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Zehntes Kapitel.

Dittmar Dassel war mit der Stadtbahn nach Berlin zurückgefahren. Prinz Inningen hatte ihn aufgefordert, auf seinem Gig Platz zu nehmen, aber Dittmar hatte gedankt. Er zog sich mehr und mehr aus den Kreisen seines frühern Verkehrs zurück. Es ging nicht anders. Er hatte keine Lust, sich unausbleiblichen Verführungen auszusetzen, und noch weniger Lust, sich da und dort freihalten zu lassen. Er spürte auch, daß ihn noch manches andre, was weniger äußerlicher Natur war, von seinen Freunden von einst zu trennen begann.

Er fand sich leichter in das Unabänderliche, als er geglaubt hatte. Kämpfe, Unannehmlichkeiten und tiefe Entmutigungen blieben nicht aus. Als er eines Tages seine Uhr in das Pfandhaus tragen mußte, um sich Geld zu verschaffen, hatte er das Gefühl, als ob er ein Verbrechen begehe. Er schämte sich entsetzlich, schaute sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, ehe er das Haus des Schreckens betrat, und wurde rot, als ihn der Pfandleiher mit einem Blicke musterte, in dem etwas wie Mißtrauen lag. Er hätte sich nur an Gerda oder Hans wenden brauchen – das aber wollte er nicht. Es sollte niemand wissen, daß er in Not war.

Uebrigens war es nicht allzu schlimm mit dieser Not. Allgemach lernte Dittmar sich einrichten. Er hatte anfänglich bei dem Radierer Steffens, dem Chef der Bilderabteilung im Hause Volcker, ein Zimmer bewohnt und sich dort sehr wohl gefühlt. Anfang Januar heiratete Steffens und trat damit in ein nahes Verwandtschaftsverhältnis zu den Brüdern Volcker. Hans war diese Heirat in hohem Grade unangenehm, und auch Bertram kam sie nicht erwünscht. Aber da Malwine fest dabei verblieb, sich ihr Leben nach eigenen Entschlüssen auszubauen – eine stark selbständige Natur war sie immer gewesen – so mußten die Volckers sich mit dem neuen Schwager abfinden, zumal auch Malwine einen Teil ihres Vermögens in das Zeitungsunternehmen gesteckt hatte. – Steffens wurde Prokurist des Hauses, blieb aber der gleiche bescheidene Mann, und war im Grunde genommen froh, daß es zwischen ihm und den Schwägern nie zu verwandtschaftlicher Vertraulichkeit kam; man nannte sich »Sie« und »Herr« wie ehemals.

Dittmar hatte sich nach der Verheiratung des Prokuristen im Südwesten der Stadt eine andre Wohnung gemietet, die ihm nicht gefiel. Er sprach darüber gelegentlich mit Steffens, und nun bot dieser ihm an, in das Haus zu ziehen, das er nach seiner Verheiratung gekauft hatte. Es war da noch eine hübsche kleine Gartenwohnung frei, behaglich und wohlfeil, wie für ihn geschaffen. In der That gefiel Dittmar das Quartier außerordentlich. Er war hier völlig ungeniert; die Rücksichten, die er auf seine Wirtsleute zu nehmen hatte, waren nur ein leichter Zwang, der ihn vor der Verbummelung schützte. Die Mittagsmahlzeit nahm er außer dem Hause, speiste auch häufig bei Gerda, bei der immer der Tisch für ihn mitgedeckt war; abends war er viel daheim.

Er begann plötzlich die Einsamkeit zu lieben. Das rauschende Gesellschaftsleben von früher gestatteten ihm seine Verhältnisse nicht mehr. Er vermied geflissentlich den Umgang mit den alten Freunden, auch mit denen, die den Grund seiner Entlassung aus dem diplomatischen Dienst nicht als ein ehrenrühriges Vergehen auffaßten. Auf dem »Morgenblatt« hatte er nur die Sportrubrik zu redigieren und über interessante Rennen aus eigener Anschauung kleine, lebhaft gefärbte Berichte zu schreiben. Sie fielen so glänzend aus, waren so originell gefaßt, so reizvoll stilisiert und dabei doch so fachmännisch gehalten, daß das leitende Sportblatt Berlins ihm anbot, in die Redaktion einzutreten. Aber Dittmar lehnte ab. Er wollte Zeit zu eigener Arbeit behalten. Der Erfolg seiner Schilderungen aus Japan und der Übersetzung des altjapanischen Romans mit den Bildern von Sukánobu hatten ihn ermutigt, sich einmal an einer längeren selbständigen Erzählung zu versuchen. Die Arbeit machte ihm große Freude. Er zweifelte noch immer an seiner schriftstellerischen Begabung, hatte aber wenigstens die Scheu überwunden, vor die Oeffentlichkeit zu treten. Und die Lust an seiner Arbeit ließ ihn auch seinen Sturz aus der Höhe leichter ertragen, den er am schmerzlichsten draußen auf dem Rennplatz empfand, wenn das altgewohnte glänzende Leben ihn von allen Seiten umflutete und er an die Zeiten zurückdachte, da er seine eigenen Pferde am Startpfosten entließ und über die grüne Bahn führte.

Sein Redaktionssitz befand sich im Zimmer des Lokalredakteurs, eines alten Journalisten Namens Hase, dem die vornehme Nachbarschaft um so mehr imponierte, als Dittmar auch noch der Schwager seines Brotgebers war. Das ganze erste Stockwerk eines Nebenflügels des Volckerschen Geschäftshauses war der Redaktion des »Morgenblattes« eingeräumt worden, aber nur Doktor Rempler, der Chef, sowie der Feuilletonredakteur Doktor Eschwege hatten ihre eigenen Zimmer. Die übrigen Redakteure waren »paarweise zusammengekoppelt«, wie Dittmar sich ausdrückte. Er war selbstverständlich allen vorgestellt worden, kannte aber die wenigsten näher. Nur Doktor Eschwege machte ihm zuweilen einen Begrüßungsbesuch, weil er Dittmar als »Stilkünstler« schätzte. Er war ein langer, blonder Herr von ausgeprägt ästhetischem Empfinden, schrieb jedes Jahr ein Versdrama, das immer aufgeführt wurde und immer nur je drei Vorstellungen erlebte, und sah seine Lebensaufgabe darin, die neue Richtung in Litteratur und Kunst energisch zu bekämpfen. Doch hinderte ihn seine ästhetische Seele nicht, außerordentlich viel Bier zu trinken, für das er aus Gründen der Volksernährung schwärmte.

Den Chefredakteur bekam man nur selten zu Gesicht. Er verschanzte sich in seinem Zimmer wie in einer uneinnehmbaren Burg, und ein kleiner Zeitungsboy mußte vor seiner Thüre Wache halten und durfte nur einlassen, wer sich vorher ordnungsgemäß anmeldete. Diese Einrichtung war eingeführt worden, nachdem Graf Breesen einmal drei Stunden lang mit Rempler über die sittliche Hebung der Kellnerinnen konferiert hatte. Der Effekt war eine fürchterliche Migräne Remplers gewesen und die weitere Folge ein höchst unangenehmer Lapsus im Leitartikel der Morgennummer: da hatte Rempler nämlich ein Gesetz citiert, das es gar nicht gab.

Den alten Hase hatten sich die Volckers aus München verschrieben. Er war ein drolliges, kleines Kerlchen mit ungeheuer hoher Stirn und einem weißgrünen Schnurrbart in dem zerknitterten, lederfarbenen Gesicht. In seinen hohen Vatermördern, dem langschößigen braunen Rocke, den stets zu kurzen Beinkleidern und mit der schwarzen, vielgefalteten Halsbinde, die er an Stelle der Krawatte zu tragen pflegte, sah er wie einer von Anno Achtundvierzig aus; auch der riesige Schlapphut deutete symbolisch auf das tolle Jahr hin. Doch war Hase nichts weniger als revolutionär gesinnt, neigte vielmehr stark nach rechts und war so sanften Gemüts, daß er aus den Berichten über Mordthaten und Unglücksfälle, die ihm die Reporter brachten, alles Krasse und Abscheuliche strich. Da er dem Grundsatze huldigte, daß die Versöhnlichkeit im Gegensatze zu dem ewigen Kampfe in der Natur das einzig Menschenwürdige sei, so pflegte er die Berichte der Reporter auch häufig derartig umzuarbeiten, daß die schrecklichen Geschehnisse, die sie vermeldeten, einen gewissen Anflug von Harmlosigkeit erreichten. Immer gelang ihm das freilich nicht, und so kam es zuweilen vor, daß der geehrte Leser sich nach der Lektüre eines solchen Artikels den Kopf darüber zerbrechen konnte, was denn nun eigentlich geschehen sei. Abgesehen von dieser Eigenheit war er ein sehr tüchtiger Redakteur und von großem Fleiße; die Kollegen nannten ihn »die Biene«.

Als Dittmar bei ihm eintrat, hatte er gerade mit dem Gerichtsreferenten zu thun, schnellte aber doch in die Höhe und rief mit seiner eigentümlich feinen Stimme: »Servus, Herr Graf! Gut geschlafen, Herr Graf?« – und wandte sich hierauf an den Berichterstatter zurück: »Herr Schlottke, ich kann keine Bandwürmer gebrauchen. Das ist wieder ein ganzer Roman, aber kein Referat.«

»Herr Redakteur,« sagte Schlottke, »die Verhandlung ist von höchstem Interesse. Ein Mordversuch aus Eifersucht, mit pikanten Streiflichtern auf das Treiben gewisser Lebemannskreise.«

»Schlottke, wenn Sie schon von ›pikant‹ sprechen, ist's überhaupt aus. Das ist etwas für den ›Volksboten‹, aber nicht für uns. Lieber langweilig als pikant. Das Lederne ist noch lange nicht so schlimm als das Schlüpfrige. Wir haben Rücksichten zu nehmen. Und dann: Sie erwähnen das ›Treiben gewisser Lebemannskreise‹ …«

»Jawohl, der besten Gesellschaft angehörig, Herr Hase!«

»Wir gehören aber auch zur besten Gesellschaft, lieber Herr Schlottke, und es ist uns unangenehm, immer nur auf die Splitter im eigenen Auge aufmerksam gemacht zu werden. Können wir das Pikante und die Lebemannskreise nicht 'rausstreichen?«

Schlottke fuhr sich in die Haare. »Herr Redakteur, wenn ich Ihnen einen Bericht von hundertundzwanzig Zeilen bringe, werden jedesmal siebzehn daraus!«

»Kürze ist des Daseins Würze, Schlottke. Außerdem bekommen Sie ja ein Fixum, sind also nicht auf zeilenweises Honorar angewiesen.«

»Aber mein Zeichen steht vor den Artikeln; einen gewissen litterarischen Ehrgeiz hab' ich doch auch.«

»Confutse sagt, es gleiche der Ehrgeiz der schwarzen Schlange. Warum, weiß ich nicht. Es genügt aber. Herr Schlottke, bezähmen Sie sich …«

Dittmar war an derartige Scenen gewöhnt. Er schrieb währenddessen ruhig seinen Bericht, ohne sich stören zu lassen. In diesen Nachmittagsstunden ging es stets besonders lebhaft im Zimmer des Lokalredakteurs zu. Es gehörte schon die Ruhe Hases dazu, nicht nervös zu werden. Er schäumte nur auf, wenn die auf seinen Tisch niedergelegten Referate unlesbar geschrieben waren. Ein alter Reporter Namens Bieberstein leistete in dieser Beziehung das Menschenmögliche. Hase hielt einen Zettel von ihm in der Hand, dünn wie Seidenpapier und mit blauen Punkten bedeckt. »Bieberstein, was soll ich damit?«

»Ein Bericht über einen unerklärlichen Vorfall in einer spiritistischen Sitzung, Herr Hase.«

»Lieber Bieberstein, das ist kein Bericht, sondern ein Stück von einer alten Tüte, in der Waschblau gewesen zu sein scheint.«

»Herr Hase, das ist mit Blaustift durchgeschrieben.«

»Aber das ist nicht Deutsch, sondern Keilschrift. Vielleicht auch koltekisch oder es sind Runen. Es ist so unerklärlich wie Ihr Spiritismus. Bin ich ein Zeichendeuter? Bin ich die Pythia? Herr Bieberstein, fünf Pfennig pro Zeile mehr, wenn Sie aus dem Unerklärlichen ein Ereignis machen. Hier haben Sie Ihre Durchschrift wieder …«

Dittmar mußte lächeln. Ein fast ununterbrochener Strom lokaler Neuigkeiten floß in dieses Gemach. Ein Dienstmann brachte die Meldung, in der Lindenstraße sei ein Kind von der Pferdebahn überfahren worden und sofort tot gewesen. Hase verhörte den Mann, brachte den Bericht zu Papier und schrieb eine Honorarquittung über drei Mark aus – »bitte, an der Kasse zahlbar, Vorderhaus, parterre links …« Einer der Laufjungen kam, mit einer Visitenkarte, auf der stand: » Jeanne de Vrys, Étoile de Paris«, und darunter in Bleistift: » aura demain son début au théâtre des Reichshallen et serait bien contente de pouvoir parler à Monsieur le Rédacteur.« Aber dieser Stern von Paris saß ruhig unten im Wagen und erwartete den Herrn Redakteur am Schlage. »Das geht mir über die Hutschnur,« schrie Hase; »o Wischnu und Kali, gebt meiner Seele fromme Geduld! Mein Sohn, geh hinunter zu der Dame und sage ihr meine Empfehlung und ich hätte keine Zeit. Sollte sie französisch mit dir parlieren, so antworte ebenso und mit gutem Accent …«

Als der Laufbursche aus der Thüre wollte, trat gerade Doktor Sensenschmidt ein, der Reisende der Partei, mit offenem Paletot und praller weißer Weste, den blanken Cylinder in der Hand. »Habe die Ehre, Herr Hase.«

»Habe die Ehre, Herr Doktor.«

»Lieber Herr Hase, Pardon – aber das ist unrecht.«

»Was, wenn ich fragen darf?«

»In dem Bericht über die große Versammlung in Neu-Ruppin ist das Wesentlichste in meiner Rede einfach fortgelassen worden.«

»Geht den Kollegen Ziegler an, Herr Doktor, der die Provinz bearbeitet, nicht mich.«

»Ziegler behauptet, Ihr lokaler Teil nähme ihm allen Raum fort, er wüßte nicht mehr wohin.«

»Ich beschränke mich auf das Aeußerste, Herr Doktor.«

»Dann muß eben mehr Papier gegeben werden. Ich kann verlangen, daß meine Reden nach dem Stenogramm reproduziert werden, daß wenigstens das Wichtigste nicht herausfällt. Ich stehe seit zwölf Jahren im parlamentarischen Leben.«

»Und ich bin seit achtzehn Jahren Redakteur, Herr Doktor Sensenschmidt, und habe Klagen wie die Ihren alle Tage zu hören. Ich bedaure, nichts dagegen thun zu können. Wollen Sie, daß Ihrer Reden wegen ein Bogen mehr gegeben wird, so müssen Sie sich schon an Herrn Bertram Volcker wenden …«

Da sich in diesem Augenblick der Feuilletonredakteur Doktor Eschwege zeigte, so trat der moderne Demosthenes zurück, begrüßte Dittmar, zog sich einen Stuhl neben ihn und begann, sehr gegen Willen und Wunsch des Schreibenden, mit ihm zu plaudern.

»Lieber Kollege,« sagte der Feuilletonredakteur zu Hase, »Sie hatten doch gestern Nachtdienst?«

»Leider, lieber Kollege.«

»Nun sehen Sie mal an, was Sie aus dem laufenden Roman gemacht haben! Die letzten Worte lauten: ›Es war ein Angstschrei aus tiefster Seele, der in dem leisen und wimmernden Flehen erstarb: Fortsetzung folgt.‹ Kollege, ich habe mich schon beim Frühstück totschämen wollen. Warum haben Sie denn nicht noch die nächste Zeile mitsetzen lassen, ehe das ominöse ›Fortsetzung folgt‹ an die Reihe kam?«

»Bin nicht dran schuld, Kollege. Es stand noch Satz genug. Der Metteur hat falsch umbrochen. So etwas kommt vor; trösten Sie sich.«

»Sie haben gut reden. Der Autor schreibt mir fünf Seiten Injurien; Volcker eins telephonierte schon heut früh um acht Uhr in meine Wohnung, ob ich mein ästhetisches Empfinden verloren hätte. Der Kladderadatsch wird über uns herziehen; im Aufsichtsrat wird man wüten. Prinzipiell bin ich so wie so gegen das Zerfleischungssystem der Feuilletonromane mit seinen winzigen Portionen – und nun noch diese groteske Ungeheuerlichkeit!«

»Bei allen Göttern Griechenlands, Kollege, ich sage Ihnen doch, daß ich schuldlos bin!« Der kleine Hase geriet in Zorn, während Doktor Eschwege gegen Sensenschmidt und Dittmar zu klagen begann, wie aufreibend dies Journalistendasein für einen Dichter sei.

Dittmar hatte seinen Bericht beendet und wollte sich soeben empfehlen, als ein neuer Ankömmling seine Aufmerksamkeit fesselte: ein glatt rasierter Herr, der sich Pitti-Pitt nannte und für sein Benefiz an Kaufmanns Variététheater um gütige Beachtung bat. Er habe an seinem Ehrenabend besondere Ueberraschungen für das p. t. Publikum vor. Eine dieser Ueberraschungen hatte er bei sich, zog sie aus der Tasche und blies sie auf. Es war dies nämlich ein winziges schwarzes Häutchen, das sich plötzlich zu dehnen und zu strecken begann, durch die eingeblasene Luft ungeheuerlichen Umfang annahm und schließlich in Gestalt eines mächtigen Elefanten mitten in der Redaktionsstube stand. » Voilà,« sagte Pitti-Pitt und tippte mit dem Finger an das Gebilde, so daß der Elefant erst eine Bewegung nach vorwärts und hierauf nach aufwärts machte, bis er an die Decke stieß und nun in der Luft hängen blieb. Das war gerade in dem Augenblick, da Bertram Volcker in das Zimmer trat.

»Herrjeh,« sagte er, »wie kommt denn der Mastodont hierher?«

Er wurde lachend aufgeklärt, und Mister Pitti-Pitt nahm die Beruhigung mit, daß sein Benefiz im »Morgenblatt« Erwähnung finden würde. Bertram brachte dem Lokalredakteur das Gesuch eines großen Warenhauses, das als Gegenleistung für ein ganzseitiges Inserat einen Hinweis auf den neuesten Katalog der Firma im redaktionellen Teile erbat. »Ich bin ja im Prinzip auch gegen derartige Reklamen, Herr Hase,« sagte Bertram lächelnd; »aber da Littauer & Bernewitz ihre Annoncen voll bezahlen und keinen Rabatt beanspruchen, so können wir unsern Prinzipien auch einmal untreu werden. Kleiden Sie die Reklamenotiz bitte recht geschickt ein. Guten Tag, Herr Doktor Eschwege. Einen Orden für Ihr ›Fortsetzung folgt‹!«

»Sie haben das Recht zu spotten, Herr Volcker; trotzdem bin ich schuldlos.«

»Das Faktum ist da, und Sie sind der leitende Redakteur, Herr Doktor. Denken Sie an unser Redaktionskomitee! Graf Breesen erzählt, die Gräfin Palma nehme Anstoß an dem Roman. Es komme ein uneheliches Kind vor.«

»Ich kann das nicht verschweigen, aber das Kind hat wenigstens einen adeligen Vater.«

»Eben darum,« und Bertram lächelte spöttisch, »ein bürgerlicher wäre zweckentsprechender gewesen. Lieber Doktor Eschwege, das Unheil häuft sich auf Ihr Haupt. Mehrere Leser verlangen dringlichst, Sie möchten nicht so auf Ibsen schimpfen.«

»Herr Volcker, wenn meiner Ueberzeugung nach –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen; es kommt noch mehr: eine Frau Konsul Dietrichs beschwert sich darüber, daß Sie Zolas neuesten Roman gelobt hätten und fügt an, ein Mann wie Zola dürfe in einem Blatte wie dem unsern überhaupt nicht erwähnt werden.«

Jetzt lachten alle, und Bertram lachte mit. »Ja, meine Herren,« meinte er, »es ist nicht leicht, es allen recht zu machen. Das Publikum hat viele tausend Köpfe …«

Doktor Sensenschmidt nahm die Gelegenheit wahr, auch seine Klage vorzubringen. Litteratur und Kunst und was noch drum und dran sei im Grunde nur der Appendix einer Tageszeitung; die Politik sei die Hauptsache. Seine Rede in Neu-Ruppin sei entsetzlich verstümmelt worden; so etwas Hochpolitisches müsse verbotenus wiedergegeben werden. Lieber möge man den lokalen Teil noch mehr beschneiden. Nun fuhr Hase empor. Eine gut redigierte Lokalchronik sei sozusagen das feste Rückgrat einer Zeitung; warum schränkte man das Feuilleton nicht etwas ein? – Das erboste den Doktor Eschwege. Das Feuilleton sei der Gradmesser für das geistige Niveau des Blattes; aber er habe beständig mit dem Raum zu kämpfen; seine Theaterkritiken wären schließlich nur noch Aphorismen; zu Lessings Zeiten sei das anders gewesen; in Paris setze man die Berichte über bedeutsame litterarische Geschehnisse an die Spitze der Blätter; für ein Rennen in Hoppegarten sei mehr Platz übrig als für eine wichtige Kritik. Das ging Dittmar an. Er wurde lebhaft. Die Leser des »Morgenblattes«, meinte er, hätten ein brennendes Interesse für Turf und Sport. Das sei der Kaviar für die Abonnenten. Die Tips des »Morgenblattes« erfreuten sich allseitiger Beachtung; nur nicht die Sportrubrik knapper gestalten – das Unglück wäre nicht abzusehen. Hase häufte alle Schuld auf die auswärtigen Korrespondenten; ihre Briefe seien von unerhörter Länge. Und plötzlich erschien ein neuer Ankömmling: der Hauptmann Wenzel, der den militärischen Teil bearbeitete, und kündigte an, soeben seien »fünf Spalten Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen« eingetroffen, für die Raum in der morgigen Nummer geschaffen werden müsse. Hase rief abermals alle Götter Griechenlands an, und Doktor Eschwege erklärte, er sei einer Ohnmacht nahe. Bertram räumte das Feld und zog Dittmar mit sich.

»Hat ›Sonnabend‹ gewonnen?« fragte er, als sie beide die Treppe hinabstiegen.

»Jawohl. Es war vorauszusehen.«

»Na, da wird Hans ja glücklich sein. Er kommt doch noch her?«

»Ich glaube nicht, Bertram. Irre ich nicht, so verabredete man, direkt nach Hause zu fahren.«

Bertram zog die Stirn kraus. »Das ist mir sehr unangenehm. Ich habe mit Hans Wichtiges zu besprechen. Die Papierfabrikanten wollen aufschlagen. Lieber Dittmar, entweder Kaufmann oder nicht. In einem Geschäft wie dem unsern muß man sich konzentrieren. Nun stürzt sich Hans auch noch mit aller Gewalt in die leidige Politik. Ich würde gern einmal mit Gerda Rücksprache unter vier Augen nehmen.«

»Thun Sie das. Ich glaube, sie hat Einfluß auf Hans.«

»Steht vor allen Dingen auf meiner Seite. Ah, das ist eine Frau! Dittmar, ich hätte mir keine bessere Schwägerin wünschen können.«

»Und keinen angenehmeren Schwager – was?«

»Auch das. Scherz beiseite – ich freu' mich ehrlich über Sie. Wie weit ist der Roman?«

»Ich bin bei den letzten Kapiteln. Fürchte aber, es wird nichts für das ›Morgenblatt‹ sein. Es geht etwas ungebärdig in ihm zu. Die Milch der frommen Denkungsart fließt nur spärlich; das Laster feiert Orgien, und am Schlusse kriegen sie sich nicht. Das würde der Frau Konsul Dieterichs, oder wie sie heißt, wenig gefallen.«

Bertram lachte. »Schade. Aber vielleicht können wir den Roman in Buchform bringen. Ich denke, Ihre japanische Skizzensammlung wird Ihnen den Weg ebnen. Kommen Sie auf ein paar Minuten mit in mein Zimmer; die Klischees zu Ihren ›Spaziergängen in Japan‹ sind fertig – ich will Ihnen die Abzüge zeigen. Oder haben Sie es eilig?«

»I nein. Nathansohn hat mich zum Diner geladen, aber erst zu sechs Uhr …«

Bertram hatte eine scherzende Bemerkung auf der Zunge; doch er unterdrückte sie. Sie schien ihm nicht angebracht. In gewissen Dingen war Dittmar leicht verletzlich. Und Bertram hatte ihn gern. Die Dassels waren von guter Rasse.

Er ließ Dittmar in sein Zimmer vorantreten. In dem großen Gemach herrschte die peinlichste Ordnung. Der Arbeitstisch war fast völlig mit Papieren bedeckt, aber sie lagen sorgfältig geordnet: Aufstellungen und Kalkulationen, Briefschaften, Fahnenabzüge, unaufgezogene Photographieen, Rechnungen, Papierproben. Ein riesiges Regal an der Wand war in zahlreiche Fächer geteilt, und über jedem Fach befand sich ein Zettelchen mit dem Namen eines der Angestellten des Hauses. Ein zweiter großer Schrank war mit den Bändereihen des Shannonregistrators gefüllt; daneben führte eine stets offene Thür in ein saalartiges Zimmer, das die Bibliothek und das Ansichtslager der graphischen Erzeugnisse des Hauses enthielt. Links von der Thür stand ein rundes Tischchen mit einer mehrfachen kreisförmigen Reihe von Elfenbeinknöpfchen, auf die verschiedene Namen eingedruckt waren, wie »Steffens«, »Chefredakteur«, »Expedition«, »Kasse« und so weiter: die Klaviatur für die elektrischen Klingeln und den telephonischen Anruf. Große Mappen mit Bildern, Skizzen und Entwürfen lehnten hie und da an den Wänden. Die Stores an den Fenstern waren zugezogen; es herrschte ein mildes Dämmerlicht in den Zimmern. Seiner schwachen Augen wegen konnte Bertram eine grelle Beleuchtung nicht vertragen.

Er stand am Telephon. »Verbinden Sie mich mit der Bilderabteilung,« rief er in das Sprachrohr. »Ist Herr Steffens noch da? – Lieber Steffens, schicken Sie doch bitte die Bilderabzüge zu den ›Spaziergängen in Japan‹ zu mir, auch die farbigen. Sie wollen selber kommen? Gut so …« Er wandte sich an Dittmar zurück. »Sie sollen einmal sehen,« sagte er, »was wir mit dem autotypischen Dreifarbendruck für Effekte erzielen. Ich habe eine Fabrik gefunden, die mir die Grundfarben in wunderbarster Reinheit« liefert, und nun kann ich mit den drei Platten, gelb, rot und blau, Abtönungen und Lichtwirkungen hervorrufen, die sich früher nur durch acht und mehr Platten ermöglichen ließen … 'Tag, Steffens!«

Der Prokurist, der neben seiner neuen Stellung noch das Bilderrayon behalten hatte, war eingetreten. Dittmar reichte ihm die Hand. Bertram begrüßte ihn nur durch Kopfnicken, fragte aber zugleich: »Wie geht's? Was macht Malwine?«

»Danke sehr, Herr Volcker,« erwiderte Steffens, »es geht ja so weit …« Er öffnete seine Mappe. Die Schwarzbilder waren nach Photographieen ausgeführt, die Farbendrucke nach Aquarellen, die Dittmar in Japan gekauft hatte. Es war in der That erstaunlich, wie fein die bunten Autotypieen alle Farbennuancen der Originale wiedergaben. Bertram war stolz. Es hatte viel Arbeit gemacht; zwanzigmal hatte er die Abzüge zurückgeschickt; Retoucheure und Drucker waren schließlich in Verzweiflung geraten. Aber nun war an den Bildern nichts mehr auszusetzen – sie waren tadellos.

»Ja, tadellos,« wiederholte Bertram, nochmals mit prüfendem Blick die Abzüge überfliegend. »Das Verfahren hat Zukunft, Steffens.«

»Wenn nur der Druck nicht so schwierig wäre … Ja, was ich sagen wollte, Herr Volcker: die Zeitung hat mir schon wieder drei meiner besten Drucker fortgenommen …«

Mit dem »Morgenblatt« lag er ständig im Hader. Dies gefräßige Ungeheuer kam ihm ewig in die Quere. Er sah düster in die Zukunft. Es war seine feste Ueberzeugung, daß »die Zeitung« das Renommee des großen Hauses untergraben würde.

Bertram beruhigte ihn. Der Faktor des »Morgenblattes« hatte plötzlich eine Anzahl Leute entlassen müssen; da mußte man die Druckerei des Verlags in Anspruch nehmen. Aber es war bereits für Ersatz gesorgt worden.

»Nützt mir nichts, Herr Volcker,« sagte Steffens eigensinnig. »Ich muß meine Leute wieder haben. Die sind geschult und verstehen ihr Fach. Bei der Zeitung kommt's nicht darauf an, ob der Druck einmal ein bißchen unsauberer ist. Bücher und Kunstwerke wollen anders behandelt sein …«

Bertram versprach feierlich, dafür Sorge zu tragen, daß ihm »seine Leute« nicht mehr entzogen werden sollten. »Söhnen Sie sich doch endlich mal mit der Zeitung aus,« meinte er lächelnd. »Sie sehen ja, daß der Anfang nicht übel ist.«

»Ein Geschäft wird es nie!«

»Das will ich nicht sagen.«

»Nie, Herr Volcker. Der Interessentenkreis ist viel zu klein. Ja, wenn es sich um den ›Volksboten‹ handelte!«

»Pfui Geier!« rief Dittmar. »Herr Steffens, der Vergleich hinkt. Ein wertloses Sensationsblatt ist doch mit unsrer Zeitung nicht in einem Atem zu nennen!«

»Wird aber einmal Hunderttausende abwerfen, während wir uns im besten Falle mit einem Verdienste begnügen müssen, der in gar keinem Verhältnisse zu den aufgewandten Mühen steht.«

»Das ›Morgenblatt‹ ist nicht auf den Verdienst hin begründet worden,« warf Bertram etwas ärgerlich ein.

Steffens zog die Schultern hoch. »Dann bescheide ich mich, Herr Volcker. Dann schweig' ich natürlich. Nicht auf den Verdienst hin – gut. Der Ehre wegen – auch gut. Ich bin zu sehr Geschäftsmann, das zu verstehen. Es gibt ja Verleger, die bei gewissen literarischen Unternehmungen, die sie ihrer Firma zur Ehre rechnen, Jahr für Jahr zusetzen. Gewiß, es gibt solche – aber, wie gesagt, ich begreife die Herren nicht. Weiß auch nicht, ob das kaufmännisch gedacht ist.«

»Zweifellos!« rief Bertram. Er schätzte Steffens außerordentlich und hätte seine tüchtige Kraft ungern entbehrt. Aber seine ewige Opposition gegen das »Morgenblatt« wurde schließlich lächerlich. »Zweifellos, Steffens. Sie fassen den Beruf des Kaufmanns gar zu nüchtern auf, statt auch mit idealen Motiven zu rechnen. Sie vergessen ferner, daß der Ruf einer buchhändlerischen Firma sich nicht auf ihren Reichtum, sondern auf den Wert ihrer Produktion gründet. Auch ein notorischer Verlust kann im kaufmännischen Leben einen Verdienst darstellen. Zahlen beweisen viel, aber nicht alles. Wenn ich den Verlag des ›Volksboten‹ übernommen hätte, so würde ich in der That vielleicht große Summen verdienen, zugleich aber auch den Ruf meiner Firma für immer ruinieren. So dachte auch der da« – er wies auf das Bild des alten E. M. Volcker an der Wand. »Sein erstes Verlagsunternehmen war eine Kunstgeschichte Toskanas, an der er zwanzigtausend Thaler verlor. Aber dieser scheinbare Verlust hat sich über Erwarten gelohnt, denn das Werk galt als epochemachend und hat das Renommee unsres Hauses begründet …«

Steffens hatte die Bänder an seiner Mappe wieder zusammengeknüpft.

»Ich will nicht streiten,« sagte er. »Wozu, Herr Volcker? Daß ich es gut meine, wissen Sie. Möglich, daß ich keine Ideale habe. Malwine behauptet das Gegenteil. Ich bin Radierer von Hause aus, habe aber auch den Buchhandel erlernt. Und als Künstler und Buchhändler hasse ich die Zeitung – die Zeitung im allgemeinen, das Tagesblatt. Sie schlägt das Buch tot und ruiniert die Freude an der Kunst. Einen Menschen von Geschmack muß es schon widrig berühren, wenn er das dünne, lappige, pfui um die Welt, dieses schauderhafte Zeitungspapier nur anfühlt –«

»Wir können das ›Morgenblatt‹ doch nicht auf Satiniertem drucken, Steffens!«

»Natürlich nicht; das weiß ich schon. Aber eben, weil das nicht angeht, darum ist die Zeitung die ärgste Geschmacksverderberin. Auch in geistiger Beziehung. Ihr buntes Wischiwaschi, das ganze, aus aller Welt zusammengetragene Füllsel, ein wahrhaftes Frikassee von politischen, volkswirtschaftlichen, geographischen, militärischen, statistischen, kirchlichen und litterarischen Aufsätzen, Artikelchen und Notizen, eine Pastete, nein, ein Ragout, das muß dem Publikum allgemach naturgemäß auch das letzte Verständnis für die ernste Wissenschaft austreiben. Wer kauft denn heute noch eine gediegene Reisebeschreibung oder ein kunsthistorisches Werk? Seine Zeitung liefert ihm das ja viel hübscher – hübscher, weil es nur brockenweise angerichtet wird und in sogenannter populärer Form, damit der geehrte Leser um Himmels willen nicht etwa seinen Geist anzustrengen braucht, der in behaglicher Abwechslung zwischen Roman und Vermischtem, Politik und Kritik, einem Diebstahl in der Rosenthalerstraße und einer Besteigung des Himalaja hin und her pendelt. Es ist fürchterlich, sage ich Ihnen, Herr Volcker, was so eine Zeitung für Unheil, für eine Verwirrung in den Köpfen der Lesewelt anrichtet. Früher war es noch anders. Da erschienen die Zeitungen in kleinem Format und beschränkten sich auf die Neuigkeiten des Tages. Heute verlangt der Leser einen Ballast von Papier, verlangt sozusagen alle Morgen sein Buch Miscellanea. Jawohl, innerhalb seiner Frühstücksstunde will er über hunderterlei in Politik, Wissenschaft, Kunst und Litteratur orientiert sein; die Tagesfragen genügen ihm nicht mehr. Hol's der Geier! Die Zeitung richtet den Buchhandel zu Grunde.«

Er nahm seine Mappe unter den Arm. »Pardon,« meinte er, »die Zunge galoppierte wieder einmal. Ich habe die Ehre.«

Er ging.

»Ein grimmer Teutone,« meinte Dittmar lächelnd.

»Er übertreibt wahnsinnig,« sagte Bertram, der wieder an seinem Arbeitstische Platz genommen hatte. »Aber ein Körnchen Wahrheit liegt auch in seinen Uebertreibungen. Der Buchhandel leidet in der That unter dem Zeitungswesen, und zwar am meisten durch die sogenannten parteilosen Blätter, deren oberflächliches, feuilletonistisches Geschwätz der großen Masse die ganze Litteratur ersetzt. Lieber Dittmar, ich will Sie nicht länger aufhalten; es ist Fünf, und ich denke mir, Sie werden sich vor dem Diner noch umkleiden wollen.«

»Zackri, schon Fünf! Da beeile ich mich. Addio, Bertram, meine Empfehlungen an Ihre verehrte Frau …«

Er nahm sich eine Droschke, um nach Hause zu fahren. Das geschah nicht häufig: er war sparsam geworden. Als er in seiner Wohnung ankam, reute es ihn fast, daß er die Einladung Nathansohns angenommen hatte. Er wäre am liebsten daheim geblieben, hätte auf seinem Zimmer zu Abend gespeist und an seinem Roman weiter gearbeitet. Es erschien ihm selbst zuweilen seltsam, daß er jetzt so oft das Bedürfnis nach Häuslichkeit empfand. Eine gewisse Reaktion machte sich bei ihm nach dem ziemlich wilden und regellosen Leben geltend, das er bis dahin geführt hatte. Dazu kam, daß die beiden Zimmer, die er bei Steffens bewohnte, in der That ungemein behaglich waren. Sie lagen im Parterregeschoß und nach einem kleinen Garten hinaus, so daß Dittmar durch das Straßenleben nicht gestört wurde. Allerlei Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Japan, Waffen, Stoffe, Geweihe und Bilder, bedeckten die Wände, und das alles war so hübsch arrangiert, daß man kaum die Tapete durchscheinen sah. Der Schreibtisch stand am Fensterpfeiler, den eine köstliche Seidenstickerei verdeckte: langbeinige Reiher, die in hohen Gräsern umherstolzierten, eine Arbeit von feiner künstlerischer Wirkung. Auf den Tischen und Schränken Cloisonnés und Porzellane und jene zierlichen Lackarbeiten mit Perlmuttereinlagen, deren Heimat Japan ist; in einer Ecke ein schön gemalter Wandschirm, hinter dem ein groteskes Götzenbild hervorschaute: eine Nachbildung des Gottes der Winde, der den Tempel in Nikko bewacht; daneben ein Bücherspind mit stark gemischtem Inhalt.

Einen Augenblick überlegte Dittmar: sollte er einen Dienstmann zu Nathansohn schicken und sich entschuldigen lassen? – Aber nein, diese Entschuldigung im letzten Moment wäre ungezogen gewesen. Auch hatte er nicht Nathansohns, sondern Hellas wegen zugesagt. Diese hübsche kleine Jüdin lockte ihn; sie war sehr verführerisch – aber doch auch mehr. Verführerisch nicht nur, weil sie eine höchst pikante Schönheit war, sondern weil sie auch Herz und Geist besaß. Dittmar hatte sich nach seiner ersten Bekanntschaft mit ihr auf dem Hochzeitsfeste seiner Schwester ein ziemlich schroffes Urteil über sie gebildet. Man beurteilte sie gewöhnlich falsch, wenn man sie nur flüchtig kennen gelernt hatte. Da erschien sie herb, abweisend und frostig, in ihren gelegentlichen Bemerkungen über Welt und Menschen gemacht pessimistisch, in ihren Aeußerungen über Litteratur und Kunst zuweilen geistreichelnd. »Geistreichelnd«, das war das kritische Schlagwort, das Dittmar für sie gefunden hatte. Aber er schränkte sein rasches Urteil doch baldigst ein. Es gab Dissonanzen in ihrer Seele, die er zu spüren meinte. Wurde die Unterhaltung zwischen den beiden gelegentlich wärmer, so klang Dittmar dann und wann etwas Wehes und Schmerzliches entgegen, das er nicht begriff oder falsch deutete. Trug sie irgend eine stille Liebe im Herzen? Oder litt sie unter dem Widerstreit zwischen ihrer Erziehung und Bildung und der Stellung, die ihr die Gesellschaft als Tochter ihrer Rasse zuwies? Dittmar verstand manches an ihr nicht. Und vielleicht gerade deshalb interessierte sie ihn in so hohem Maße. Er merkte auch, daß sie sich ihm gegenüber anders gab als den gleichgültigen Herren ihrer Bekanntschaft: weicher, milder im Urteil, mädchenhafter und natürlicher.

Er hatte sich umgekleidet und stellte sich vor den Spiegel. Er war, wie Vließen sich ausdrückte, ein »hübscher Bengel«. Die schreckliche Decadence, den Sprung vom Legationssekretär zum Lohnschreiber sah man ihm nicht an. Der schwarze Gehrock stammte noch aus guter Zeit, da er die Schneiderrechnungen nicht prüfte. Es saß auch eine Rosette im obersten Knopfloch mit den Farben eines italienischen und eines japanischen Frühstücksordens; aber er knöpfte die Rosette wieder heraus. Dafür wählte er einen helleren Schlips. Er war noch immer für eine gewisse Harmonie in der Toilette …

Im Hillerschen Restaurant waren in den vorderen Räumen fast alle Tische besetzt. Prinz Inningen saß hier mit Hasso Hunding und mehreren Kavallerieoffizieren und rief ihn an. Als Dittmar entgegnete, er suche den Bankier Nathansohn, trat für einen Augenblick ein verlegenes Schweigen ein. Dann rief ein dritter Gardeulan: »Im Salon rechts, Graf Dassel!« – Dittmar dankte und empfahl sich.

Im Salon rechts fand er in der That Nathansohn mit seiner Tochter. Sie saßen allein an einem schon gedeckten Ecktische, dessen Mitte ein Blumenstück einnahm, neben dem eine elektrische Lampe mit rosafarbenem Schirm stand. Nathansohn sah Dassel eintreten und winkte ihm lebhaft mit der Hand zu, während Dittmar sich von dem Kellner Hut, Paletot und Stock abnehmen ließ.

»Auf die Minute pünktlich, lieber Graf,« sagte Nathansohn, ihm die Hand drückend, »wir sind ein bissel zu früh gekommen. Servieren, Kellner – wie ich bestimmt habe: statt des Spinats Spargel und als Einschub Hummer à l'américaine. Was für Wein, Graf: Rot oder Rhein?«

»Mir gleich, Herr Kommerzienrat – wie gnädiges Fräulein befehlen.«

»Hella spricht in Weinfragen nicht mit. Sie nippt nur. Sie ist entartet. Hören Sie mal, Kellner, ich habe neulich bei Ihnen einen Geisenheimer Rothenberg getrunken – zeigen Sie die Karte – da haben wir ihn! Aber nicht zu kalt. Zum Fleisch eine Mouton Rothschild, und dann stellen Sie uns eine Pommery sec kalt. Als Schlußtropfen, Graf. Ich bin sonst kein Verehrer des Champagners. Hella, hast du einen besonderen Wunsch? Gieshübler – natürlich! Also eine Gieshübler, Fritz! …«

Dittmar hatte zwischen Hella und ihrem Vater, an der einen Schmalseite des Tisches, Platz genommen. Er begann die Unterhaltung mit einem Kompliment auf die Toilette Hellas.

»Pardon,« fügte er an, »das klang beinahe banal. Sollte aber nicht einmal eine Schmeichelei sein. Seit ich an meinem Roman arbeite, treibe ich auch Toilettestudien. Ich glaube, es ist nicht immer leicht, die gerade herrschende Mode mit dem Geschmack in Einklang zu bringen.«

»Die Mode ist selten ganz geschmacklos,« erwiderte Hella; »nur zuweilen, und in solchen Fällen marschiere ich nicht mit, oder ich verbessere die Mode nach eigenem Gutdünken und überlasse mich der Intelligenz der Schneiderin. In einer Beziehung bin ich allerdings ein Opfer der Mode geworden: in Bezug auf meinen Vornamen.«

Ihr Vater lachte. Er lachte stets so dröhnend, daß er allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen pflegte.

»Das ist richtig,« sagte er, »ist richtig. Es war mal 'ne Zeitlang Sitte in – in unsern Kreisen, den Kindern altnordische Namen zu geben. Siegfried und Siegmund und Helmut und Hartwig, und da – ja, ich weiß nicht mehr, wie meine gute selige Frau gerade auf Hella gekommen ist. Sie muß den Namen in einer Geschichte von Felix Dahn gelesen haben, für den sie viel übrig hatte. Gott, meine gute Rebekka! Sie hieß Rebekka. Ich gestehe, daß mir der Name Hella an sich besser gefällt. Aber in Verbindung mit Nathansohn hat er etwas Groteskes. Es hilft nichts: wir müssen schon beim Altbiblischen bleiben, wie ihr vom Adel bei der Tradition der ritterlichen Namen, bei Diethwolf und Dittmar und Hildebrandt und Hadubrandt. Hab' ich nicht recht, Graf? …«

Dittmar war an die kleinen und großen Taktlosigkeiten Nathansohns gewöhnt. Sie hafteten diesem intelligenten Plebejer unlöslich an. Es war dies um so merkwürdiger, als der Bankier dank seiner weitreichenden Geschäftsverbindungen viel mit der eleganten Gesellschaft zusammentraf und auch im Verkehr stand. Es liegt in der Art, hatte Dittmar anfänglich gedacht, aber seinen Irrtum eingesehen, als er gelegentlich mit andern Finanzgrößen bekannt geworden war, Juden wie Nathansohn, aber von unleugbar vornehmem Weltschliff und feinsten Manieren. Also auch in diesem Falle glich durchaus nicht einer dem andern – und trotzdem konnte Dittmar bei dem dicken Schlemmer niemals den Eindruck des »Typischen« los werden.

Hella war leicht errötet. Daß sie über ihren Vater erröten mußte, wurmte Dittmar am meisten. Er wußte wohl: Vater und Tochter standen sich ausgezeichnet. Hella liebte den Alten zärtlich und las, was er wollte und wünschte, aus seinen Augen. Er aber vergötterte sie. Das hinderte ihn nicht, sie hundertmal zu verletzen. Meist freilich unbewußt, aus Mangel an Zartgefühl; zuweilen aber auch aus grausamer Absicht. Sie reckte ihm öfters das feine Näschen zu hoch, und da demütigte er sie.

Dittmar hatte Nathansohn auf dessen letzte Frage irgend eine gleichgültige Antwort gegeben und lenkte dann auf ein andres Thema über. Von Zeit zu Zeit glitt sein Blick rasch über Hella. Er konnte sich an ihrer Schönheit nicht satt sehen. Was war nur an ihr, was ihn so mit Entzücken erfüllte? Er sann nach, mit wem er sie hätte vergleichen können. Schöne Mädchen waren, ach, wie gar viele auf seinem Wege aufgetaucht. Glich eine von ihnen Hella? – Ja, eine: eine Römerin, eine Komtesse Prata, in die er sich sterblich verliebt hatte, als er noch der Botschaft in Rom angehört hatte. Er hatte Unglück mit seinen Liebschaften, die nicht nur Tändeleien gewesen waren. Komtesse Anina Prata hätte gerade zu ihm gepaßt; sie stammte aus vornehmem Hause und war sehr reich. Aber sie gehörte zur »schwarzen« Gesellschaft Roms, zu jener, die eine Phalanx um den Vatikan bildet; Anina hätte sich eher das Herz zerfleischt, ehe sie einem Protestanten die Hand gereicht hätte. Und nun wieder Hella! Große Götter, warum mußte sie Nathansohn heißen!? –

Das Diner schritt vor. Es war erlesen, genügte den lukullischen Neigungen des dicken Bankiers aber doch nicht ganz, obschon er Verschiedenes auf dem Menü gestrichen und dafür andres hatte einfügen lassen. Er rief Fritz, den Kellner, heran, der sein ganzes Vertrauen genoß, und machte ihm aus seiner Mißstimmung kein Hehl. »Verehrter,« sagte er ihm, »da sind nun Artischockenböden, mit Trüffelpüree belegt. Das klingt wunder wie, aber die Artischockenböden könnten um diese Jahreszeit wohl frisch sein. Das sind eingelegte – mir machen Sie kein X für ein U. Und hören Sie mal: die Rinderbrust kriege ich bei der Lina Morgenstern, zarter …« Plötzlich wandte er sich an Dittmar und legte seine Hand auf dessen Linke.

»Ja richtig, Graf – was ich sagen wollte: möchten Sie nicht Ihre Schriftstellerei wieder an den Nagel hängen, ehe sie sich weiter auswächst?«

Dittmar verstand den Sinn der Frage nicht sogleich. Nathansohn hatte eine Dessertgabel ergriffen und tippte mit ihrem stumpfen Ende auf den Tisch. »Ich glaube, ich habe mich nicht ganz korrekt ausgedrückt,« fuhr er fort; »weniger die Schriftstellerei als den Journalismus. Schriftstellern können Sie schließlich ruhig weiter, soweit Muse und Muße es Ihnen verstatten. Aber würden Sie nicht vorziehen, Ihre Stellung als Redakteur des ›Morgenblatts‹ mit einer andern Stellung zu vertauschen, einer kaufmännisch-repräsentativen –?«

Hella horchte nicht minder interessiert auf als Dittmar, während Nathansohn weiter sprach: »Eine Stellung, die Ihnen ganz bedeutend mehr eintragen würde als Ihre jetzige und die nebenbei eines Gentlemans durchaus würdig ist –? Was? …«

Dittmar zuckte etwas verlegen mit den Schultern. Wollte Nathansohn ihn in irgend einem seiner Betriebe als Aufsichtsrat anstellen? –

»Ich bin kein Kaufmann, Herr Kommerzienrat,« erwiderte er. »Das sind nun allerdings viele nicht, die an der Spitze großer Verwaltungen stehen. Ich weiß wohl, daß sogar der höhere Adel öfters in die Direktorien und Aufsichtsräte industrieller Unternehmungen hineingezogen wird, ohne irgend etwas von der Sache zu verstehen. Aber es würde mich doch nicht reizen, lediglich meinen Namen als Aequivalent für ein vielleicht glänzendes Gehalt herzugeben.«

»Bravo,« sagte Hella leise und erschrak fast über sich selbst.

Nathansohn lächelte. »Bravo – schön – ich wiederhole dein Bravo, Hella. In der kaufmännischen Welt braucht man allerdings zuweilen Namen von gutem aristokratischem Klang als – rund heraus – als Lockung. Aber Sie dürfen nicht vergessen, lieber Graf, daß wir nicht mehr in den Gründerjahren leben. Der selige Lasker hat groß Reinemachen beantragt. Der Name thut's nicht mehr allein; man verlangt auch eine gewisse Thätigkeit, keine aufreibende, aber doch immerhin Arbeit, sei sie nun kommerzieller oder bureaukratischer oder lediglich repräsentativer Natur. Auch die Gesetze sind schärfer geworden … Das alles hat mit dem, was ich Ihnen anbieten wollte, nichts zu thun. Ich brauche nicht Ihren Namen, sondern – sagen wir – Ihre Individualität. Jawohl. Sie sind ein feiner Kopf, besitzen künstlerischen Geschmack, haben Phantasie, verbinden Weltschliff mit Bildung und Wissen –«

» Merci,« warf Dittmar lachend ein, »ich verneige mich im Geiste.« Und Hella sagte: »Da bin ich aber wirklich neugierig, Papa, was dieser Einleitung folgen wird.«

»Ganz einfach, Graf Dassel: ich möchte Ihnen einen Wirkungskreis schaffen, der Sie mehr befriedigen wird als das Dasein eines Sportredakteurs. Ich habe den Betrieb einer großen Glashütte in Böhmen übernehmen müssen und möchte aus der etwas machen.«

»Einer Glashütte?« fragte Hella erstaunt.

»Ja, mein Kind, die Hütte Schirnau in der Nähe von Pilsen: eine umfangreiche Anlage, die aber infolge unsauberer Manipulationen seitens ihrer bisherigen Leiter in Verfall geraten ist und die nun wieder in die Höhe gebracht werden soll. Ihre Hauptfabrikation war bisher Flint- und Krystallglas, und das wird wohl auch künftighin das finanziell ergebnisreichste Produkt Schirnaus bleiben. Daneben möchte ich aber dem feineren Zierglas eine Arbeitsstätte einräumen; die Anlagen sind da, nur fehlte es an tüchtigen Kräften, vor allem an künstlerischer Direktive. Mit Zierglas ist viel zu verdienen, Graf. Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Der Aufschwung in allen Branchen der Keramik hat Bronze und Marmor in den Hintergrund gedrängt. Neben Porzellan und Fayencen dominiert heute das Glas. Ich möchte den Zeitgeschmack ausnützen. Einen tüchtigen Techniker habe ich bereits gewonnen; nur ist der Mann kein Genie. Deshalb will ich ihm eine ständig anfeuernde Kraft zur Seite stellen, einen Menschen mit weitem Blick und künstlerischem Feinempfinden, der nicht am Engen und Kleinlichen haftet, der weder Techniker, noch berufsmäßiger Künstler, noch Kaufmann zu sein braucht, aber von allen etwas haben muß – einen, der Initiative besitzt. Und da habe ich denn an Sie gedacht, lieber Graf …« Er winkte dem Kellner. »Den Sekt, Fritz. Und dann Kaffee und Likör …«

Dittmar antwortete nicht sofort. Der Vorschlag berührte ihn wunderlich, aber doch nicht gerade befremdend. Warum auch? Dittmar hatte an Selbstvertrauen gewonnen. Er meinte, er könne alles erlernen, wenn es not thue. Er warf einen Seitenblick auf Hella. Die saß stumm neben ihm und knitterte etwas nervös an ihrer Serviette.

Der Kellner schenkte den Pommery ein.

Nathansohn lächelte wieder. »Ein allzu begeistertes Gesicht machen Sie nicht, Graf Dassel,« meinte er. »Thut nichts – ich habe es so erwartet. Lassen Sie mich erst mal weiter sprechen. Die Konjunkturen liegen günstig für meine Idee; trotzdem will ich keine Uebereilung. Wenn Sie zusagen, möchte ich Sie zunächst einmal ein Jahr auf Reisen schicken. Sie müßten sich in die Materie hineinarbeiten. Müßten Salviati besuchen, Gallé in Nancy, die Crystallerie du Val St. Lambert in Belgien, Tiffany in New York. Das wären die Vorstudien … Hielte ich Sie nicht für einen außerordentlich begabten Menschen und zugleich auch für eine praktisch zugreifende Natur, so würde ich mich gar nicht an Sie wenden … Den Chester noch einmal, Fritz … Aber sehen Sie, Graf, ich will nicht nur Ihnen dienlich sein, sondern Sie sollen es auch mir. Ich erhoffe und erwarte viel von Ihnen. Sie beherrschen ein halbes Dutzend Sprachen und sind ein tadelloser Kavalier; Sie werden in der Fremde bessere Aufnahme finden als ein Berufsmann, den man nicht gern in die Geheimnisse der Fabrikation gucken läßt …« Er überzeugte sich, daß die Kellner nicht in der Nähe waren und fuhr etwas leiser fort: »Ihre Stellung würde der des technischen Direktors koordiniert sein. Anfangsgehalt zwölftausend Mark – so denke ich. Wenn Sie das Lehr- und Reisejahr hinter sich haben, würden wir über das Weitere noch intimer plaudern. Vorläufig kann ich Ihnen nur Andeutungen geben …«

Er leerte langsam sein Glas. Er war neugierig auf die Entscheidung Dittmars, ließ es sich aber nicht merken. Er wollte dem jungen Manne sehr wohl und ihm aus seine Weise emporhelfen. Und in der That versprach er sich auch etwas von Dittmars Intelligenz. Der neue technische Direktor in Schirnau bedurfte gerade einer solchen Stütze, keines ausführenden Künstlers – die fand man schon – aber eines Anleiters, einer frischen, vorwärts treibenden Kraft. Nathansohn dachte noch weiter. Hatte sich Dittmar erst in seine neue Stellung hineingearbeitet, und daran zweifelte der Bankier keinen Augenblick, so kam ihm auch sein schöner Name zu nutze. Geeignete Kombinationen ließen sich unschwer finden: »Glashütte Schirnau, Direktion Dittmar Graf Dassel« – oder vielleicht schlankweg »Gräflich Dasselsche Glashüttenverwaltung«. Das klang allerdings, als sei Graf Dassel der Besitzer und Inhaber – aber was schadet es? – Ließ ein Firmentitel sich nicht kaufen? –

Das Diner war beendet. Die Kellner räumten den Tisch ab und säuberten ihn, brachten die Kaffeemaschine, zündeten den Spiritus an und servierten die Schnäpse: eine ganze Kollektion in Originalflaschen. Nathansohn griff nach dem Cognac.

»Meukow, wie ich Sie kenne – nicht wahr, Graf?« fragte er. »Oder einen Marnier? Das ist Frankreichs Neuestes, mir aber zu süß … Aha, sehen Sie, das habe ich endlich durchgesetzt, daß man den Cognac gehörig kühlt. Mir ist ein alter Meukow hundertmal lieber als ein Henessy; er hat mehr Gehalt. Drüben in Frankreich bevorzugt man den Martel und den Bisquit Dubouché; der ist mir nun geradezu odiös – er hat immer etwas Weichliches. Schließlich ist alles Geschmackssache …«

Er füllte ein Gläschen goldgelben 1824er Meukow in eine große Porterschale um und brachte diese in schwingende Bewegung. Der Cognac blitzte opalartig, tropfte wie Oel von der Glaswand herab und verbreitete einen wunderbaren Duft, den Nathansohn mit der entzückten Miene eines Epikuräers, der mit dem Materiellen gern einen gewissen ästhetischen Genuß verbindet, einatmete.

Hella bekümmerte sich inzwischen um den Kaffee. »Sie sagen ja gar nichts, Graf Dassel,« meinte sie.

Dittmar fuhr wie zerstreut in die Höhe.

»Es ist schwer, auf den gütigen Vorschlag Ihres Herrn Vaters ohne weiteres entscheidende Antwort zu geben,« entgegnete er. »Selbstverständlich reizt mich vieles. Ich glaube auch, daß ich ein gewisses künstlerisches Empfinden besitze; aber das würde nicht genügen, meine Stellung auszufüllen. Ich müßte mich auch in das Technische und Kaufmännische versenken, müßte – – mein Gott, all das wäre zu überwinden, denn ich bin immerhin eine arbeitslustige Natur … Ja, wahrhaftig, es reizt mich vieles: die wachsende Selbständigkeit, das hohe Gehalt … Aber es ist trotzdem noch manches zu überlegen … Gnädiges Fräulein, was würden Sie an meiner Stelle thun? …«

Die Frage schien Hella überraschend zu kommen. Sie verfärbte sich ein wenig. Es glitt eine Blutwelle über ihr Gesicht. Die Pfirsichfarbe ihrer Wangen verdunkelte sich. Sie senkte für einen Augenblick die Lider mit ihren langen dunklen Wimpern und schlug sie dann rasch wieder auf.

»Ich muß gestehen,« sagte sie, »auch auf die Gefahr hin, bei Papa in Ungnade zu fallen, daß ich an Ihrer Statt die angebotene Stellung nicht annehmen würde …«

»Verdreht,« entgegnete Nathansohn und zuckte mit der rechten Schulter. Der Blick, der seine Tochter traf, war kein allzu freundlicher. »Darf ich fragen: warum nicht, Hella? – Hella, mein Kind, du bist wie Eugen Richter. Du mußt immer opponieren. Du mußt durchaus alles besser wissen. Mit der holden Weichheit des Ewig-Weiblichen verträgt sich dein Regierungsempfinden nicht so recht …«

Abermals errötete Hella. »Ich bin nur freimütig, Papa,« antwortete sie. »Warum soll ich die Wahrheit verschweigen? Es gibt sicher Fälle, da man besser thut, ruhig zu sein als zu sprechen – liegt hier ein solcher Fall vor? – Ich gönne dem Grafen Dassel von Herzen eine glänzend dotierte Stellung und mehr noch eine ihn vollauf befriedigende Thätigkeit. Aber ich kann nicht glauben, daß ihn der zugedachte Posten auf die Dauer glücklich machen wird.«

»Und warum nicht? Und warum nicht?« – Nathansohn trank ärgerlich seinen zweiten Meukow.

»Weil das rein Kommerzielle in dieser Stellung doch immer wieder in den Vordergrund treten würde und Graf Dassel meiner Ansicht nach durchaus keine kaufmännischen Anlagen besitzt – jedenfalls nicht in dem Maße, wie es dir, Papa, wünschenswert sein würde … Verzeihung, Herr Graf, daß ich so aufrichtig über Sie urteile …«

Dittmar verneigte sich. »Ich kann Ihnen nur dankbar dafür sein, gnädiges Fräulein. Vielleicht haben Sie recht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich kenne mich selbst am schlechtesten.«

»Ich will auch keine Entscheidung von heute zu morgen,« brummte Nathansohn. »Was Hella sagt, ist Unsinn. Sie muß ewig ihre Sondermeinung haben. Ueberlegen Sie sich die Sache in Ruhe, lieber Graf.«

»Das werde ich gewiß thun, Herr Kommerzienrat. Aber schon heute möchte ich Ihnen meinen wärmsten Dank für Ihr Entgegenkommen aussprechen –«

»Ah bah, der Vorteil würde ebensogut auf meiner als auf Ihrer Seite liegen – also nur keinen Dank … Wissen Sie was? Jetzt wollen wir den Göttern noch einen Schluck guten Rotspohn opfern. Als Abschluß – als Auffrischung nach den Anstrengungen der Mahlzeit – einen süffigen Haut Brion …«

Dittmar protestierte, aber es half ihm nichts. Das Unglück wollte, daß sich auch noch ein Bekannter Nathansohns einfand, ein Doktor Heller, den der Bankier nötigte, an seinem Tische Platz zu nehmen: ein schlanker junger Herr von einnehmendem Aeußern und gewandten Umgangsformen. So war die Flasche bald geleert, und eine neue wurde bestellt … Dittmar begann sich unbehaglich zu fühlen. Er war sonst kein Spielverderber. Aber er sah, daß dieses überlange Hinausziehen der Tafelei Hella angriff. Der Ventilator oberhalb eines der großen Spiegelfenster war zwar geöffnet und arbeitete geräuschlos. Doch der Speisen- und Weindunst aus dem Salon war nicht so leicht zu vertreiben. Ein Parfümhauch mischte sich in diesen Dunst – kein angenehmer. Ganz in der Nähe hatten sich zwei Herren, die sich lebhaft französisch miteinander unterhielten, niedergelassen und neben ihnen zwei Damen, die sich in Mang-Mang gebadet zu haben schienen. Das Restaurant füllte sich mehr und mehr. Alle Tische waren besetzt. Auch aus den Nebenzimmern drang Stimmengewirr. Am kassettierten Plafond sammelte sich der lichtblaue Rauch der Cigaretten und Papyrossen zu einem durchsichtigen Wolkenschleier. Die Kellner huschten hin und her, brachten silberne Eiskübel, Tabletts, Fruchtschalen und rollten die kleinen Tische mit den großen Fleischstücken auf riesigen Nickelplatten, unter denen Flammen zuckten, lautlos über die Teppiche. Zuweilen erschien der Besitzer des Lokals, in langem schwarzen Rock und weißer Weste, unter der Thür und verneigte sich nach allen Seiten: Nathansohn drückte er kordial die Hand.

Doktor Heller hatte nur wenige Worte mit Hella und Dittmar gewechselt und wurde sodann ausschließlich von Nathansohn mit Beschlag belegt. Er war Elektrotechniker, und der Bankier verhandelte Geschäftliches mit ihm. Einmal glaubte Dittmar von ihm den Namen Düren zu hören. »Ah – Düren – der – jawohl, jawohl,« äußerte Nathansohn und setzte das Gespräch mit etwas leiserer Stimme fort … Indessen versuchte Dittmar Hella zu unterhalten. Er plauderte über hunderterlei mit ihr. Aber er spürte, daß sie ihre Frische verlor. Ein etwas müder Zug lag um ihre Mundwinkel: sie zwinkerte mit den Augen, da sie der Cigarrenrauch belästigte, gab sich aber dennoch Mühe, ihre Nervosität zu verbergen.

Abermals wollte Nathansohn eine neue Flasche bestellen. Da aber legte Dittmar seine Hand auf den Arm des Bankiers. »Lieber Herr Kommerzienrat – wollen wir nicht zum Aufbruch blasen? Ich fürchte, Ihr Fräulein Tochter ist ein klein wenig abgespannt …« Auf der Stelle nahm auch Doktor Heller für Hella Partei, bat um Vergebung, daß er sich ihr so wenig gewidmet habe, und erklärte, er trinke keinen Tropfen mehr. Es gab noch ein längeres Hin und Her. »Die letzte Flasche«, schlug Nathansohn vor – »zum Abgewöhnen. Noch zehn Minuten, Hellakindchen …« Aber Doktor Heller stand einfach auf und rief nach dem Kellner …

Man ließ eine Droschke holen, da es leicht zu regnen begonnen hatte. Der Ingenieur ging mit Nathansohn voran; beide waren schon wieder tief in der Elektricität. Hella und Dittmar folgten.

»Ich möchte nochmals um Verzeihung bitten, Herr Graf,« sagte das junge Mädchen, »daß ich mich vorhin gegen den Vorschlag Papas ausgesprochen habe. Ich kenne den Papa. Er nimmt großes Interesse an Ihnen, glaubt auch sicher, daß Sie sich für jene Stellung eignen würden – ich möchte behaupten, er hat die Absicht, die Stellung speziell für Sie zu schaffen. Aber er ist doch zu sehr Kaufmann, als daß es früher oder später nicht zu Mißhelligkeiten zwischen Ihnen beiden kommen würde, und sei es auch nur auf Grund gewisser gegensätzlicher Anschauungen, die – in der Verschiedenheit der Erziehung liegen. Und das würde mir schrecklich sein …«

Die letzten Worte flüsterte sie nur unter ihrem Schleier hervor. Man trat ins Freie. Der Portier hielt seinen Regenschirm über Hella und riß den Schlag der Droschke auf. Nathansohn wuchtete zuerst hinein.

»Adjö, Heller – also ich erwarte Sie morgen früh zehn Uhr. Der Düren ist ja ein Teufelskerl … Auf Wiedersehen, Graf Dassel … bien merci für Ihre Liebenswürdigkeit; grüßen Sie den alten Herrn …«

Nun saß auch Hella im Wagen. Durch das offene Fenster reichte sie Dittmar die Hand. »Adieu Herr Graf …« Sie trug keine Handschuhe; auch Dittmar hatte die seinigen in der Tasche. Er fühlte das warme, lebendige Fleisch ihrer kleinen, nervigen Rechten. War es ein stärkerer Druck als sonst? Ein Rieseln ging durch seinen Körper.

Die Droschke fuhr davon. Doktor Heller zog höflich seinen Hut.

»Es ist mir ein Vergnügen gewesen, Herr Graf,« sagte er.

»Gleichfalls, Herr Doktor …«

Sie trennten sich. Obwohl der Ingenieur sich mit ausgesuchter Korrektheit verabschiedet hatte, war es Dittmar erschienen, als habe im Auge des andern ein Ausdruck entschiedener Feindseligkeit gelegen. Doch das konnte auch Täuschung sein.

 

Schluß des ersten Bandes.

 


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