Gefühl, daß man einem Toten nichts wegnehmen dürfe; vielleicht würde es dem Major auch Unglück bringen, wenn er Totenspeise äße. Im übrigen war Wurst wohl ohnehin nicht das Richtige für ihn. Er dachte einen Augenblick nach: »Schön, aber Milch werden Sie doch haben … Sie haben doch immer Milch im Hause.«

Ja, Milch hatte sie. Er füllte einen Schnabeltopf und trug ihn sorgsam hinunter.

»Herr Major, Milch, schöne frische gute Milch«, rief er mit munterer Stimme.

Der Major rührte sich nicht. Offenbar war auch Milch nicht das Richtige; Huguenau ärgerte sich: vielleicht hätte ich ihm doch lieber Wein bringen sollen? das hätte ihn erweckt und gekräftigt … er scheint doch sehr schwach zu sein … na, jetzt wollen wir es trotz alledem versuchen! Und Huguenau beugte sich herab, hob den Kopf des Alten, der es willen- und kraftlos geschehen ließ und sogar folgsam die Lippen öffnete, da Huguenau den Schnabel des Topfes daran setzte. Und als der Major die langsam einfließende Milch annahm und schluckte, war Huguenau glücklich. Er rannte hinauf, um einen zweiten Topf zu holen; an der Türe blickte er zurück, sah, daß der Major den Kopf gedreht hatte, um zu schauen, wo er hinging, und freundlich zurücknickend, winkte er mit der Hand: »Gleich bin ich wieder da.« Und als er wieder herunterkam, schaute der Major noch immer auf die Kellertüre und lächelte, richtiger lachte ihm ein wenig zu. Aber er trank nur mehr einige Tropfen. Er hatte einen Finger Huguenaus erfaßt und war eingeschlummert.

Den Finger in der Faust des Majors, saß Huguenau dort. Las den Zettel, den der Major noch immer auf dem Leibe liegen hatte, und steckte dieses Beweisstück ein. Natürlich wird er es nicht brauchen, denn geriete er in eine Klemme, er würde jedenfalls antworten, daß der Major ihm von Esch übergeben worden sei; immerhin, doppelt genäht, hält besser. Von Zeit zu Zeit versuchte er behutsam, seinen Finger freizubekonrmen, aber da wachte der Major auf, lächelte ein bißchen, und, den Finger nicht loslassend, schlief er wieder ein. Der Schemel war reichlich hart und unbequem. So verbrachten sie den Rest der Nacht.

 

Gegen Morgen gelang es Huguenau sich freizumachen. Keine Kleinigkeit, die ganze Nacht auf einem Schemel zu hocken.

Er stieg zur Straße hinauf. Es war noch dunkel. Die Stadt schien still zu sein. Er ging zum Marktplatz hinüber. Das Rathaus, bis zum Grunde ausgebrannt, rauchte qualmend. Militär und Feuerwehr hatten Posten aufgestellt. Auch zwei Häuser des Marktplatzes waren vom Feuer ergriffen worden, und kunterbunt lag Hausrat vor ihnen aufgestapelt. Dann und wann wurde die Spritze wieder in Bewegung gesetzt, um neu aufglosende Glut niederzudämpfen. Es fiel Huguenau auf, daß auch Leute in Sträflingskleidern bei der Spritze behilflich waren und sich eifrig an den Aufräumungsarbeiten betätigten. Er sprach einen Mann an, der gleich ihm die grüne Binde trug, fragte, was sich hier noch ereignet hätte, denn er selbst sei anderweitig beschäftigt gewesen. Der Mann erzählte gerne: ja, eigentlich sei mit dem Einsturz des Rathauses alles zu Ende gewesen. Sie seien dann, Freund und Feind, recht fassungslos um den Brandherd herumgestanden und hätten zu tun gehabt, die Nachbarhäuser zu schützen. Ein paar Kerle hätten zwar versucht, in die Häuser einzudringen, aber auf das Geschrei der Frauen seien sogar ihre eigenen Genossen über die Plünderer hergefallen. Einigen wäre dabei allerdings der Schädel eingedroschen worden, aber das war gut gewesen, auf das hin hat keiner mehr ans Plündern gedacht. Jetzt eben haben sie die Verwundeten ins Krankenhaus hinausgeschafft, – es war die höchste Zeit gewesen, denn die haben gejammert, daß man es kaum mit anhören konnte. Man hat natürlich gleich nach Trier telephoniert; aber dort gibt's natürlich auch einen Wirbel, und so seien erst jetzt, wo alles vorüber ist, zwei Autos mit Mannschaften gekommen. Im übrigen heißt es, daß der Stadtkommandant abgängig sein soll …

Um den brauche man sich nicht zu sorgen, meinte Huguenau, den habe er selber aufgelesen; freilich in einem üblen Zustand sei der Major gewesen, eigentlich hätte er sich eine Rettungsmedaille verdient, denn jetzt sei der Alte in guter Pflege und, wie gesagt, gerettet.

Er hob salutierend den Finger an den Hut, machte kehrt und trottete nach dem Lazarett hinaus. Es dämmerte bereits.

Kuhlenbeck war nicht gleich zu finden, aber er kam bald und als er Huguenaus ansichtig wurde, schrie er ihn an: »Was wollen Sie, Sie Hanswurst?«

Huguenau setzte seine beleidigtste Miene auf: »Herr Oberstabsarzt, ich habe Ihnen zu melden, daß Herr Esch und ich den Herrn Stadtkommandanten, der schwer verwundet ist, heute nacht bei uns verbergen mußten … wollen Sie bitte veranlassen, daß er sogleich abgeholt werde.«

Kuhlenbeck lief zur Türe: »Doktor Flurschütz« donnerte er auf den Korridor hinaus. Flurschütz kam. »Nehmen Sie ein Auto, – die Wagen sind doch jetzt da? – und fahren Sie mit zwei Wärtern in die Zeitungsbude … Sie wissen ja … übrigens«, schnauzte er Huguenau an, »Sie fahren mit.« Dann schien er besänftigt; er gab Huguenau sogar die Hand und sagte: »Na, brav, daß ihr Euch seiner angenommen habt …«

Als sie in den Keller kamen, schlummerte der Major noch immer friedlich auf seinem Kartoffelhaufen, und schlummernd wurde er hinaufgetragen. Huguenau war inzwischen in die Redaktion hinübergelaufen. Viel Bargeld war ja nicht da, bloß die Handkassa und die Marken, das übrige trug er, soweit er es nicht nach Köln an die Bank überwiesen hatte, mit sich herum; doch auch um die Marken wäre es schade …, man konnte nicht wissen, was noch bevorstand … vielleicht wird doch noch geplündert werden! Wie er zurückkam, war der Major schon installiert, ein paar Leute standen um das Auto herum, fragten, was vorgefallen sei, und Flurschütz machte sich eben zur Abfahrt bereit. Huguenau war wie vor den Kopf geschlagen: man wollte den Major ohne ihn wegfahren! Und plötzlich wurde ihm klar, daß er selber unter keinen Umständen hier bleiben durfte, – er hatte nicht die mindeste Lust, dabei zu sein, wenn Esch gebracht werden würde.

»Sofort komme ich, Herr Oberarzt«, rief er, »sofort!«

»Wie? Sie wollen mitfahren, Herr Huguenau?«

»Selbstverständlich, ich muß ja noch die ganze Angelegenheit zu Protokoll geben … nur einen Augenblick, bitte.«

Er stürzte hinauf. Frau Esch kniete jetzt in der Küche und betete. Als Huguenau im Türrahmen auftauchte, rutschte sie auf den Knien heran. Er aber hörte nicht ihre Anrufungen, sondern sprang in sein Zimmer hinüber, packte von seinen Habseligkeiten – es waren ihrer nicht viele –, was ihm erreichbar war, verstaute sie in seinem Fiberköfferchen, setzte sich darauf, damit das Schloß zuschnappe, und dann raste er zurück. »Fertig«, kommandierte er dem Chauffeur, und sie fuhren ab.

Beim Krankenhaus stand Kuhlenbeck bereits vor dem Tore, die Uhr in der Hand: »Also, was ist los?«

Flurschütz, der als erster ausgestiegen war, schaute aus etwas entzündeten Augen zu dem Major hinüber: »Vielleicht eine Gehirnerschütterung … vielleicht Ärgeres …«

Kuhlenbeck sagte: »Wir sind ohnehin das reinste Narrenhaus … und so was nennt sich Lazarett … na, wir werden ja sehen …«

Der Major, der schon während der Fahrt zu dem weißlichen Morgenhimmel hinaufgeblinzelt hatte, war nun völlig erwacht. Als man ihn aus dem Auto hob, wurde er unruhig; er warf sich hin und her, und es war deutlich, daß er nach etwas suchte. Kuhlenbeck war hinzugetreten und hatte sich über ihn gebeugt: »Was machen Sie uns denn für Geschichten, Herr Major?«

Da wurde der Major nun völlig wild. Sei es, daß er Kuhlenbeck erkannte, sei es, daß er ihn nicht erkannte, er packte ihn beim Bart, schüttelte böse daran, fletschte die Zähne, und nur mit Mühe konnte er gebändigt werden. Doch er wurde allsogleich still und friedlich, als Huguenau an die Bahre herantrat. Er nahm wieder Huguenaus Finger, Huguenau mußte neben der Bahre einhergehen und er ließ sich auch nur untersuchen, solange Huguenau dicht an seiner Seite war.

Übrigens brach Kuhlenbeck die Untersuchung sehr bald ab: »Das hat keinen Zweck«, sagte er, »wir geben ihm eine Injektion und dann müssen wir ihn eben wegbringen … evakuiert werden wir ohnehin … also so rasch als möglich nach Köln mit ihm … aber wie? … ich kann hier niemanden entbehren, der Evakuationsbefehl kann jeden Augenblick eintreffen …«

Huguenau meldete sich: »Vielleicht könnte ich den Herrn Major nach Köln transportieren … wenn ich mich so ausdrücken darf, als freiwilliger Krankenpfleger … die Herren sehen ja, daß der Herr Major mit meiner Pflege zufrieden ist.«

Kuhlenbeck dachte nach: »Mit dem Nachmittagszug? … nein, das ist jetzt alles viel zu unsicher …«

Flurschütz hatte eine Idee: »Es muß doch heute ein Lastwagen nach Köln gehen … könnte man das nicht irgendwie arrangieren?«

»Heute geht alles«, sagte Kuhlenbeck.

»Dann darf ich wohl um einen Marschbefehl nach Köln ersuchen«, sagte Huguenau.

Und so geschah es, daß Huguenau, ausgestattet mit richtigen militärischen Dokumenten, am Ärmel eine Rote-Kreuz-Binde, die er sich von Schwester Mathilde ausgebeten hatte, den Major in seine offizielle Obhut bekam und ihn nach Köln brachte. Man hatte die Tragbahre auf das Lastauto gestellt, Huguenau nahm daneben auf seinem Fiberköfferchen Platz, der Major ergriff seine Hand und ließ sie nicht mehr los. Später wurde auch Huguenau von Müdigkeit überwältigt. Er bettete sich, so gut es ging, neben der Tragbahre, schob sein Köfferchen unter den Kopf, und nebeneinander ruhend, Hand in Hand, schliefen sie wie zwei Freunde. So kamen sie nach Köln.

Huguenau gab den Major ordnungsgemäß im Spital ab, wartete geduldig an seinem Bett, bis eine Injektion die Gefahr eines neuerlichen Ausbruchs gebannt hatte, und dann konnte er sich fortstehlen. Aber vom Spitalkommando erwirkte er sich einen Militärfahrschein in seine colmarsche Heimat. Am nächsten Morgen behob er bei der Bank den Guthabenrest des »Kurtrierschen Boten« und tags darauf reiste er ab. Seine Kriegsodyssee, die schöne Ferienzeit war zu Ende. Man schrieb den 5. November.

 


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