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Ein Mann, dem die Arme amputiert worden sind, ist ein Torso. Diese Gedankenbrücke pflegte Hanna Wendling zu benützen, wenn sie sich bemühte, vom Generellen ins Individuelle und Konkrete zurückzufinden. Und am Ende dieser Brücke stand dann nicht Heinrich, sondern, ein wenig torkelnd, Jaretzki mit dem leeren Ärmel in der Tasche des Uniformrocks. Es dauerte lange, bis sie diese Vorstellung klar zu erkennen vermochte, und noch länger, bis sie bemerkte, daß dieser Vorstellung irgendwo eine reale Wirklichkeit entsprechen könnte. Und dann dauerte es noch eine geraume Weile, bis sie sich entschloß, Dr. Kessel anzurufen.

Dieser sehr verlangsamte Vorgang war sicherlich nicht in Hannas besonders moralischer Gesinnung begründet; nein, es war ihr bloß jegliches Gefühl für Zeit und Tempo abhanden gekommen, es war eine Verlangsamung des Lebensstromes, allerdings nicht dessen Aufstauung, sondern weit eher ein Verdunsten und Verflüchtigen ins Nichts, ein Versickern in einem völlig porösen Boden, ein Verschwinden und Vergessen des soeben Gedachten. Und als Dr. Kessel sie verabredungsgemäß in seinem Einspänner zur Stadt abholte, da war es, als hätte sie den Arzt aus irgendeiner eigentümlichen und nicht formulierbaren Besorgnis um den Sohn zu sich gebeten, und nur mit Mühe brachte sie ihr Gedächtnis zur Besinnung. Dann freilich, in plötzlicher Furcht, abermals zu vergessen, fragte sie sofort – sie durchquerten eben den Garten –, wer eigentlich der einarmige Leutnant im Lazarett wäre. Dr. Kessel war nicht gleich im Bilde, doch als er ihr in den Wagen geholfen hatte und nun ein wenig ächzend neben ihr Platz nahm, da fiel es ihm ein: »Natürlich, Sie meinen Jaretzki, natürlich … armer junger Mensch, der wird jetzt wohl an eine Nervenheilanstalt abgegeben werden.« Womit das Erlebnis Jaretzki für Hanna beendigt war. Sie erledigte ihre Einkäufe in der Stadt, expedierte ein Paket an Heinrich, stattete Röders einen Besuch ab. Zu Röders hatte sie auch Walter hinbestellt; sie wollten dann zu Fuß nach Hause gehen. Die unerklärlichen Besorgnisse um Walter waren mit einem Male verschwunden. Ein milder und beruhigter Herbstabend.

Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Hanna Wendling in dieser Nacht von einem griechischen Torso im Flußschlamm geträumt hätte, von einem Marmorblock oder – auch dies hätte genügt, – von einem Kieselstein, über den die Wellen hinspülen. Da sie sich aber eines solchen Traumes nicht erinnerte, wäre es unaufrichtig und unsachlich, darüber etwas auszusagen. Feststeht hingegen, daß sie eine unruhige Nacht hatte, oftmals aufwachte und zu den geöffneten Fenstern hinüberlugte, wartend, daß die Jalousien gehoben und der maskierte Kopf eines Einbrechers sichtbar werden würde. Am Morgen dachte sie daran, dem Gärtnerehepaar das Wirtschaftszimmer neben der Küche einzuräumen, damit für alle Fälle ein Mann im Hause wäre, den man zur Hilfe rufen könnte, verwarf aber den Plan, da der kleine schwächliche Gärtner wahrhaftig keinen Schutz darstellte, und es blieb nur ein starker Rest Unwillen gegen Heinrich zurück, der das Gärtnerhaus so weit entfernt von der Villa angelegt hatte; auch die Anbringung von Fenstergittern hatte er verabsäumt. Doch sie mußte selber zugeben, daß all dieses Unbehagen mit eigentlicher Angst kaum etwas zu tun hatte: es war weit weniger Angst als eine Art Überreiztheit gegen die einsame isolierte Lage der Villa, und bei aller Ablehnung, die Hanna gegen eine menschennähere Behausung sicherlich gehegt und auch geäußert hätte, es war der leere Raum, der das Anwesen umgab, so leer, es war die abgestorbene und wie aus Stücken wieder aufgebaute Landschaft so abgestorben, daß es gleichsam ein Gürtel der Leere wurde, welcher sich immer enger um die Einsame zwängte, Gürtel, welcher bloß durch einen Gewaltstreich, durch ein Zerbrechen oder einen Durchbruch oder einen Einbruch wieder gesprengt werden konnte. In der Zeitung hatte sie kürzlich von der russischen Revolution und von den Sowjets unter dem Titel »Der Einbruch von unten« gelesen; dieses Wort war ihr in der Nacht eingefallen und kam ihr wie ein Gassenhauer immer wieder ins Ohr. Jedenfalls wird es gut sein, bei Schlosser Kruhl die Preise für Fenstervergitterungen einzuholen.

Die Nächte wurden länger und der kalte Mond schwamm wie ein Kieselstein im Himmel. Trotz der empfindlichen Nachtkühle konnte Hanna sich nicht dazu aufraffen, die Fenster zu schließen. Fürchterlicher noch als ein lautloser Einbrecher erschien ihr das Klirren, das die eingedrückten Fensterscheiben verursachen würden, und diese eigentümliche Spannung, die nicht eigentlich Angst war, dennoch in jedem Moment an der Kippe stand, in Panik umzuschlagen, verleitete sie zu scheinbar romantischen Haltungen. So lehnte sie nun beinahe allnächtlich an dem geöffneten Fenster und schaute hinaus auf die tote Zone des Herbstes, merkwürdig festgehalten, beinahe angesaugt von der Leere der Landschaft, und die Angst, die eben dadurch aller Angst entkleidet wurde, war ein leichter Schaum, – das Herz trug sich leicht wie eine Blume und die Starre der Einsamkeit war aufgefaltet in geöffneter Freiheit des Atmens. Und dies war beinahe wie eine beglückende Untreue gegen Heinrich, es war ein Zustand, den sie als das strikte Gegenteil eines andern und vergangenen Zustandes empfand … ja, welches Zustandes nur? und dann merkte sie, daß es das Gegenteil dessen war, was sie einst das physische Ereignis genannt hatte. Und das Gute war, daß das physische Ereignis in diesen Augenblicken völlig vergessen war.

 


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