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Zerfall der Werte (4)

Gewiß wird nicht nur der Künstler vom Stil seiner Epoche getragen, gewiß durchdringt der Stil alles Tun der Zeitgenossen, gewiß erfährt der Stil seinen Niederschlag nicht nur im Kunstwerk sondern in allen Werten, die die Kultur einer Zeit ausmachen und von denen das Kunstwerk bloß ein geringfügiger Teil ist, und trotzdem steht man ziemlich hilflos vor der konkreten Frage, inwieweit sich der Stil in einem Durchschnittsmenschen, etwa in einem Agenten von der Art Wilhelm Huguenaus, verkörpern sollte. Hat der Mann, der mit Schläuchen und Textilien handelt, ein Gemeinsames mit einem Stilwillen, wie er in den Kaufhausbauten Messels oder der Turbinenhalle Peter Behrens immerhin aufscheint? Sein persönlicher Geschmack wird doch sicherlich zinnenbekrönte Villen mit vielen Nippes darin vorziehen, und selbst wenn er es nicht täte, er bliebe dennoch Teil des Publikums, das, wie immer es sich auch verhält, vom Künstler durch eine Kluft getrennt ist.

Wenn man aber so einen Menschen, wie Huguenau einer ist, näher betrachtet, so sieht man, daß es auf die Kluft zwischen ihm und dem Künstler gar nicht ankommt. Wohl ist anzunehmen, daß in Epochen ausgesprochenen Stilwillens das Unverständnis zwischen Künstler und Zeitgenossen weniger kraß war als heute, daß also ein neues Bild Dürers in der Sebalduskirche allgemeine Freude und Bewunderung auch bei den Huguenaus jener Zeit erregt hat; denn manches spricht dafür, daß damals Künstler und Zeitgenosse von einer ganz andern Lebensgemeinschaft umschlossen waren und daß das Verständnis, das der Maler für den Tuchscherer und den Sporer hatte, mindestens ebenso eindringlich war wie die Freude, die diese beim Betrachten seiner Bilder empfanden. Natürlich ist dies unkontrollierbar, und es mag auch sein, daß manches Revolutionäre bei den Zeitgenossen auf wenig Anerkennung stieß; so dürfte es etwa Grünewald ergangen sein. Aber derartige Verschiebungen sind nicht sehr wesentlich, und ob nun im Mittelalter zwischen Künstler und Zeitgenossen Verständnis geherrscht hat oder nicht, ist gleichgültig angesichts der Tatsache, daß sowohl Verständnis als Unverständnis genauso Ausdruck des legendären »Zeitgeistes« sind wie das Kunstwerk selber oder das sonstige Tun der Zeitgenossen.

Ist dem aber so, dann ist es auch gleichgültig, wohin der architektonische und sonstige Geschmack eines Agenten vom Schlage Huguenaus gerichtet ist, und es ist auch ohne Bedeutung, daß Huguenau ein gewisses ästhetisches Vergnügen an Maschinen besaß: wichtig allein ist die Frage, ob sein sonstiges Tun, ob sein sonstiges Denken von den gleichen Gesetzen bewegt wird, die an einer andern Stelle des Lebens einen ornamentlosen Stil erzeugten oder die Relativitätstheorie hervorbrachten oder zu den Gedankengängen des Neukantianismus führten, – mit andern Worten, ob auch das Denken einer Epoche den Stil in sich trägt, jenem Stil unterworfen ist, der im Kunstwerk faßlich in Erscheinung tritt; ob also die Wahrheit, als Realisat des Denkens, nicht genauso den Stil der Epoche trägt, in der sie gefunden wird und in der sie gilt, gleich allen anderen Werten dieser Epoche.

Und es kann auch gar nicht anders sein. Denn nicht nur daß von einem gewissen Gesichtspunkt aus gesehen, die Wahrheit ein Wert unter allen anderen Werten ist, es ist auch das Tun des Menschen unter die Leitung der Wahrheit gestellt, ist sozusagen von der Wahrheit durchtränkt: was immer er tut, es ist ihm in jedem Augenblick plausibel, er motiviert es sich mit Gründen, die ihm Wahrheit sind, er stellt es unter eine logische Beweiskette, er hat – zumindest für den Augenblick, in dem es geschieht – immer richtig gehandelt. Ist also sein Tun dem Stil unterworfen, so muß auch sein Denken es sein: ob hiebei (praktisch und erkenntnistheoretisch) das Tun dem Denken vorausgegangen ist oder das Denken dem Tun, das Primat des Lebens dem Primat der Ratio, das sum dem cogito, das cogito dem sum, das braucht nicht entschieden zu werden, – erfaßbar bleibt bloß die rationale Logik des Denkens, während die irrationale Logik des Tuns, die jeden Stil ausmacht, bloß am geschaffenen Werk, bloß am Resultat erkennbar ist.

Mit dieser sehr innigen Verbindung zwischen dem Wesen des logischen Denkens und den Werten und Unwerten, die vom Tun hervorgebracht werden, wird aber zugleich das Denkschema, das einen Huguenau beherrscht und ihn zwingt, so und nicht anders zu handeln, das ihm seine geschäftlichen Erwägungen vorschreibt und ihn Verträge so und nicht anders konzipieren läßt, – es wird all die innere Logik eines Huguenau in die Gesamtlogik der Epoche eingeordnet und in einen wesenhaften Zusammenhang zu jener Logik gesetzt, von der der produktive Geist der Epoche und ihr sichtbarer Stil durchdrungen ist. Und mag auch dieses rationale Denken, mag auch diese rationale Logik bloß ein dünner, gewissermaßen eindimensionaler Faden sein, der um die Vieldimensionalität des Lebens herumzulegen ist, es ist das Denken, schwebend im Abstraktum des logischen Raumes, dennoch die Abbreviatur für die Vieldimensionalität des Geschehens und seines Gesamtstils, nicht viel anders als das Ornament im Körperraum die Abbreviatur des sichtbaren Stilresultates ist, die Abbreviatur aller Werke, die den Stil tragen.

Huguenau ist ein Mensch, der zweckmäßig handelt. Zweckmäßig hat er seinen Tag eingeteilt, zweckmäßig führt er seine Geschäfte, zweckmäßig konzipiert er seine Verträge und schließt sie ab. Alldem liegt eine Logik zugrunde, die durchaus ornamentfrei ist, und daß solche Logik allenthalben nach Ornamentfreiheit verlangt, scheint kein allzu gewagter Schluß zu sein, ja, es scheint sogar so gut und so richtig wie alles Notwendige gut und richtig ist. Und doch ist mit dieser Ornamentfreiheit das Nichts, ist mit ihr der Tod verbunden, verbirgt sich hinter ihr das Monstrum eines Sterbens, in dem die Zeit zerfallen ist.

 


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