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Umgeben von der klaren Luft, die den Frühling vorbereitet, zieht der Deserteur waffenlos durch die belgische Landschaft. Eile würde ihm nicht frommen, bedächtige Vorsicht frommt ihm besser, und Waffen würden ihn nicht schützen; er geht sozusagen als nackter Mensch durch die Gewalten hindurch. Sein unbefangenes Gesicht ist ihm besserer Schutz als Waffen oder eilige Flucht oder falsche Ausweispapiere.

Belgische Bauern sind mißtrauische Kerle. Vier Jahre Krieg haben ihren Charakter nicht veredelt. Ihr Korn, ihre Kartoffeln, ihre Pferde und Kühe haben dran glauben müssen. Und wenn ein Deserteur sich zu ihnen flüchten will, so sehen sie ihn doppelt mißtrauisch an, ob es nicht der Mann ist, der einmal mit dem Gewehrkolben ans Hoftor getrommelt hat. Und wenn so einer auch ein erträgliches Französisch spricht und sich als Elsässer ausgibt, es hilft ihm in neun von zehn Fällen nicht viel. Wehe dem, der bloß als Flüchtling und trauriger Hilfeheischender durch das Dorf wanderte. Wer aber, wie Huguenau, ein treffendes Scherzwort rasch auf der Lippe hat, wer mit strahlend freundlichem Gesicht ins Gehöft tritt, der kann leicht ein Lager auf dem Heuboden erhalten, der mag des Abends mit der Familie in der dunklen Stube sitzen und von den Gewalttaten der Preußen erzählen und wie sie es im Elsaß getrieben haben, er wird Beifall finden, er erhält auch sein Teil von den spärlichen versteckten Vorräten, und wenn er Glück hat, besucht eine Magd den Fremdling im Heu.

Noch vorteilhafter allerdings ist es, sich Eingang in die Pfarrhöfe zu verschaffen, und Huguenau hatte bald herausgefunden, daß einem die Beichte dazu verhelfen konnte. Er legte sie in französischer Sprache ab, wobei er geschickt die Sünde des gebrochenen Soldateneides mit der Erzählung seines bejammernswürdigen Schicksals verquickte. Freilich war es nicht immer angenehm: einmal geriet er an einen Pfarrherrn, einen hageren, großen Mann von so asketischem und leidenschaftlichem Aussehen, daß er sich kaum getraute, am Abend nach der Beichte den Pfarrhof aufzusuchen, und als er den strengen Mann sah, der im Obstgarten Frühjahrsarbeiten verrichtete, wäre er am liebsten wieder davongegangen. Doch der Priester trat rasch auf ihn zu: »Suivez-moi«, befahl er barsch und führte ihn ins Haus.

In einer Dachkammer untergebracht, blieb Huguenau bei schmaler Kost beinahe eine Woche in dem Pfarrhof. Mit einer blauen Bluse versehen, arbeitete er im Garten; er wurde zur Messe geweckt, und er durfte mit dem schweigsamen Pfarrer an einem Tisch in der Küche essen. Seiner Flucht wurde keine Erwähnung getan, und das Ganze war wie eine Prüfungszeit, die Huguenau wenig behagte. Er hatte sogar schon erwogen, dem Asyl trotz seiner relativen Sicherheit den Rücken zu kehren und die gefährliche Wanderschaft fortzusetzen, da lag – es war der achte Tag nach seiner Ankunft – ein Zivilanzug in seiner Kammer. Er möge dies nehmen, sagte der Pfarrer, und es stünde ihm frei, zu gehen oder zu bleiben; nur könne er ihn nicht länger verköstigen, denn das Brot reiche nicht. Huguenau entschied sich fürs Weiterwandern, und als er zu zungenfertiger Dankesrede ansetzte, unterbrach ihn der Priester: »Haïssez les Prussiens et les ennemis de la sainte religion. Et que Dieu vous bénisse.« Er hob zwei segnende Finger, machte das Zeichen des Kreuzes, und die Augen in seinem knochigen Bauerngesicht sahen voll Haß in eine Ferne, in der sie die Preußen und Protestanten vermuteten.

Als Huguenau aus dem Pfarrhof trat, wurde ihm klar, daß es nun einen regelrechten Fluchtplan zu entwerfen galt. Hatte er sich früher oftmals in der Nähe höherer Kommandostellen herumgetrieben, wo er in der Masse der Soldaten untertauchen konnte, so war dies jetzt unmöglich geworden. Im Grunde bedrückte ihn das Zivilgewand; es war wie eine Mahnung, in den Frieden und in den Alltag zurückzukehren, und daß er es auf Befehl des Pfaffen angelegt hatte, erschien ihm jetzt als Dummheit. Das war ein unbefugter Eingriff in sein Privatleben gewesen, und dieses Privatleben hatte er sich wahrlich teuer genug erkauft. Betrachtete er sich auch nicht eben als Angehörigen des kaiserlichen Heeres, so war er als Deserteur mit diesem Heere doch auf eine eigentümliche, man möchte wohl sagen, negative Art verbunden, und sicherlich war er ein Angehöriger des Krieges, dessen Vorhandensein er guthieß. Er hatte es auch nie leiden mögen, wenn die Leute in den Kantinen und Wirtschaften auf den Krieg und auf die Zeitungen schimpften oder behaupteten, daß die Zeitungen von Krupp gekauft seien, um den Krieg zu verlängern. Denn Wilhelm Huguenau war nicht nur Deserteur, sondern auch Kaufmann, und er bewunderte alle Fabrikanten, weil sie die Waren erzeugen, mit denen die übrigen Menschen handeln. Wenn also Krupp und die Kohlenbarone Zeitungen kauften, so wußten sie, was sie taten, und dies war ihr gutes Recht, so gut es sein eigenes war, Uniform zu tragen, solange es ihm beliebte. Nichts also konnte dafür sprechen, ins Hinterland zurückzukehren, in das der Pfaffe ihn mitsamt seinem Zivilgewand offenbar hatte schicken wollen, nichts sprach dafür, in eine Heimat zurückzukehren, in der es keine Ferien gab und die den Alltag bedeutete.

So blieb er im Etappengebiet. Er wandte sich gegen Süden, vermied die Städte, suchte die Dörfer auf, kam durch den Hennegau, kam in die Ardennen. Damals hatte der Krieg schon viel an Korrektheit eingebüßt, und man war den Deserteuren nicht mehr so scharf auf den Fersen wie ehedem, – es waren ihrer zu viele und man wollte es nicht wahr haben. Aber damit ist noch nicht erklärt, daß Huguenau unbehelligt aus Belgien hinausgelangte; viel eher mag dies auf die schlafwandlerische Sicherheit zurückzuführen sein, mit der er sich in dieser Gefahrenzone fortbewegte: er schritt dahin in der klaren Luft des Vorfrühlings, er schritt wie unter einer Glocke voll Unbekümmertheit, abgegrenzt von der Welt und doch in ihr, und er machte sich keine Gedanken. Er kam von den Ardennen ins deutsche Land, kam in die finstere Eifel, wo es noch recht winterlich war und das Gehen beschwerlich. Die Bewohner kümmerten sich nicht um ihn, sie waren unwirsch und verschlossen und haßten jeden Mund, der ihnen ihr bißchen Essen wegnehmen wollte. Huguenau mußte die Bahn benützen, er mußte das Geld angreifen, das er bisher gespart hatte. Der Ernst des Lebens trat in neuer und veränderter Form an ihn heran. Es mußte etwas geschehen, um die Ferienzeit zu sichern und zu verlängern.

 


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