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Viertes Kapitel.

»Papa – ein Brief von Dittmar!«

Gerda schwang das Couvert mit den japanischen Marken und den zahllosen Poststempeln hoch in der Hand, als sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters trat. Ihr Gesicht glänzte vor Freude. Gott sei Dank, endlich Nachricht von Dittmar! Er hatte ewig lange nicht geschrieben und man war immer in Sorgen um ihn.

Graf Dassel saß an seinem Schreibtische und arbeitete an einer Broschüre über die Leutenot auf dem Lande, die Ende Monats erscheinen sollte. Auch über sein vornehmes Antlitz flog ein heller Schimmer, als er die flotte und freie Handschrift seines Sohnes auf dem Couvert erkannte.

»Sieh da,« sagte er, den voluminösen Brief in der Rechten wiegend, »ein ganzes Paket! Hoffen wir, daß uns der Junge Gutes berichtet! Mach auf, Rattling, und lies mir vor! …«

Gerda ließ sich zu seiten des Arbeitstisches nieder. Der stand in einem geräumigen Zimmer, dessen Wände mit Bücherreihen tapeziert waren. Es war eine große Bibliothek, die eines Parlamentariers. Nach schönwissenschaftlicher Litteratur hätte man auf diesen Regalen vergeblich gesucht; um so reichhaltiger waren geschichtliche, politische und agrarische Werke vertreten. Ein mächtiger, offener Eichenschrank war nur mit Broschüren gefüllt, mit Tausenden jener Eintagsfliegen, die, gewissermaßen für den Augenblick geschrieben, in alle Winde flattern, um über den Tag hinaus kaum weiter beachtet zu werden, für den Forscher aber doch von Wichtigkeit sind. Alle politischen Parteien hatten sich in dem Schranke ein Stelldichein gegeben; neben kühl und sachlich gehaltenen Abhandlungen standen da leidenschaftliche Pamphlete, mit vergifteter Feder geschrieben, die Zornesergüsse gewaltiger Maulhelden, Aufrufe zum Kampf und Mahnungen zum Frieden, antisemitische Hetzreden und die Gegenschriften rabbinistischer Schlauheit. Ueber aller dieser aufgeregten Dialektik, dieser in die Volksmassen geschleuderten Brandfackeln, aber thronte die Büste Bismarcks, der vor kurzem seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert und dessen olympische Stirn Gerda bei dieser Gelegenheit mit einem frischen Lorbeerkranze gekrönt hatte. Unter dem grünen Lorbeer leuchtete das eherne Antlitz des Alten marmorweiß hervor, voll köstlicher Ruhe, ein leichtes Lächeln um den Mund – als lächle er über den unter ihm aufgehäuften papiernen Wust, in dem sein Name hundertfach genannt wurde …

Ein hohes Glas voll Frühlingsblumen stand auf dem Schreibtische des Grafen: Anemonen, Schneeglöckchen und die kobaltblauen Dolden der Cylla mit ihren rötlichen Stengeln, dazwischen silberfarbene Weidenkätzchen – ein Lenzgruß von der Hand Gerdas. Lenz war es auch unten im Parke, auf den man durch das Bogenfenster hinabschauen konnte, hinab auf ein lichtgrünes Wipfelmeer, über das die Sonne goldene Tupfen streute. Der Arbeitstisch Dassels war dicht an dieses Fenster herangerückt worden. Der Graf liebte es, von Zeit zu Zeit das Auge in erquicklichem Ausruhen über den Park schweifen zu lassen, der selbst im Winter unter seiner schillernden Hülle von Schnee und Eis ein Bild wundervollen Friedens darbot …

Gerda las den Brief aus Tokio vor. Es ging Dittmar gut – gottlob! Er schrieb zufrieden und glücklich und begeistert von Japan. Das Land sei einzig schön, auch die Gesellschaft charmant, der Gesandte ein liebenswürdiger Mann, seine Frau anbetungswürdig.

»Sehr gut,« bemerkte der Graf; »eine stille Liebe zu der Gattin seines Chefs verzeih' ich dem Dittmar. Das hält ihn von andern Dummheiten ab … Was weiter? Der Brief ist ja ellenlang.«

»Der Brief nicht,« antwortete Gerda. »Der ist kurz, wie es Dittmars Briefe gewöhnlich sind. Aber es liegt ein Manuskript dabei.«

»I – ein Manuskript?! Keine Rechnungen, Ratting?«

»Nein – es ist fast befremdlich, Papa – ein Manuskript. ›Skizzen aus Japan‹ nennt er es und schreibt, wir möchten es an die ›Kreuzzeitung‹ oder die ›Post‹ senden.«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Der Dittmar schriftstellert,« sagte er. »Das hätte ich nun im Leben nicht für möglich gehalten. Der Dittmar schriftstellert. Ich frage dich, Gerda, geht das mit rechten Dingen zu?«

Gerda lachte. »Den Beweis haben wir in der Hand, Papa; das Faktum läßt sich nicht leugnen. Uebrigens entsinne ich mich, daß Dittmar schon in der Schule recht gute Aufsätze machte. Vielleicht sind seine Skizzen druckfähig. Du, Papa, vielleicht sind sie etwas für euer neues Blatt.«

»Gib sie her, Gerda, ich will einmal hineinschauen. Sind sie leidlich, werd' ich sie Hans Volcker geben. Wann kommt Volcker? Wollt' er uns nicht heute besuchen?«

»Ja, Papa. Zum Frühstück. Ich weiß nicht, ob er bis morgen bleibt. Aber die Fremdenzimmer sind in Ordnung. Er kann also bleiben, wenn er lustig ist, und ich taxiere, er thut's.«

»Wenn du ihn darum bittest, gewiß.«

»Warum betonst du das ›Du‹ so? …« Die Wangen Gerdas röteten sich.

»Warum wirst du rot, Ratte?«

»Ach, Papa – pfui! … Pfui, Papa – du weißt, ich werde so leicht rot. Das ist physisch, nicht psychisch.«

»Sei's so. Komm her und laß dir einen Kuß geben! Wie deine Backen brennen! Das ist physisch, nicht psychisch. Herz und Seele brennen doch nicht? Herz und Seele sind doch kühl, Ratte?«

»Ganz kühl, Vater. Für wen sollte ich lodern? Für dich und den Strick in Tokio habe ich mir ein abgeklärtes Feuer bewahrt.«

»Recht so – das wärmt am besten. Sag einmal, Kind« … der Graf lehnte sich in den Stuhl zurück und nahm die Cigarre aus dem. Munde … »sag einmal: das sind eine ganze Masse Körbe, die du bisher ausgeteilt hast?«

»Wie kommst du darauf? gerade jetzt?«

»Es fiel mir so ein –«

»Drei Körbe – nur drei. An Hasso Hunding, Vetter Günther und –«

Die Komtesse schwieg plötzlich und starrte mit weiten Augen zum Fenster hinaus. Die Farbe auf ihren Wangen erlosch; ein herber Zug trat um ihre Mundwinkel. Ihr Blick nahm etwas Leeres an.

»Und –?« wiederholte Graf Dassel fragend.

Da erhob sich Gerda. Sie lächelte wieder, nicht ganz frei und fröhlich, doch auch nicht gequält.

»Es waren nur zwei Körbe, gestrenger Herr Vater,« sagte sie. »Denn Graf Vließen zog sich selber zurück – allerdings vorsichtig, schrittweise und seiner diplomatischen Würde angemessen – als er erfuhr, daß ich arm wie eine Kirchenmaus bin … Zwei Körbe aber kann ein gebildetes junges Mädchen aus guter Familie immerhin austeilen …«

Gerda merkte wohl, daß der Vater nur darauf gewartet hatte, das Gespräch auf den Grafen Vließen bringen zu können, denn der alte Herr nickte sehr lebhaft und meinte: »Vließen – ja richtig, Vließen … Uebrigens denke dir, der Vließen hat geheiratet –«

»Schon vor einem Jahr –«

»Ah – du wußtest es? Warum hast du es mir nicht erzählt?«

»Gott, Papa, ich glaubte, du hättest es selbst gelesen! Es stand in der ›Kreuz-Zeitung‹, dick und groß und merkwürdigerweise mit einem Trauerrand umzogen. Seine Frau soll aus der Familie eines rheinischen Großindustriellen stammen und sehr reich sein. Ich konnte mir denken, daß Vließen eine Geldheirat schließen würde.«

»Ich auch,« sagte Graf Dassel nickend, »er mußte es wohl auch … Er hat den Abschied eingereicht und will sich der Politik widmen. Ich fürchte, wir werden gelegentlich wieder mit ihm in Verbindung treten –«

»Du ›fürchtest‹ das?«

»Ja–a. Um – deinetwillen.«

Gerda warf stolz den Kopf in den Nacken. Sie stand dicht vor ihrem Vater, hoch gereckt, mit eisiger Miene und einem leisen verächtlichen Lächeln um den Mund.

»Ach, Papa, ich verstehe dich! Du glaubst, ich hätte immer noch etwas für diesen Mann übrig. In einem Winkelchen meines Herzens eine Altarnische, in der ich ihm zu heimlichen Stunden eine Flamme entzünde. Nein – die Flamme ist gelöscht – längst und für immer. Ich leugne nicht, daß es einmal anders war; gerade dich würde ich nie belügen. Aber heute? – Vließen selbst hat mir das Vergessen leicht gemacht. Ich bin von gutem Blut; eine Dassel bettelt nicht …«

Der Graf reichte seiner Tochter die Hand.

»Verzeih mir, wenn ich dann und wann glauben konnte, der Pfeil säße noch fest. Die Liebe ist biegsam, aber verletzter Stolz bricht sie doch. Ich bin so froh darüber, daß es aus ist, Gerda. Denke dir, es ängstigte mich fast, Vließen wieder zu begegnen. Aber – sprechen wir nicht mehr darüber … Hast du angeordnet, daß Volcker von der Bahn abgeholt wird?«

»Alles gemacht, Papa. Ich will nur noch Wein herausgeben. Bessern oder deinen Haustrank?«

»Bleiben wir bei dem Alltäglichen. Es würde Volcker, wie ich ihn kenne, selbst unangenehm sein, wollten wir Umstände machen. Adieu, Ratte; ich werde mich nun einmal auf Flügeln der Phantasie nach Japan tragen lassen …«

Gerda warf dem Vater noch eine Kußhand zu und ging dann, nach dem Häuslichen zu sehen.

Sie hatte viel zu thun. Sie war gewöhnlich von früh sechs Uhr an auf den Beinen und gönnte sich wenig Rast. Aber sonst ging ihr die Arbeit flinker von der Hand als heute. Sie war träumerisch. Unten im Weinkeller setzte sie sich auf eine leere Kiste und faltete die Hände im Schoß. Sie empfand plötzlich das Bedürfnis, ihre Gedanken zu sammeln.

Warum hatte der Papa so unvermittelt von ihren »Körben« zu sprechen begonnen? Doch nur, um auf unauffällige Weise die Unterhaltung auf Vließen bringen zu können … Hatte sie ihn wirklich vergessen? – Nein; eine Liebe vergißt man nicht. Er stand noch frisch und jung in ihrer Erinnerung. Die Vließens waren durch Gerdas Mutter weitläufig mit den Dassels verwandt: ein ursprünglich vlämisches Geschlecht, dessen noch lebende Sprossen über den halben Erdball verstreut waren. Graf Etienne war in den preußischen Staatsdienst getreten und Assessor beim Kammergericht, als Gerda ihn bei Gelegenheit eines Hofballs kennen lernte. Dieser Hofball brachte ihr noch andre folgenreiche Bekanntschaften. Drei Tage später hielt Hasso von Hunding, ein flotter Gardehusar mit rosiger Larve und blondem, auseinandergebürstetem Bärtchen, um ihre Hand an; sie dankte lachend. Dann holte sich ihr Vetter Günther Dassel, der ein Gut im Hannöverschen geerbt hatte und dringend einer Frau bedurfte, einen Korb. Das waren ihre kecksten Werber gewesen. Damals war sie fast noch ein Kind an Jahren und Denken, in ihrer äußeren Erscheinung aber schon ein reifes Weib. Und dieses üppig erblühte Geschöpf mit dem Ausdruck träumender Unschuld im Auge hatte die beiden gelockt. Sie drohten mit Pistole und Selbstmord, als sie abgewiesen wurden; aber es knallte nicht. Sie hielten weiter Umschau im Lande und fanden Ersatz für Gerda. Gerda wartete auf einen andern. Sie wußte wohl, daß Etienne sie liebte, und ihr Auge und ihr Händedruck und das Zittern ihrer Stimme und die Flammenschrift auf ihren Wangen hatten ihm Gleiches gesagt … Plötzlich kam der Riß. Vließen nahm Jahresurlaub und reiste nach Afrika, um Flußpferde zu schießen. Er schrieb noch dann und wann einen kurzen lustigen Brief, bis auch diese letzte flüchtige Verbindung langsam einschlief. Nach seiner Rückkehr suchte er die Dassels nicht mehr auf. Er war in die Provinz versetzt worden. Es war sein Wunsch gewesen – Gerda wußte das. Zwischen ihrem letzten Beisammensein und der Reise nach Afrika lag der Zusammenbruch Dittmars. Eine Frau, die nichts besaß, konnte Etienne nicht brauchen. Er floh vor ihr. Vielleicht hätte ein einziges Wort von ihr genügt, ihn zurückzurufen; denn das kühle Wägen zügelte doch nur schwer seine Leidenschaft. Aber sie sprach das Wort nicht aus. Eine Dassel bettelt nicht. Sie begrub Hoffen und Schmerz in einsamer Brust; die Kissen ihres Betts allein sahen ihre Thränen und hörten die Schreie ihres verzweifelten Herzens …

Ihre Wangen waren blasser geworden, da sie an all das zurückdachte, während sie auf der leeren Kiste im Weinkeller saß, mit gefalteten Händen, in die dämmernden Ecken des Gewölbes starrend … Etienne hatte geheiratet – sehr reich, wie man wissen wollte – vielleicht auch glücklich. Sie konnte ohne Groll seiner gedenken, zuckte ihr Herz auch noch. Und sie fürchtete, daß ihr starker Wille nicht ausreichen würde, ihn je so ganz zu vergessen, wie sie es sehnlich wünschte …

Eine kleine Spinne kroch über ihre Finger. Das ließ sie zusammenschrecken. Sie schüttelte die Spinne vorsichtig ab, ohne sie zu zertreten, und erhob sich. Jetzt ärgerte sie sich über ihre Träumerei. Wie kindisch, hier unten im Dämmer des Kellers die Gedanken spazieren zu führen! Hatte sie nichts Besseres und Wichtigeres thun? … Sie füllte den Flaschenkorb und stellte ihn vor die Thür; der Diener sollte ihn holen. Dann schloß sie ab, rief das Hausmädchen und revidierte mit ihr nochmals das Fremdenzimmer, in dem Hans Volcker schlafen sollte, hatte er Lust, über Nacht in Uttenhagen zu bleiben.

Schloß Uttenhagen war nicht groß: ein freundliches Landhaus im Barockstil inmitten eines sehr schönen alten Parks. Die Dassels saßen hier seit etwa hundert Jahren. Vorher hatte das Gut jenem nun erloschenen Adelsgeschlechte gehört, dessen Namen noch das kleine Dorf bewahrte, das sich am Seeufer erstreckte und mit seinen roten Dächern aus dem Wipfelgewirr der Erlen, Weiden und Buchen hervorlugte. Es war ein schöner Besitz: unter dem Pfluge kein schwerer, doch ein guter, ertragreicher Boden, vor allem aber prachtvolle Wiesen am fischreichen See und an tausend Morgen Waldbestand, der sich sehen lassen konnte. Der Wald war die letzte starke Stütze der reich mit Hypotheken belasteten Herrschaft. Er stand in hoher Kultur und war schlagfähig. Spekulanten und Holzhändler aus Berlin überstürmten Dassel mit ihren Angeboten. Aber immer sagte der Graf nein. Der Wald sollte die Mitgift Gerdas sein – wenn Dittmar nicht auch dies grüne Gelände zum Opfer verlangte. Davor zitterten beide, Vater und Tochter: der Wald war ihr Heiligtum …

Am frühen Morgen hatte sich Hans Volcker telegraphisch angesagt. Er wurde jeden Augenblick erwartet. Gerda stand vor dem Portal, einen Reitstock in der Hand, und ließ die Hunde springen. Der Neufundländer war willig, blaffte und setzte zwanzigmal über den Stock. Aber der Schotte hatte keine Lust und bekam Prügel. Das empörte die Teckel. Sie liefen davon, die krummen Beinchen übereinander wirbelnd, entdeckten auf ihrem Wege eine fette Katze, die einem jungen Vögelchen nachstellte, und kläfften gewaltig hinterher. Schotte und Neufundländer folgten; die dicke Katze hatte die ganze Dressur gestört. »Mac! Montez! Waldmann! Schnauzerl! Pitty!« schrie Gerda. Aber die Köter hörten nicht. Dafür antwortete eine helle Stimme in halbem Jodeln: »Holldriai – aho! …«

Ein offenes Wägelchen ratterte die Allee hinab, und in ihm saß Hans Volcker und schwang seinen Hut.

»Tag, Komtesse! Den Hunden bin ich begegnet und sie lassen grüßen. Aber sie hätten jetzt Wichtiges zu thun. Eine gelbe Katze, die zum Hofe gehören muß, denn sie neigt zum Embonpoint, womit ich nur sagen will, daß sie einen herrschaftlichen Eindruck macht, hat es Ihrer Meute angethan. Guten Tag, Komtesse! Die Katze ist oben an der Parkeinfahrt auf eine Akazie geflüchtet und unten herum stehen die Köter und bellen ihr Bedrohliches zu. Guten Tag, Komtesse; ich freue mich, daß Sie so wohl aussehen.«

»Guten Tag, Herr Volcker, ich freue mich auch. Nein, ich freue mich nicht, denn die Wendung mit dem Embonpoint, sollte sie sich auch nur auf die Katze beziehen, hat etwas Despektierliches und verletzt ganz Uttenhagen. Hier regiert die Schlankheit, Herr Volcker.«

»Pardon, wenn ich mich vergriff. Vielleicht war die ovale Katze nur eine optische Täuschung. Komtesse, ich komm' doch zu gelegener Zeit? Ich störe doch nicht? Sonst sagen Sie es unbekümmert, und ich zieh' wieder ab.«

»Nichts da!« rief die Stimme des Grafen. Dassel war unter das Portal getreten. »Was hör' ich von Abziehen?! Hierbleiben ist die Parole. Und zwar nicht nur für heute. Morgen ist Sonntag, da ruhen auch in Berlin die Geschäfte. Also keine Ausflüchte, lieber Herr Volcker! Fritz, den Koffer des Herrn Volcker in seine Stube – welche Stube, Ratte? – die grüne Stube, Fritz! Und nun wollen wir schleunigst frühstücken, denn es ist schon eine halbe Stunde über die tarifmäßige Zeit und mein Magen ist an Pünktlichkeit gewöhnt …«

So saß man denn bald am Frühstückstische, der im Billardzimmer gedeckt war, und Leitholz, der alte Diener, servierte, während Fritz, der Boy, das wichtige Amt des Tellerwechselns übernommen hatte. Er war noch nicht lange im Dienst, noch halb Bauernjunge und halb ein junges Füllen und mußte mit Vorsicht verwandt werden, zumal auf glattem Parkett, das er häufig als eine Schlidderbahn anzusehen pflegte.

Hans aß mit großem Appetit.

»Die Lenzluft hat mich hungrig gemacht. Verzeihung, Komtesse, daß ich so realistisch bin. Im Walde war ich es nicht. O Gott, ist es schön bei Ihnen! Die Stimmung und die Farben da draußen – das ist einzig! Komtesse ich habe eine große Bitte. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, fahren Sie mich nachher ein Stündchen in den Wald – ja?«

»Aber ja – mit Vergnügen. Der Wald ist mein Bestes; es gibt also nichts Besseres für mich. Nicht wahr, er ist herrlich? Und diese ganze Pracht sollten wir fällen lassen? Die Berliner Spekulanten sind greuliche Menschen. Sie kommen zuhauf und kommen immer wieder. Ich bin sehr für ein Plakat draußen am Eingang: ›Holzhändlern ist der Eintritt verboten‹.«

»Ach ja,« sagte Dassel, »die Industrie ist eine große Maschine – ›Achtung Dampfwalze!‹ – Thöricht, wer nicht auf den Achtungsruf hört! Lange genug haben wir unsre Ohren verschlossen; es nützt nichts mehr. Die Zeit braust weiter, und wir bleiben zurück. Die Maschinen arbeiten, und wir kommen unter ihre Räder. Gottlob, daß sich auch der Junker nicht mehr vor den rauchenden Schornsteinen fürchtet!«

»Gottlob,« wiederholte Gerda. »Jawohl, Herr Volcker, schauen Sie mich nur mit großen Augen an – so ganz und gar stecke auch ich nicht mehr im Burgwinkel! Ich habe nur noch in der Phantasie mancherlei für die alte Ritterherrlichkeit übrig, und das meiste für die Jagd mit dem Falken –«

»Famos!« fiel Hans ein. »Komtesse, ich bin ein ganz närrischer Romantiker. Ich sehe Sie durch den Wald jagen, in langem, wallendem, lichtgrünem Reitkleide: Sammet mit Goldverschnürung, das Federbarett auf dem Kopfe, gelbe Stiefel mit goldenen Sporen an den Füßen – das gehört auch dazu – und auf der rechten Hand den dressierten Falken. Oder nein – Pardon, den trage ich, als Ihr getreuer Knappe, im Lederkollett und mit einer Schleife an der Schulter, die Ihre Wappenfarben zeigt.«

Dassel und die Komtesse lachten, und ersterer sagte: »Lieber Volcker, es ist gut, daß Sie Ihre romantischen Neigungen mit der Gegenwart in Einklang zu bringen wissen. Wie ich Sie so vor mir sehe, scheinen Sie mir ein sehr moderner Mensch zu sein. Von der Krawatte herab, die man ein Wunder symbolistischer Verschlingung nennen könnte, bis zu der Bügelfalte im Beinkleid – ganz modern. Das ist freilich nur äußerlich, aber es zeigt doch, daß Sie Konzessionen zu machen gewillt sind. Klug und diplomatisch. Sie werden unser ›Morgenblatt‹ als gewandter Steuermann durch Wirbel und Untiefen und auch an mancher Sireneninsel vorüber führen. Uebrigens: ich habe ein Manuskript für Sie.«

Er sprach von den japanischen Skizzen, die Dittmar eingesandt hatte, mit lebhaftem Lob. Sie seien glänzend geschrieben, zeugten von scharfer Beobachtung und von gutem Humor. »Ich glaube wirklich,« fuhr der Graf fort, »daß der Junge eine ausgesprochen schriftstellerische Begabung besitzt. Auch sein reifes Urteil frappiert mich. Es liegt ja ein gewisser blasierter Ton über dem Ganzen, eine starke Neigung zur Ironie, aber gerade das gibt den Schilderungen einen überlegenen Weltschliff, der meines Erachtens recht pikant wirkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, Herr Volcker, wie freudig überrascht mich die Lektüre dieser Blätter hat! …«

Auch Gerda war glücklich. Sie kannte ihren Vater und sein feines Urteil. Hätten ihm die Skizzen nicht gefallen, so würde er sie lächelnd in seinen Schreibtisch gelegt haben; die Liebe zu dem Sohn beeinflußte ihn nicht. Volcker versprach, das Manuskript mit Interesse zu lesen und es dem Feuilletonredakteur zu übergeben. Dassel hatte sich ihm gegenüber bei Gelegenheit offen über die Sorgen ausgesprochen, die ihm Dittmar bereitet; so beeilte sich Hans denn, in einigen liebenswürdigen Worten seiner Freude darüber Ausdruck zu geben, daß Graf Dittmar anscheinend auf bessern Wegen sei.

»Anscheinend – ach, liebster Volcker, ich wünschte, ich hätte Gewißheit, daß er den alten Adam endgültig ausgezogen!« rief Dassel. »Dittmar ist ein kluger Junge. Mit siebzehn Jahren hatte er sein Abiturium hinter sich. Aber ich glaube, es war nicht gut für ihn, daß er so früh in die Welt trat –«

»Und,« fiel Gerda ein, »daß wir nicht von Anbeginn an strenger gegen ihn gewesen sind. Das war die Schuld der Mama.«

»Leider. Dittmar war nun einmal ihr Abgott. In jeder seiner Dummheiten sah sie nur einen Ausbruch seines brausenden Temperaments. Er sollte sich austoben. Du lieber Gott, warum nicht?! Aber er hätte vor den Grenzen Halt machen sollen, die das Vermögen seines Vaters und auch – ja, und auch sein guter Name ihm gezogen. Ein Edelmann treibt sich nicht mit allerhand Gesindel an den Spieltischen herum … Pardon, Herr Volcker, das Wort entschlüpfte mir: ich wollte Gentleman sagen, denn ich sondere in Bezug auf Wohlanständigkeit der Gesinnung nicht bürgerlich und adlig …«

Eine leichte und feine Röte bedeckte das Gesicht Volckers, während er mit verbindlicher Bewegung den Kopf neigte. Graf Dassel galt unter seinesgleichen für sehr vorurteilsfrei, stand auch in politischer Beziehung, was man ihm vielfach verdachte, ziemlich vereinzelt auf der äußersten Linken seiner Partei. Zuweilen aber sprach sich dennoch in gelegentlichen Bemerkungen das unausrottbare Empfinden des alten landsässigen Aristokraten aus, der im Bürgertum nur eine gefährlich anwachsende plebejische Macht sieht. Dassel pflegte dann gewöhnlich über sich selbst zu erschrecken, und auch seine Verbesserungen und Verschleierungen nützten nicht viel, verstärkten sogar noch zuweilen das Gefühl, einem Manne gegenüber zu stehen, der beim besten Willen nicht immer über sich selbst hinauskommt. Insonderheit Hans Volcker fühlte sich, obschon er eine aufrichtige Verehrung für Dassel hatte, durch diese plötzlichen Ausbrüche feudaler Gesinnung verletzt. Er wußte sehr wohl, daß auch der Graf sich darüber ärgerte, daß es sich im Grunde genommen immer nur um ein rasches Aufwallen des Bluts, um eine Temperamentssache handelte, nicht um Absicht und Ueberlegtheit. Aber für Hans stieg dann die Schranke zwischen ihm und den Dassels wieder himmelhoch empor – und das schmerzte ihn namenlos. Er liebte Gerda tief und innig …

Das Frühstück war beendet. Die Herren steckten sich die Cigarren an, und Gerda bestellte den Wagen für die Waldfahrt. Man wollte den Sonnenschein ausnützen; im Westen stieg eine weiße Wetterwand empor, die für den Abend Regen versprach. Dassel lüstete es nach einer kurzen Siesta. Inzwischen führte Gerda ihren Gast nach dem Rinderstall, um ihm die neuen Bayreuther Schecken zu zeigen, die sie sich von den letztjährigen Erträgnissen der Milchwirtschaft gekauft hatte.

Selbstverständlich that Hans im Kuhstall außergewöhnlich interessiert und schüttelte bedauernd den Kopf, als Gerda vor einem Kalbe stehen blieb, bei dem der fünfte Backzahn nicht kommen wollte. »Merkwürdig,« sagte er, »warum will er denn nicht kommen?«

Gerda lachte hell auf. »Das weiß ich eben auch nicht, Herr Volcker, und deshalb ist mein Kummer so groß. Der fünfte Zahn soll im siebzehnten Monat dasein, und dieses Kalb ist fast zweijährig. Aber ganz gesund, wie Sie sehen.«

»Gott sei Dank, daß es wenigstens gesund ist,« sagte Hans. »Ich werde mir jetzt die Hosen aufkrempeln, denn ich bemerke, daß man in Uttenhagen auf gute Düngung hält.«

Gerda lachte abermals. »Bleiben Sie nur, wie Sie sind; ich führe Sie nicht weiter. Ein flüchtiger Einblick in meine Ressorts genügt. Uebrigens freu' ich mich, daß Sie Humor besitzen. Menschen ohne Humor kann ich nicht leiden …«

Es überrieselte Hans auf einmal siedendheiß. Das war eine Bemerkung, an die er anknüpfen konnte. Er hätte sagen können: »Komtesse, Sie können mich also leiden. Vielleicht nimmt dies Empfinden noch einmal an Wärme zu. Ich liebe Sie wahnsinnig und über alle Maßen …« oder so ähnlich. Aber der Kuhstall genierte ihn und überall der prachtvolle frische Dung. Im Stall war zwar außer ihm und ihr derzeit kein Geschöpf mit menschlicher Seele. Doch Stall bleibt Stall; hier wohnte die Poesie der Liebe nimmer. Es ließ sich auch nicht niederknieen ohne eine ganz lächerliche Verunglimpfung der Beinkleider. Und schließlich sagte die Komtesse in diesem Augenblick, auf ihre Gescheckten deutend: »Wenn's mit dem Milchhandel so fortgeht, Herr Volcker, versuch' ich's nächstjährig einmal mit dem Haderslebener Schlag. Das soll etwas ganz Famoses sein. Und nun kommen Sie; der Wagen wird vorgefahren sein. Zudem dünkt mich Ihr Interesse für die Insassen dieses Raumes stark erheuchelt.«

»O Komtesse, ich schwöre … Es gibt kaum etwas Reizvolleres für mich als dieses Kuh-Boudoir. Mir thut nur das kleine Kälbchen mit dem fehlenden Backenzahn so furchtbar leid, und deshalb wird mir das Scheiden eigentlich leicht …«

Er begann, wieder lustig zu werden. Der Kuhstall war ihm wirklich gleichgültig, aber wie die Komtesse auch hier herrschte, nicht als Grafentöchterlein mit der siebenzackigen Krone auf dem stolzen Kopfe, sondern als recht kluge und nüchtern erwägende Handelsfrau – das imponierte ihm fast. Sie schritt voran über den Wirtschaftshof, denn sie hatte mit dem ihr entgegeneilenden Vogt noch einiges zu bereden – und Hans ging hinterher und schaute ihr nach. Sie war ungemein einfach gekleidet und hatte doch etwas Großes, Stolzes und Königliches an sich. Und ein Nimbus herber Jungfräulichkeit schien sie zu umschweben wie die Amazonen des Altertums, denen sie glich mit ihrer hohen Figur und den starken Schultern, als sei auch sie immer zur Wehre bereit …

Vor der Schloßrampe hielt ein leichtes Wägelchen, ein Selbstfahrer, mit einem Ponygespann davor. Fritz hielt die Zügel und grinste. Er hatte von Natur aus ein mürrisches Gesicht, aber Gerda hatte ihm einmal gesagt, er müsse immer hübsch freundlich sein; und von dieser Zeit ab grinste er, wenn er seine Komtesse sah, als schwebe er in Seligkeit und Wonne.

Leitholz brachte die Hüte und warf für alle Fälle ein paar Regenmäntel auf den Wagen.

»Soll ich nicht lieber kutschieren, Komtesse?« fragte Hans, der ein guter Fahrer war.

»Nein, mein Herr,« erwiderte Gerda, »die Ponies wollen nur meine Faust. Sie sehen zahm aus und friedfertig, aber es sind nichtsnutzige Burschen. Auch bei ihnen täuscht der äußere Eindruck … Sitzen Sie? – Dann los!«

Der Wagen rollte davon.


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