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Die Frühjahrsrennen hatten begonnen. Es leuchtete und flimmerte auf den Tribünen und auf dem grünen Plane: lichte Damentoiletten in allen Farbennuancen, Uniformen in Menge, die blauen, roten, weißen, gekreuzten und gestreiften Blusen der Jockeys, gelbe und graue Sommerpaletots, schlicht dunkle Röcke – ein buntes Spiel wie immer in diesen Tagen. Dazu heller Himmel; auf blauem Grunde ein paar verdunstende und verschwimmende Wölkchen; am Horizont ein weißer Strich.
Das Drehgitter am Totalisator war in ununterbrochener Bewegung. Die Menschen drängten sich hier zusammen. Von der Höhe der Tribünen herab sah es aus wie ein wimmelnder Termitenhaufen. Auch um den Pfahl mit der Nummerntafel hatten sich dichte Gruppen gebildet. Die Buchmacher huschten hin und her, den Bleistift wie kampfbereit in der Hand, lärmend, schreiend, dann auch wieder flüsternd, dem und jenem ein paar Worte ins Ohr raunend, als handle es sich um unbezahlbare Geheimnisse. Ein närrisches Leben und Treiben.
So äußerte soeben eine junge Dame auf der ersten Tribünenreihe neben der Loge des Unionklubs zu ihrer Nachbarin.
»Nicht wahr, närrisch, gnädige Frau?« fuhr sie fort. »Man kann schwindlig werden, wenn man fünf Minuten lang in dieses Gewühl hineinstarrt. Ich bin froh, daß ich hier in Ruhe und Behaglichkeit sitze. Sind Sie aufgeregt?«
»Nein. Weshalb?« – Gerda schaute Fräulein Nathansohn ein wenig verwundert an.
»Ach nun – ich meine, weil Ihr Herr Gemahl heute zum erstenmal auf der Rennbahn paradiert. Es ist doch auch ein Debüt – sozusagen.«
»Und mir kein ganz erwünschtes. Vetter Vließen war der Verführer.«
Hella Nathansohn erhob ihr Programm. Der Anemonenstrauß auf ihrem Hute nickte.
»Hat Graf Vließen auch ein Pferd angemeldet?«
»Aber ja – zwei. Seine berühmte ›Wellgunde‹ und den ›König Rottraut‹.«
Hella lachte. »Pardon, gnädige Frau. Eigentlich müßt' ich mich schämen. Steh' mitten in der Gesellschaft und weiß nichts von der berühmten ›Wellgunde‹. Meine Unwissenheit würde den armen Papa sehr schmerzen. Also ›Wellgunde‹. Eine Dame: Rappe, Schimmel oder was sonst? O, gnädige Frau, instruieren Sie mich ein bißchen, wenn ich bitten darf! Ihr Herr Bruder hat mich schon einmal ausgelacht, weil ich einen offenbaren Braunen mit einem Fuchs verwechselt habe.«
»Also geben Sie acht: ›Wellgunde‹, vom ›Imperator‹ aus der ›Floßhilde‹, fünfjährig, Goldfuchs mit Blesse, Graditzer Abstammung. Das genügt zur Information.«
» Merci. Jetzt werde ich dem Grafen Dittmar imponieren. Und wie heißt das Pferd Ihres Herrn Gemahls?«
»›Sonnabend‹, Rappstute aus – aber in diesem Falle brauchen Sie das Pedigree nicht zu wissen. ›Sonnabend‹ ist noch keine Berühmtheit.«
»Reitet Herr Volcker selbst?«
»Nein; sein Jockey. Es ist kein Herrenreiten. Mein Bruder ist untröstlich. Er wäre gar zu gern wieder einmal in den Sattel gestiegen.«
»Und mußte sich die Freude versagen –«
»Auf Wunsch Papas. Schließlich hat er recht.«
Auch Hella nickte zustimmend. Man hielt den Grafen Dittmar straff in den Zügeln. Der alte Dassel wollte nicht, daß sein leichtsinniger Junge die aristokratischen Gewohnheiten von einst wieder aufnehme. Es war ganz gut so. Hella nahm ein lebhaftes Interesse an Dittmar. Während des Winters war sie häufiger mit ihm zusammengekommen. Er gefiel ihr mehr und mehr, je näher sie ihn kennen lernte. Daß er zuweilen, nach ihrer Meinung, höchst verrückte Ansichten entwickelte, lag in der Rasse. Er steckte immer noch tief im Feudalen: das mußte man ihm verzeihen. Aber er war ein frischer Bursche, und sein Ideenkreis beschränkte sich nicht nur auf Pferde, Jagd, Rangliste und Herrendiners. Man konnte über alles mit ihm plaudern, sogar über Litteratur und Kunst.
Die Sonne meinte es gut. Sie hatte die letzten Wölkchen am Himmel zerstreut und brannte auf den grünen Plan herab. Gerda Volcker spannte ihren kleinen weißgelben Schirm auf. Sie sah vortrefflich aus. Die Flitterwochen waren längst vorüber. Schrecklich, so eine Hochzeitsreise. Man war durch Oberitalien gejagt, das, da der Herbst schön gewesen war, noch von einem starken Touristenstrome überflutet wurde. Ueberall Engländer, Amerikaner und Berliner, auch eine Masse Bekannte. Ueberall dieselben glatten Kellnergesichter, dieselben langweiligen Tables d'hôte, die berühmten zwei Eier zum Frühstück und die nie gehenden Standuhren auf den Kaminsimsen. In Venedig hatte man schließlich acht Tage Station gemacht. Das war die Erholung. Es war ein Aufatmen nach dem öden Umherreisen durch die Hotels. Man wohnte bei Danieli, frühstückte im hellen Sonnenschein auf dem Lido, fütterte die Tauben auf dem Markusplatz und fuhr bei Mondenlicht durch den Canale grande.
Aber Frieden und Glück fand Gerda doch erst nach der Heimkunft. Hans hatte in der Rauchstraße eine Wohnung gemietet, mit der Aussicht ins Grüne. Unter den Fenstern nach der Straße zu standen alte Kastanien; jenseits des Kanals dehnte sich der Zoologische Garten aus. Zuweilen glaubte Gerda, in Uttenhagen zu sein und daß der Park vor ihr liege, wenn sie träumend am Fenster saß. Sie war zufrieden und glücklich. Ihren Gatten sah sie freilich nur in den Abendstunden. Er führte das Leben eines Berliner Geschäftsmannes, war tagsüber in seinem Bureau, nahm das zweite Frühstück gemeinsam mit Bertram in einem Weinlokal in der Nähe der Verlagsanstalt und kehrte gewöhnlich erst um sechs Uhr nach Hause zurück. Das war die Zeit des Mittagessens. Gerda freute sich schon am Vormittag auf diese Stunde. Die große, elegant eingerichtete Wohnung erschien ihr dann noch einmal so behaglich; die Teppiche waren nicht mehr so neu; man spürte nicht mehr überall die Hand des Dekorateurs; man saß im Trauten und Eingewohnten. Gerda haßte das »Neue«. Hans war für elektrische Beleuchtung der Wohnung gewesen; der Anschluß machte nicht viel Kosten. Aber seine Frau protestierte. Das Licht war so kalt und gleißend, so nackt wie der Egoismus; es paßte nicht für die Häuslichkeit; sie nannte es das »Licht der Repräsentation«, und steife Grandezza war ihr gräßlich.
Ja, gräßlich. Sie begriff deshalb auch nicht ihres Mannes Vorliebe für glänzende Geselligkeit. Gewisse Kreise waren nicht zu umgehen. Weder hüben noch drüben; weder der Geschäftsverkehr, der in die Häuslichkeit zurückebbte, noch die aristokratische Welt, mit der Gerda versippt und befreundet war. Gerda war für Auswahl, für kleine Zirkel lieber Bekannter. Doch das ließ sich nicht machen. Hans behauptete, der »vorgeschobene Posten«, auf dem er stehe, nötige ihn zu einem umfassenderen Verkehr. Aber dabei grenzte er genau ab. Das ging nicht an, daß in seinen Salons ein tolles Kunterbunt herrschte; für gemischte Gesellschaft schwärmte er nicht. Und daß er die Kreise, denen seine Frau entstammte, bevorzugte, war Neigungssache. Er war immer mehr Gentleman als Kaufmann gewesen.
Seine sportlichen Interessen waren durch den Umgang mit Vließen und den Herren vom Unionklub gewachsen. Ein Reitpferd hatte er sich schon als Junggeselle gehalten. Nun standen auch zwei Renner bei ihm im Stall. Gerda sagte nichts gegen den Ankauf. Aber im tiefsten Herzen war es ihr wenig recht. Sie fürchtete, Hans werde sich noch mehr zersplittern. Schon heute war sein Verlag nicht sein Alles. Politik und Gesellschaft nahmen ihn stark in Anspruch.
Gerda war eine vernünftige Frau, klar sehend und ohne Sentimentalität. Ein Mann, der so in der Welt stand wie Hans, konnte kein Haustierchen sein. Sie gönnte ihm auch die Mannigfaltigkeit seiner Interessen; jedwede Einseitigkeit beengt und stumpft ab. Aber daß sie schon heute, ein halbes Jahr nach der Hochzeit, die Stunden zählen mußte, die er ihr vergönnte, warf doch einen Schatten auf ihr Glück …
Ein schrilles Glockenzeichen erscholl. In die bunten Massen des Publikums kam eine stürmische Bewegung. Das Gedränge an den Schaltern war fürchterlich geworden. Der sich steigernde Lärm machte die Musik fast unverständlich; sie schwirrte wie in abgerissenen Tönen durch die staubgeschwängerte Luft.
Auf dem Sattelplatze stand Hans Volcker neben seiner Rappstute. Der Jockey saß schon im Sattel, mit weiß-lila gestreifter Seidenbluse, krummem Rücken und weit durch die Bügel geschobenen Füßen. Er war mordshäßlich und hing wie ein Aeffchen auf dem Rücken des Gauls.
»Milton,« sagte Hans und klopfte dem ›Sonnabend‹ auf den Hals, »vergessen Sie nicht, bei der ersten Hürde starke Hilfen zu geben. Nur bei der ersten. Nachher springt der Kerl schon von selbst.«
» Well!« antwortete Milton.
»Und sehen Sie zu, daß Sie die rechte Seite behalten können. Lassen Sie sich nicht nach links drängen.«
» Well!« sagte Milton wieder. Er amüsierte sich heimlich über die Sorgen seines Herrn. Er war seiner Sache sicher.
Ein Ulanenoffizier auf einem langbeinigen Braunen ritt langsam heran. Neben ihm schritt Graf Vließen. Ganz Engländer: in grauem, eng anliegendem Zweireiher, karrierten Beinkleidern und grauem Cylinderhute.
»Nicht so nervös, Volcker,« sagte er lächelnd. »Was haben Sie zu fürchten?«
»Gar nichts,« warf der Ulan ein; »Herr Volcker, mein Jockey ist mit dem zweiten Preise zufrieden. Wo steckt Ihr Schwager?«
Hans wies nach der Wage.
»Da steht er und plaudert mit dem dicken Nathansohn.«
»Ah ja. Die sind intimer geworden. Dittmar wird den Sport aufgeben und noch Börsenredakteur werden.«
»Oder pflückt sich eine Rose von Jericho,« sagte Vließen maliziös.
Hans überhörte geflissentlich den Spott, der ihm nicht mehr neu war. Die Schandzungen der Gesellschaft hatten Dittmar und Hella längst zusammengekuppelt. Er wußte, daß das Unsinn war; aber auch den Unsinn fand er geschmacklos.
Stallburschen in violetten Sammetjacken führten ein paar noch reiterlose Pferde herbei. Inzwischen hatte das dritte Glockensignal den Beginn des ersten Rennens verkündet. Man hatte auf dem Sattelplatze kein Interesse dafür: der Sieg des Favoriten stand von vornherein fest. Nur Graf Dittmar reckte gewohnheitsgemäß den Hals.
»Warum sind Sie nicht auf der Journalistentribüne?« fragte ihn Nathansohn. »Da haben Sie's jedenfalls bequemer.«
»Und sitze zwischen Krethi und Plethi – ich danke.«
Der dicke Finanzmann lachte. »Man gewöhnt sich an alles, Graf Dassel. Ich habe sogar einmal ein halbes Jahr geschweningert.«
»Ich schweningere augenblicklich auch, Herr Nathansohn. Den Luxus des Daseins habe ich mir bereits gründlich abgewöhnt.«
»Aber es bekommt Ihnen gut.«
»Wie man es nimmt. Ich bin nicht gerade unglücklich. Man gewöhnt sich in der That an alles, selbst an gewaschene Handschuhe und an die Journalistenkreise.«
»Böse Gesellschaft – was?«
»Nein. Sogar sehr vornehme Leute darunter. Aber auch viel Gesindel. Wie überall – Herrgott ja, wie überall. Man kommt auch in den Salons mit allerlei Lumpen zusammen –«
»Stimmt. Ein gut sitzender Frack ist noch keine Bürgschaft für die Wohlanständigkeit –«
»Aber ein gut sitzender Frack ist uns Leuten von Welt unbedingt sympathischer als eine schmutzige Jacke. Lump bleibt Lump und doch ist uns der im reinen Gilet der angenehmere. Wir haften alle an Aeußerlichkeiten.«
»Liebster Herr Graf, was heißt ›alle‹? Nun ja, in gewissen Aeußerlichkeiten stecken wir alle, manche ein bißchen, manche bis über beide Ohren. Aber Sie doch mehr als unsereins. Das liegt an der Geburt und Erziehung und vor allem an der Ueberlieferung. Uebertreibt man es nicht, ist's ganz schön. Denn diese sogenannte Aeußerlichkeit ist doch auch ein sehr fester Kitt, der die von der guten Gesellschaft zusammenhält, und zudem steckt in manchem, was wir Aeußerlichkeit nennen, oft ein recht solider Kern, zuweilen sogar ein sittlicher …«
Ein dröhnendes Aufschwirren mehrerer tausend Stimmen unterbrach ihn. Es war, als zerteile sich eine ungeheure Sturzwelle am Felsgestade. Ein roter Husar trabte vorüber.
»Gott um die Welt, Baron Hunding,« rief der Bankier, »was schreit man denn so?«
»Schwerin ist mit der ›Belmonte‹ gestürzt –«
»I der Teufel – und hat sich verletzt?«
»Nee – er ist wieder auf den Beinen, aber die ›Belmonte‹ rührt sich nicht mehr.«
Ein paar andre Herren näherten sich zu Fuß, zwei in Civil, einer in Dreß.
»Die ›Belmonte‹ hat sich den Hals gebrochen,« sagte Prinz Inningen. Sein großes Monocle glänzte wie eine Metallscheibe. »Ich habe Schwerin gewarnt –«
»Er hört ja nicht,« warf Graf Breesen ein, der einen riesigen Krimstecher an schwarzem Lederriemen um den Hals trug und mit den Armen fuchtelte. »Die ›Belmonte‹ war längst nicht mehr sicher auf den Vorderknochen, aber Schwerin wollt's um die Gewalt nicht wahr haben. Nu' hat Huhnholtz den Schaden davon …«
Die »Belmonte« gehörte dem Afrikaner, der auf allen Sportplätzen zu finden war, wenn er nicht gerade auf Entdeckungsreisen weilte. Man bedauerte ihn nicht allzusehr; er war wenig beliebt.
Dittmar schritt quer über den Platz; er wollte Näheres in Erfahrung bringen. Nathansohn begleitete ihn; er hatte den Hut abgenommen und strich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Das mußte mal so kommen,« meinte er. »Die ›Belmonte‹ war nur noch eine Ruine, eine aufgetakelte Schönheit; rührte sich erst, wenn sie 'ne halbe Clicquot im Leibe hatte. Aber Doktor Huhnholtz ist nicht glücklich, wenn sein Name nicht allerwegen genannt wird. Reklamemätzchen! … Wie ist's, Graf Dassel, speisen wir zusammen?«
»Ich habe noch auf der Redaktion zu thun, Herr Nathansohn.«
»Das dauert nicht ewig. Sagen Sie zu. Um Sechs bei Hiller.«
»Wenn ich es machen kann, lieber Herr Na …« Er schnippste mit den Fingern, blieb einen Augenblick stehen und lüftete lächelnd den Hut. »Vergebung. Ich nenne Sie schlankweg Herr Nathansohn. Und seit acht Tagen sind Sie Kommerzienrat. Ich hab' es nicht bös gemeint, Herr Kommerzienrat.«
»Lassen Sie mir nur meinen Namen, Graf Dassel. Nun ja, ich bin Kommerzienrat geworden, und zwar in allen Ehren, denn der Titel hat mir keine Unkosten gemacht. Aber der Name ist mir dennoch lieber. In dieser Beziehung hänge ich nicht an Aeußerlichkeiten … Ich will mich einmal nach meiner Tochter umthun. Ihre Frau Schwester hat sie mit auf die Edelings-Tribüne genommen. Allerhand Hochachtung. Also um Sechs bei Hiller. Nicht ablehnen, Herr Graf; ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, Ihnen einen Vorschlag machen …«
Er wartete nicht auf die Antwort, sondern schritt rasch den Tribünen zu. Er hatte keinerlei sportliche Gelüste, zeigte sich aber absichtlich dann und wann einmal auf den Rennplätzen. Es war Geschäftssache für ihn wie allerlei andres.
Verkäufer schrieen die neueste Nummer des »Volksboten« aus. Diese Verkäufer, an ihren weißen Mützen mit blanken Blechschilden kenntlich, überschwemmten seit einem halben Jahre Berlin und die Vororte. Sie machten gute Geschäfte. Sie hatten für das Exemplar einen Pfennig zu zahlen und es für zwei Pfennig zu verkaufen. Aber die meisten Käufer ließen ein Fünfpfennigstück in ihrer Hand zurück.
Nathansohn opferte sogar einen Groschen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die erste Seite der Zeitung und faltete das Blatt dann so hastig auseinander, daß das schlechte Papier riß.
»Wisch,« murmelte er. »Vließen hätte dem Düren das Dreifache bieten müssen.« … Er stutzte. »Zackri – nun auch einen Börsenteil! …« Er blieb einen Augenblick stehen, unbekümmert um das Menschengewoge rings um ihn, und setzte seinen Kneifer auf.
Das war interessant. Der Stimmungsbericht gut gemacht, flott geschrieben, aber auch verständig; gegen das Kohlensyndikat, das der Armut die Heizung verteuert – »sehr gut,« murmelte Nathansohn abermals, »den Kohlenbaronen muß man auf den Kopf steigen …« Er las weiter.
»Pfui,« sagte eine Stimme hinter ihm. Es war Graf Vließen, der soeben einen der Zeitungsjungen, der ihn am Aermel zupfte, von sich abschüttelte. »Nathansohn, das ist wider die Verabredung. Lesen Sie das ›Morgenblatt‹, aber machen Sie keine Reklame für die Pennypresse.«
»Sehen Sie, daß das ›Morgenblatt‹ hier verkauft wird, Graf Vließen? Wo? Ich sehe es nicht. Aber der ›Volksbote‹ ist in aller Händen.«
»Eine vornehme Zeitung wird nicht durch Kolportage vertrieben.«
»Ah bah, warum denn nicht? Hunderttausend Leser mehr thun der Vornehmheit einer Zeitung keinen Abbruch. Ich glaube, wir sind gar zu vornehm, lieber Graf Vließen, wir vom ›Morgenblatt‹. Wir werden noch ersticken an unsrer Vornehmheit. Waren Sie in der letzten Versammlung des Aufsichtsrats?«
»Jawohl. Ihr Fehlen wurde sehr bedauert.«
Nathansohn zuckte mit den Schultern. »Was soll ich da? Ich ärgere mich nur. Binnen vier Wochen drei Angriffe auf die Börse. Und auch von mir steckt ein Stück Kapital in dem Blatte.«
»Wenn wir nicht objektiv bleiben, können wir einpacken.«
Der dicke Bankier lachte. »Objektiv! Nana! Die ›höhere Warte‹, sagt Sensenschmidt. Ist Eure Politik objektiv? Graf, ich kenne die Zeitungswelt. Rechts drehen, links drehen – der selige Schmock stirbt nicht aus …« Er knüllte den ›Volksboten‹ zusammen und pfropfte ihn in eine der weiten Taschen seines Ueberrocks … »Aber ›objektiv‹ klingt gut, so gut wie ›vornehm‹. Worte, Worte, Graf Vließen! Ist Ihre Gattin nicht hier?«
»Nee … Hat Migräne. Oder vielmehr bekommt sie jedesmal, wenn sie einem Rennen beiwohnt. Passen Sie auf: jetzt soll Volckers ›Sonnabend‹ zeigen, was er kann – nein, was sie kann. Dumme Idee, einer Stute einen männlichen Namen zu geben.«
»Es gibt noch dümmere Ideen. Zum Beispiel –«
»Zum Beispiel das ›Morgenblatt‹ –«
»O nein. Die Idee ist gut, aber die Durchführung schwach. Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Graf …« Er faßte Vließen an einen Knopf seines Zweireihers, tippte mit dem Zeigefinger der andern Hand auf die Brust des Grafen und war im Begriff, seine Ansichten über das Wesen der modernen Presse zu entwickeln. Daß das mitten auf dem Rennplatze geschehen sollte, zwischen Gewühl und Lärmen, störte ihn nicht. Aber Vließen machte es nervös.
»Liebster, nur jetzt keine Vorträge,« meinte er. »Ich muß mich um Volcker bekümmern. Der Mensch ist so aufgeregt, daß er zum Ueberschnappen reif ist. Auf Wiederseh'n, Kommerzienrat!«
Er drängte sich durch die Menge nach dem Startplatz. Nathansohn zündete sich eine Cigarre an. »Blödsinn.« murmelte er. »Volcker sollte bei seiner Zeitung bleiben. Blödsinn …« Er steckte im Weiterschreiten die Hände in seine Paletottaschen und fühlte dabei das Knittern des Zeitungspapiers. Das lenkte seine Gedanken wieder auf den »Volksboten«. Dieser Düren interessierte ihn plötzlich. Ein gewandter Bursche. Weder vornehm, noch objektiv, aber gerissen. Seine Zeitung war Spekulationsobjekt. Welche Zeitung war es nicht? Verdienen wollte schließlich alle Welt. Aus reinem Idealismus steckte man nicht Millionen in Papier. »Idealismus – Blödsinn …«
Hans Volcker befand sich in der That in starker Aufregung. Dieser heutige Tag war bedeutungsvoll für ihn. Das bildete er sich wenigstens ein. Dieser heutige Tag bezeichnete eine Scheidegrenze für seine soziale Stellung.
Seine Eitelkeit war seine Schwäche. Er litt am Adelstick. Er hätte sein halbes Vermögen dafür geopfert, wäre er adliger Geburt gewesen. Das nahm er ganz ernst. Der Zufall hatte ihm nur eine Bürgerkrone in die Wiege gelegt. Er strebte danach, auch als Bürgerlicher ein vollendeter Kavalier zu werden. »Auch« – denn in seinen Augen hatte der Adel noch immer Vorrechte. Bertram hatte ihm gelegentlich einmal in voller Offenherzigkeit seine kleinliche Narrheit vorgeworfen; ein wackeres und ehrenfestes altes Patriziergeschlecht sei über thörichtes Strebertum erhaben. Doch Hans bestritt, daß er ein »Streber« sei, ein Streber in lächerlichem oder zweifelhaftem Sinne. Und wirklich, das war er nicht. Aber er gestand zu, daß er eine Schwäche für jene gesellschaftliche Vornehmheit hatte, als deren Vertretung man die Aristokratie des Namens zu bezeichnen pflegt. Seine Erziehung hatte diese Neigungen unterstützt. Seine Mutter war früh verstorben, und dann hatte eine entfernte Verwandte, eine Frau von Henningen, die Wirtschaft im väterlichen Hause geführt. Frau von Henningen entstammte Cleveschem Adel und hielt etwas auf ihre Ahnenreihe. Sie führte einen Hahn im Wappen, der schlug mit den Flügeln und hatte den Schnabel geöffnet; er krähte den Ruhm des Hauses aus. Sie war eine gute Frau und liebte Hans zärtlich, während sie Bertram nicht leiden konnte. Dann kam für Hans die Zeit des Studiums. Es war nur ein sogenanntes Studium, denn da er gemeinsam mit seinem Bruder das altberühmte Geschäft weiterführen sollte, so sollte er auch innerhalb des Hauses den Buchhandel erlernen. Aber dieses sogenannte Studienjahr bei den Saxo-Borussen in Heidelberg war nichtsdestoweniger wichtig für seine Entwickelung, und von noch größerem Einfluß seine Dienstzeit bei den Pasewalker Kürassieren. Er war in der That ein vollendeter Kavalier geworden. Das konnte ihm auch in seinem Berufe nicht schaden. Bertram spöttelte nur noch selten über ihn; er sagte auch nichts, wenn des Bruders ganze Anschauungsweise, an den Kodex der gesellschaftlichen Exklusivität gebunden, der seinen durchaus widersprach. Solange Hans sich im Geschäft tüchtig erwies, konnte man ihm schon seine kleinen Liebhabereien lassen. Erst in letzter Zeit begann Bertram ängstlich zu werden. Gesellschaft, Klub, Politik und Sport begannen Hans lebhafter zu beschäftigen, als gut war.
In der That: Politik und Sport interessierten ihn ungemein. Für das nächste Jahr waren die neuen Reichstagswahlen angesetzt. In der großen Tagespresse hatte der Kampf bereits begonnen; die Kandidatenlisten wurden aufgestellt, die Vertrauensmänner der Parteien und Fraktionen traten zu Besprechungen zusammen. Die sogenannten Nationalen wollten in der Hochburg des Freisinns einen gewaltigen Vorstoß gegen die Opposition wagen. Man hatte auch Hans auf die Kandidatenliste für Berlin gesetzt. An einen endgültigen Sieg war nicht zu denken, aber es schmeichelte Hans, daß man sich seiner erinnert hatte. Er stürzte sich mit Eifer in die Politik – und auch auf diesem Gebiete wie auf dem des Turfs war Graf Vließen sein Berater.
Heute sollte ihm »Sonnabend« den ersten Sieg bringen. Die Konkurrenten waren kaum zu fürchten. Das Feld jagte über die Bahn, vorläufig noch ziemlich geschlossen; die weißlila Kappe Miltons leuchtete nur eine Nasenlänge den andern voran. Der Jockey stand in den Bügeln, das Gesäß über dem Sattel, die Ellenbogen in der Luft. Er sah unschön aus. Aber hier sprach die Schönheit nicht mit.
Durch seinen Krimstecher konnte Hans die dahinflitzenden Gäule verfolgen, bis sie hinter den Hügeln verschwanden. Dann ließ er das Glas sinken. Das Geschrei des Volks, das sich längs der Barrieren drängte, machte ihn nervös. Er wollte nichts mehr sehen. Langsam schlenderte er nach der Restauration, ließ sich ein Glas Sherry geben und setzte sich in eine Ecke.
Er war der einzige Gast. Das Fräulein hinter dem Büffett klapperte mit Gläsern und Tellern. Um seiner Aufregung Herr zu werden und seine Gedanken abzulenken, sah Hans aufmerksam zu, wie sie einen Bayonner Schinken in Scheiben schnitt. Sie hatte große und fleischige, aber sehr weiße Hände. Hans beobachtete jede ihrer Bewegungen, zählte die Knöpfe an ihrer Taille und versenkte sich dann in den Anblick der kleinen goldenen Brosche, die sie am Kragen trug. Diese funkelnde Rundung hatte etwas Beruhigendes für ihn.
Da wurde die Thür geöffnet. Man hörte den ungeheuern Lärm draußen in verstärktem Maße, bis sich die Thür wieder schloß und das Geräusch ferner klang. Ein junges Paar war eingetreten.
»Sehen Sie, hier sind wir so gut wie ungestört, liebes Fräulein,« sagte der Herr. »Wer hatte recht? Ein Vergnügen ist es nicht, im Sonnenbrande und in den Staubwolken umherzustapfen. Man muß schon sehr passioniert sein, um das schön zu finden.«
»Ich bin wie gerädert,« erwiderte das Fräulein lächelnd, »und verkomme vor Durst.«
»Dem werden wir abhelfen. Sekt? Hier gibt es glasweise Champagner. Eine wohlthätige Einrichtung zur Auffrischung der Nerven. Oder Mosel mit Selter, Fürstenbrunnen, Apollinaris, Limonade? Oder Schokolade mit Schlagsahne?«
»Brrr! Also Limonade – Citronenlimonade.«
» Bon …« Der Herr bestellte, während die kleine Blondine sich an einen Tisch setzte und ihrem erhitzten Gesichtchen mit dem Taschentuch Kühlung zufächelte. Jetzt erst sah sie Hans. Beider Blicke trafen sich. Sie erblaßte leicht, blieb aber ruhig, legte ihr Antlitz auf das kühlende Foulard und wechselte dann den Platz, so daß sie Hans den Rücken zuwendete.
Volcker hatte eine rasche Bewegung gemacht, als wolle er aufspringen. Der andre Herr sah dies, und da er glaubte, die Bewegung gelte ihm, so blickte er aufmerksamer zu Hans hinüber. Er erkannte ihn.
»Herr Volcker, wenn ich nicht irre,« sagte er, sich mit höflicher Begrüßung Hans nähernd. »Mein Name ist Düren; ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch entsinnen –«
»O gewiß, Herr Düren,« entgegnete Hans und erhob sich, die ihm entgegengestreckte Hand drückend; »wie geht es Ihnen?«
»Danke bestens – gut. Mir geht es immer gut. Derzeit allerdings besser als je. Mein ›Volksbote‹ floriert.«
Ueber die Schulter Dürens hinweg flog der Blick Hansens immer wieder zu der jungen Dame, die langsam an ihrer Limonade schlürfte.
»Also das Blatt geht flott? Ich glaube, Sie annoncieren bereits dreißigtausend Abonnenten?«
»Dreißigtausend, und am ersten Oktober werden es fünfzigtausend sein. Nun, und Ihr ›Morgenblatt‹?«
»Wir sind gleichfalls zufrieden, Herr Düren. In Bezug auf die Abonnentenzahl können wir uns freilich nicht mit Ihnen messen. War nicht beabsichtigt und wäre auch kaum möglich. Ihre Zeitung wendet sich an erheblich weitere Kreise.«
»Ist richtig. Lesen Sie den ›Volksboten‹ zuweilen?«
»Dann und wann – bei mir auf der Redaktion.«
»Und gefällt er Ihnen? Ich meine natürlich, in seiner Art. In seiner Art natürlich. Wollten wir unsern Kreisen mit dem schweren Geschütz der großen politischen Zeitungen kommen, so wär's von vornherein vorbei …« Er wartete die Antwort auf seine Frage an Hans nicht ab. Er wurde geschwätzig und wiegte sich dabei, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte im Westenausschnitt, auf den Füßen hin und her. Seine Begleiterin schien er völlig vergessen zu haben. »Schade, daß wir damals nicht zusammenkommen konnten, Herr Volcker. Es ging nicht, da Sie schon das ›Morgenblatt‹ planten – vielleicht wären Sie auch so für meine Idee nicht zu haben gewesen. Ich hätte das begriffen und Ihnen wahrhaftig nicht übelgenommen. Ein ernsthafter Verlag zieht das Gediegene und Wuchtige vor. Das Volk verlangt seine eigene Litteratur und auch seine eigene Presse. Wetter, wie ist mir denn! Stand nicht auch Ihr Name auf dem Rennprogramm?«
Hans nickte. »Ich warte in der Stille die Entscheidung des Rennens ab.«
Das imponierte dem Rheinländer. »Schneidig,« sagte er. »Sehen Sie, das charakterisiert gleich die Stellung unsrer beiden Blätter. Das ›Morgenblatt‹ setzt seine Jockeys in den Sattel und läßt seine Pferde rennen – der ›Volksbote‹ bummelt zu Fuß durch das Publikum. Wir wären doch nicht zusammengekommen, Herr Volcker. Eins schickt sich nicht für alle. Ich muß zu meiner Dame. Schwester meines Feuilletonredakteurs, die zum erstenmal einen Rennplatz sieht. Herr Volcker, war mir sehr angenehm gewesen –«
»Sehr angenehm, Herr Düren –«
Einer der Kellner hatte wieder die Thüre geöffnet. In ihr drängten sich die Bediensteten des Lokals zusammen, stellten sich auf die Fußspitzen und reckten die Hälse. Wildes Geschrei und gellende Zurufe schollen von den Tribünen und den Stehplätzen herüber. Das Rennen mußte sich seinem Ende nähern.
Nun wurde Hans von verdoppelter Unruhe erfüllt. Er warf ein Geldstück auf den Tisch und schritt grüßend an Düren vorüber.
»Die Ehre, Herr Volcker, die Ehre!« rief Düren, seinen Curaçao in der Hand. Die Dame neben ihm neigte den Kopf. Volcker hatte sie absichtlich nur mit flüchtigen Blicken gestreift; er war zartfühlend genug, sie nicht in Verlegenheit zu bringen.
Das Rennen war interessanter geworden, als man vermutet hatte. »Sonnabend« war in der Schlucht nach links herübergedrängt worden und zurückgeblieben. Als sich die Pferde diesseits des Wäldchens zeigten, sah man, daß der Jockey in weiß-lila Dreß wohl um zwei Längen hinter dem ersten in Verlust war. Aber der erste, der Reiter auf dem langbeinigen Braunen des jungen Ulanen, mochte fühlen, daß ihn sein Schicksal erreichte. Er versuchte, den Kopf zu wenden; es war mehr eine unwillkürliche als beabsichtigte Bewegung. Der Jockey in Weiß-lila lag fast auf seinem Pferde, doch man merkte nicht, daß er mitarbeitete; er kannte seine Stute und hatte sie schon im Training so durchlässig geritten, daß eine geringe Aufmunterung beim Finish genügte. Allmählich änderte sich sein Sitz. Er richtete sich auf und ließ sich fester im Sattel nieder. Er holte langsam die Hinterhand heran, ohne Uebereilung, denn der Weg war noch lang und erst die letzten hundert Sprünge sollten alle Kraft aufwenden. Aber schon wurde der Zwischenraum zwischen dem ersten und zweiten kürzer. Dritter war ein Jockey in Schwarz-blau; weit hinter ihm folgte der Fuchs des unter dem Namen »Captain Wheel« auf den Rennplätzen bekannten Börsenmatadors. Auf den Tribünen stieg der Lärm. Längs den Barrieren zogen sich schwarze Menschenstriche hin; auch hier quoll ein unaufhörliches Tosen empor. Die Reiter hörten es nicht. Sie sahen kaum etwas. Der Finish begann. Sand und Rasenstücke wirbelten durch die Luft. »Sonnabend« hatte den Braunen überholt; aber dessen Reiter wehrte sich tapfer. Sein Pferd blutete im Maule, und auch auf den Flanken zeigten sich rötliche Schaumflocken. Er riegelte mit den Händen und pumpte aus dem Pferde heraus, was zu holen war. Es half alles nichts …
» Gratulor – gratulor!« rief Vließen Hans entgegen. »Mensch, wo stecken Sie denn?! Mit zehn Längen gewonnen – was wollen Sie mehr!?«
»Zehntausend Em,« sagte Baron Hunding, der Sohn, »tausend auf die Länge.«
Ein Schwarm von Freunden und Bekannten umdrängte Hans. Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen. Im Augenblick bildete er den Mittelpunkt einer Gruppe von Aristokraten. Auch ein paar weltbekannte Sportsmen befanden sich darunter. Und überall wurde sein Name genannt: auf den Tribünen, am Totalisator, auf den billigen Plätzen.
Volcker – ein neuer Name. Wer war Hans Volcker? Ein reicher Buchhändler, der Verleger des »Deutschen Morgenblatts«. Alle Welt interessierte sich plötzlich für ihn. Daß sich Finanzgrößen ihren Rennstall hielten, wußte man; Namen wie Baron Oppenheim, Simon, Ettlinger, Mayer kehrten auf allen Rennprogrammen wieder. Daß aber auch ein Buchhändler auf dem grünen Plane eine Rolle zu spielen begann, war noch nicht dagewesen. Viele ließen sich diesen Herrn Hans Volcker zeigen. Der Präsident des Unionklubs, ein Herzog in langem Gehrock, einen glattkrempigen Cylinder halbschief auf dem grauen Kopf, bat darum, ihm vorgestellt zu werden.
Der Kammerherr Graf Breesen hatte, seinen riesigen Krimstecher in das Futteral packend, den Baron Hunding Vater erwischt und hielt ihn am Paletot fest.
»Sie, Baron, auf einen Augenblick. Na, was sagen Sie?«
»Was soll ich denn sagen?«
»Zu unserm Volcker. Macht sich, nicht wahr?«
»Macht sich schon, macht sich!«
»Vließens Dressur. Hunding, ich denke, wir lassen den Huhnholtz fallen und stellen Volcker im vierten Wahlkreise auf. Dassel ist auch der Meinung.«
»Hab' nichts dagegen. Durch kommt er ja doch nicht. Aber die Kandidatur gibt dem ›Morgenblatt‹ Hintergrund. Sagen Sie, Graf, glauben Sie, daß der Mammon, den wir da reingesteckt haben, sich mal verzinsen wird?«
Breesen lachte vergnügt. »Warum nicht? Abwarten, Baron. Uebrigens: ich für mein Teil habe keinen Pfennig gegeben, dafür aber über eine Million besorgt. Das ist auch etwas wert.«
»I nu nee,« antwortete Baron Hunding und dachte heimlich: »Alter Schlaufuchs! Karriolt mit seiner Reisetasche herum und knöpft den Leuten das Geld ab. Das ist sinnreich und billig …«
Die Gruppe, die Hans umgab, teilte sich plötzlich. Die Köpfe entblößten sich, die Hände fuhren an die Mützen; man verneigte sich. »Gnädigste Frau … Herr Graf …«
Gerda trat am Arme ihres Vaters näher, beide Hände ausgestreckt, mit glänzendem Antlitz.
»Gratuliere, Hans,« rief sie »und vivat sequens!«
Er küßte ihre Rechte und schüttelte die Hand des alten Dassel, der ihn gleichfalls beglückwünschte.
»Danke, Papa. Wo kommst du her?«
»Aus Uttenhagen. Ich hatte in Berlin zu thun, und da fiel mir ein, daß du heute auf dem Felde der Ehre stehst. Bin eben erst eingetroffen und sah gerade noch den ›Sonnabend‹ durch das Ziel schießen …« Er begrüßte die Bekannten rechts und links. »Lieber Graf – beste Durchlaucht – grüß Gott, Herr Herzog – 'Tag, Baron –« es schwirrte durcheinander. Sein Schwiegersohn war der einzige Bürgerliche im Kreise. Der lächelte froh. Er fühlte sich sehr glücklich. Seine Eitelkeit wuchs und seine Schwäche wurde stark …
Inzwischen nahmen die Rennen ihren Fortgang. Der Sattelplatz leerte sich allmählich wieder. Nur Hans, Gerda, ihr Vater und Vließen blieben zurück. Hans hatte sein sorglich in Decken gewickeltes Pferd beklopft und dem triefenden Jockey ein freundliches Wort gesagt.
»Wann kommst du an die Reihe, Etienne?« fragte Dassel.
»Nummer fünf, Onkel.«
» Bien; das wollen wir abwarten und dann zum Essen gehen.«
»Hiller oder Uhl?« rief Hans hinüber.
»Nach Hause,« entgegnete Gerda; »ich habe das Diner für heute zu fünf Uhr bestellt. Oder willst du noch in das Geschäft, Hans?«
Hans hörte lieber, sie sprach von seinem »Bureau« als von seinem »Geschäft«. Das war auch eine seiner kindlichen Kleinlichkeiten.
»Ich müßte eigentlich,« erwiderte er, mit Daumen und Zeigefinger über die Sehnen des ›Sonnabend‹ streichend. »Ich habe mit Bertram zu konferieren. Aber schließlich kann es bis morgen bleiben. Essen Sie mit uns, Vließen?«
»Da ich mich daheim bis Mitternacht beurlaubt habe, bin ich so frei – wenn die gnädigste Cousine die Einladung ihres Herrn und Gebieters wiederholen sollte.«
»Was hiermit geschieht,« sagte Gerda lachend. »Oder willst du es schriftlich haben?«
»Volksbote!« schrie einer der Zeitungsjungen, der sich keck bis auf den Sattelplatz gewagt hatte. »Volksbote! Zwee Pfennig! Jräßlicher Mord in Bukarest! Een hoher Beamter hat seine Jeliebte umjebracht! Allerneiestes aus Afrika! Die Pest in Bombay! Herr Jraf, neiste Nummer jefällig?«
»Scher dich zum Satan!« rief Vließen unwillig. »Ekelhaft!«
»Wirklich ekelhaft,« wiederholte Hans.
Es fing jemand dies Wort auf. Düren ging mit seiner Begleiterin von vorhin grüßend an der Gruppe vorüber.
»Haben Sie gehört, Fräulein Olga?« fragte er das blonde kleine Fräulein. »Eine hübsche Kritik unsers Blattes. Aber die Kritik ist frei und ich sage nichts dagegen. Der lange Herr in Grau, der zuerst ›ekelhaft‹ rief, das ist der Graf Vließen, von dem ich Ihnen einmal erzählte. Er hat eine Cousine von mir geheiratet. Sie ist aller Schönheit bar, und keine der Grazien hat an ihrer Wiege gestanden. Doch ist sie sehr reich. Als der Graf sie ehlichte, soll man an dieser Heirat hie und da dieselbe Kritik geübt haben, wie Vließen soeben am ›Volksboten‹. Die Kritik ist frei. Aber es wird überall mit Wasser gekocht. Herrgott, welche Weisheit liegt doch in dieser scheinbaren Trivialität! Fräulein Olga, Sie sind blaß und müde. Wir wollen uns eine Droschke nehmen …«