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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (1)

Zu den vielen Unduldsamkeiten und Beschränktheiten, deren die Vorkriegszeit eine Fülle besaß und deren wir uns heute mit Recht schämen, gehört wohl auch das gänzliche Unverständnis gegenüber allen Phänomenen, die auch nur ein wenig außerhalb einer sich völlig rational dünkenden Welt lagen. Und weil man damals gewöhnt war, bloß die abendländische Kultur und ihr Denken als verpflichtend anzusehen, alles übrige aber als minderwertig abzutun, so war man leichthin geneigt, alle Phänomene, die der rationalen Eindeutigkeit nicht entsprachen, der Kategorie des Unter-Europäischen und Minderwertigen zuzurechnen. Und trat nun gar ein solches Phänomen, wie etwa die Heilsarmee, im kleinen Gewande des Friedens und der flehentlichen Bitte auf, da war des Spottens kein Ende. Man wollte Eindeutiges und Heroisches, mit andern Worten Ästhetisches sehen, man glaubte, daß dies die Haltung des europäischen Menschen sein müsse, man war in einem mißverstandenen Nietzscheanismus befangen, mochten auch die meisten den Namen Nietzsche niemals vernommen haben, und der Spuk fand erst ein Ende, als die Welt so viel Heroismus zu sehen bekam, daß sie ihn vor lauter Heroismus nicht mehr zu sehen vermochte.

Heute geselle ich mich zu jeder Heilsarmeeversammlung, die ich auf der Straße antreffe, ich lege gerne etwas auf den Sammelteller und oft lasse ich mich in Gespräche mit den Heilssoldaten ein. Nicht, als ob ich von den etwas primitiven Heilslehren bekehrt worden wäre, doch ich meine, daß wir, die wir einst in Vorurteilen befangen waren, die ethische Pflicht haben, unsere Verfehlungen, wo immer es angeht, wieder gut zu machen, auch wenn diese Verfehlungen bloß den Anschein ästhetischer Verworfenheit hätten und wir überdies die Entschuldigung unserer damaligen großen Jugend ins Treffen führen können. Allerdings drang solche Erkenntnis mir nur langsam ins Bewußtsein, um so mehr, als man während des Krieges den Heilsarmeeleuten bloß selten begegnete. Ich hatte zwar gehört, daß sie eine ausgedehnte caritative Tätigkeit entfalteten, aber ich war fast überrascht, als ich in einer der äußeren Straßen Schönebergs das Heilsarmeemädchen traf.

Ich dürfte wohl einen etwas saloppen und hilfsbedürftigen Eindruck gemacht haben, indes mein freundlich überraschtes Lächeln ermunterte sie, mich unter einem taktvollen Vorwand anzusprechen: sie bot mir eine der Flugschriften an, von denen sie einen Pack unterm Arm trug. Vielleicht wäre sie enttäuscht gewesen, wenn ich ihr einfach ein Blatt abgekauft hätte; ich sagte also: »Ich habe leider kein Geld.« – »Das macht nichts«, erwiderte sie, »kommen Sie zu uns.«

Wir gingen durch mehrere typische Vorstadtstraßen, vorbei an unverbauten Grundstücken, und ich redete vom Kriege. Ich glaube, daß sie mich für einen Drückeberger hielt, oder gar für einen Deserteur, der in einer Art Geständniszwang von dem Thema nicht loskam, denn sie war offenkundig bemüht, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken. Doch ich blieb bei meinem Thema, warum, vermöchte ich heute nicht mehr zu sagen, und schimpfte weiter.

Plötzlich hatten wir uns verirrt. Wir waren auf einem schmalen Weg um einen Fabrikkomplex herumgegangen, und als wir an die Ecke kamen, zeigte sich's, daß der Komplex noch lange kein Ende hatte. Wir bogen also links in einen kleinen Pfad ab, den ein müßiger, etwas schlapper Stacheldraht begrenzte, – unverständlich, was es hier zu begrenzen gab, da das Land dahinter aus bloßem Kehricht und Abfall bestand, aus Scherben, verbeulten Gießkannen, überhaupt aus vielerlei Gefäßen, die man aus unerfindlichen Gründen an diesen schwer erreichbaren und entlegenen Fleck getragen hatte, – und schließlich endete dieser Pfad im freien Felde, zwar keinem richtigen Felde, denn es wuchs hier nichts, aber immerhin einem Felde, das vielleicht vor dem Kriege, vielleicht aber noch im Vorjahr geackert worden war. Davon zeugten die hartgewordenen Ackerfurchen, die wie gefrorene lehmige Wellen aussahen. Gesät war dann wohl nimmer worden. In der Ferne zog ein Eisenbahnzug langsam über die Felder.

Hinter uns lagen die Fabriken, lag die große Stadt Berlin. Unsere Situation war also keine verzweifelte, so scharf auch die Nachmittagssonne auf uns herniederbrannte. Wir beratschlagten, was zu tun wäre. Weiterwandern bis zum nächsten Dorf? »So können wir uns nirgends sehen lassen«, sagte ich, und folgsam versuchte sie, den Staub von ihrem dunklen Uniformrock abzuklopfen. Es war der rauhe Stoff, aus dem die Uniformen der Schaffnerinnen angefertigt wurden, Ersatzstoff mit Papiergarn durchschossen.

Da entdeckte ich einen Pflock, der dort eingerammt war wie ein Mal. Dort begaben wir uns hin. Wir saßen abwechselnd im schmalen Schatten des Pflockes. Wir sprachen wenig, bloß davon, daß ich an Durst litt. Und als es kühler geworden war, fanden wir in die Stadt zurück.

 


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