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»Kennen Komtesse den Grafen Vließen?« fragte Volcker, als der Wagen zum Dorfe hinausfuhr.
Die Zügel in ihren Händen gerieten in leichte Bewegung.
»Ja, ich kenne ihn. Aber es ist lange her, seit ich ihn zum letztenmal gesehen habe. Er ist einer meiner Vettern; eine Verwandtschaft dreimal um die Bahn und über Hürden und Hindernisse.«
»Er sprach mir davon, daß er mit Ihnen verwandt sei. Ich habe ihn neulich kennen gelernt. Er hat sich mit einer hübschen Summe an unserm Zeitungsunternehmen beteiligt.«
»So –? Nun, er kann es ja. Er soll sehr reich sein.«
»Er hat eine reiche Frau. Aber – –«
»Was aber –? Genieren Sie sich nicht! Der Reichtum hat seinen Haken –?«
Hans nickte.
»Zu hohe Schultern und ein böses Gesicht. Und auch allerhand unliebsamen Anhang. Die Gräfin ist eine geborene Düren. Ich kenne die Genealogie dieses Hauses, einer alten rheinischen Buchdruckerfamilie. Der Vater der Gräfin trennte sich von seinem Bruder, der die Druckerei in Köln übernahm, um die Eisengießerei seiner Schwiegereltern weiterzuführen. Und das war gescheit von ihm, denn das Eisen hat ihn zum Millionär gemacht.«
»Millionäre sind in den Augen der Welt nie ein unliebsamer Anhang.«
»Leider ist der Bruder Dürens, der Kölner, nicht als Millionär gestorben. Sein Sohn ließ die Druckerei verkommen, strolcht jetzt in Berlin umher und will gleichfalls eine neue Zeitung ins Leben rufen –«
»Gott bewahre – kein Konkurrent. Sein Blatt wendet sich an ganz andre Kreise als das unsre. Es will den Klatsch pflegen und zwar in pikantester Form. Sie können sich denken, daß es der Gräfin nicht gerade angenehm ist, den Namen Düren in so fragwürdiger Weise preisgegeben zu sehen. Dieser Franz Düren, der Macher des ›Volksboten‹, ist der unliebsame Anhang, von dem ich Ihnen sprach.«
»Kann mir schon denken, daß Vließen darüber erbost ist. Aber, wenn er so reich ist – weshalb stopft er dem lieben Anverwandten nicht den Mund?«
»Das wird er versucht haben; ich vermute nur, Herr Düren wird seine Ansprüche etwas hoch gespannt haben. Graf Vließen machte mir so eine Andeutung. Uebrigens eine charmante Persönlichkeit! Ritterlich, liebenswürdig, zuvorkommend – ich glaube auch, ein kluger und vielgewandter Mann … Aufgepaßt, Komtesse. Wir fahren in den See!«
»Keine Angst,« gab sie lachend zurück und straffte die Zügel an. »Meine Lämmer scheuen das Wasser …«
Dennoch war der Augenblick gefährlich. Der Weg senkte sich scharf und zog sich sodann dicht am Seeufer entlang. Die Ponies rasten die Biegung hinab, aber der Wagen war leicht und gut in den Federn. Allerdings fehlte nicht viel, so hätte Gerda ihren Gast in das Wasser gefahren. Sie lehnte sich zurück, und ihr Gesicht wurde um eine leichte Schattierung bleicher; ihre Lippen schlossen sich fest; ihre Augen nahmen einen stählernen Glanz an. Die straff gespannten Zügel schnitten tief in das Fleisch ihrer Hände ein, denn sie trug keine Handschuhe. »Hoppla!« rief sie. Mit scharfem Ruck fuhr der Wagen herum und rollte nun gemächlich das Seeufer hinab.
»Eine unangenehme Stelle,« sagte Hans.
»Wir haben hier mehr dergleichen,« erwiderte sie lächelnd; »der Wegbau ist noch ein wenig zurück. Aber nun haben Sie den Blick frei. Ist das nicht hübsch? Die Hügelreihe da drüben sollen Reste alter Pfahlbauten sein. Papa hat gelegentlich nachgraben lassen; man hat allerhand gefunden: Pfeilspitzen, Dolche, Schwerter – meist Waffen. Die Menschen der Urzeit zankten und prügelten sich wohl noch mehr als die von heute. Da guckt auch der Kirchturm von Uttenhagen hervor! …«
Sie wies mit der Peitsche über das Wasser.
Eine eigentümliche Stimmung lag über der Natur. Die weiße Wolkenwand, die im Westen aufgestiegen, war zerflattert und bedeckte den ganzen Himmel wie mit einem durchsichtigen, hie und da zerrissenen Schleier. Der Sonnenglanz hatte sich in ein bleiches, milchiges Licht gewandelt, das auch dem Frühlingsgrün der Wälder eine grausilberne Tönung gab. Nur der See war grün wie immer – in lichtem Smaragd flimmerte seine weite Fläche, und da, wo sich eine Unterströmung bemerkbar machte, zeichneten sich dunkle Linien und breite zitternde Flecke auf dem Glanz des Wasserspiegels ah. Am Ufer wucherten Schilf und Riedgras in dichten Massen; die ersten Libellen huschten über die aufwärts starrenden Spitzen des Röhrichts, in dem zwischen den Lenztrieben noch die verdorrten Halme des Herbstes mit ihren braunen Samenkolben standen, ein undurchdringliches Gewirr bildend, in dessen Einsamkeit die Wasservögel ihre Brut zum Leben erweckten.
Der Weg buchtete sich zu vielfachen Kurven aus, denn das Seeufer war unregelmäßig gestaltet wie die zackige Halskrause einer Rittersfrau. Da und dort hielten alte Weiden Wacht, in langer Reihe, gleichsam in Frontstellung aufmarschiert – behängt mit silbergrauen Kätzchen, die tiefer ragenden Zweige auf dem Wasser wiegend. Nicht überall trat der Wald bis dicht an den See heran. Breite Einschnitte zeigten dampfende Wiesen, schwarz besprenkelt von zahllosen Maulwurfshaufen, oder Felder, auf denen teilweise schon die Aussaat dem Sommer entgegenreifte. Und ganz hinten sah man zwischen Pappelpyramiden noch immer die Kirchturmspitze von Uttenhagen …
Hans war in frohester Laune, war beglückt, dicht neben Gerda sitzen und allein mit ihr in die Welt kutschieren zu können. Ganz allein – nicht einmal der Boy hing hinten auf dem Groomsitz und grinste. Ganz allein – nur den weiß schillernden Himmel über sich und ringsum die blühende Frühlingsfreude. Hans war in einer Stimmung, die ihn alles bewundern ließ, und enthusiastisch gab er seinem Frohgefühl Ausdruck. Wie drüben auf den nassen Wiesen ein bläulicher Nebel emporquirlte, der sich in den wilden Brombeerbüschen und dem Wacholder am Raine verfing – wie das ganze Astwerk der Birken, ein silbernes Skelett, durch das erste zarte, kaum sprossende Grün hindurchschimmerte – wie die Fische im Wasser sprangen und sich auf der stillen Oberfläche zerrinnende Kreise zeigten – wie die weißen Wolken auf ihrem stahlgrauen Untergrunde sich immer mehr dehnten und immer transparenter wurden – all das fand er ganz wunderbar, schwärmte davon und rief Himmel und Hölle als Zeuge an, daß es nichts Schöneres gäbe.
»Die Stadt ist plebejisch, das Land aristokratisch. Komtesse, ich verstehe, daß sich der Adel nur hier draußen wohl fühlt. Es war immer seine Heimat; es würde widernatürlich sein, wär's anders.«
»Fragen Sie einmal die neue Generation, ob sie Ihrer Meinung ist, Herr Volcker. Man wird Ihnen antworten: das Land verbauert, die Stadt weckt die Intelligenz. Seit der Adel seine Seßhaftigkeit verloren hat und das Gefühl, daß er nur auf seiner Scholle der Herr ist, geht er in der großen aristokratischen Gesellschaft unter. Was schadet es, wenn er ›verbauert‹? Er ist ja doch nichts weiter als ein Bauer mit blauem Blut. Sei er doch stolz darauf!«
»Ich glaube nicht, daß Baron Hunding glücklich sein würde, wollte man ihn einen blaublütigen Bauer nennen. Aber freilich – er ist längst kein Landjunker mehr; ist schon Höfling geworden. Ich versteh' Sie, Komtesse. Ich meine sogar, daß es auch vom großen volkswirtschaftlichen Standpunkte aus besser wäre, wenn der Adel seine Scholle hütete, statt sich in der Stadt zu zersplittern.«
»Natürlich wäre es das! Sehen Sie meinen Vater an! Was ist ihm sein Landbesitz? Im Grunde genommen etwas sehr Lästiges, um das er sich nur widerwillig kümmert. Das Fanal der ›Intelligenz‹ lockt ihn mehr.«
»Was ich begreife und im historischen Sinne bedaure. Aber die Historie schreibt auf Erztafeln und die moderne Zeit auf vergänglichem Papier. Das geht rascher, und so kann man auch den Augenblick geeigneter ausnützen. Schließlich: ist's nicht die Hauptsache im Leben?«
Gerda gab ihm fröhlich recht. »Sie sind trotz Ihrer romantischen Neigungen eine praktische Natur, Herr Volcker. Müssen es auch sein. Nicht nur als Kaufmann, sondern vor allem als Zeitgenosse. ›Wer seiner Zeit gelebt‹ und so weiter. Eigentlich ein wahres Wort. Man muß nur keine historischen Missionen zu erfüllen haben. Doch seien Sie beruhigt: auch ich habe dies aufgegeben.«
»Wirklich, das beruhigt mich sichtlich, Komtesse. Ich hatte Angst, das Burgfräulein in Ihnen sei doch noch lebendiger, als ich wünschen möchte. Nun liebe ich zwar das Historische, aber mehr als Dekoration wie inhaltlich. Scherz beiseite – nach Auflösung der Stände scheint es mir unmöglich, noch von einem historischen Beruf des Adels sprechen zu können, um so weniger, als ihm allgemach auch die letzten seiner geschichtlichen Vorrechte abgeknöpft worden sind.«
»Dafür hat er wenigstens seine Vorurteile behalten,« sagte Gerda und lachte.
Hans streifte mit raschem Blicke ihr Profil.
»Sie auch, Komtesse?«
»Was – ich? Ob ich auch noch voller Vorurteile stecke? Gewiß – wenigstens glaube ich es. Aber so ganz verbohrt bin ich doch nicht mehr. Zum Beispiel würde mich meine Krone nicht hindern, Comptoirfräulein zu werden. Nur mein Haß gegen die Großstadt ist noch der völlig traditionelle. Den überwinde ich nicht so leicht. Ich glaube auch nicht, daß die allgemeine Flucht vom Lande in die Städte Sehnsucht nach Intelligenz ist, die sich schließlich auch auf der Scholle befriedigen läßt, wenn man den Kopf danach hat – sondern zum großen Teile die Gier nach rascherem Gelderwerb, nach dem Genuß und der Zerstreuung. Par exemple – ich bin überzeugt davon, daß die Politik, die Papa immer wieder nach Berlin zieht, im letzten Grunde auch nur ein Mittel ist, sich anregend zu zerstreuen …«
Hans schwieg eine kurze Weile. Es ging in den Wald hinein. Der grüne See verschwand hinter den Stämmen. Zu Häupten der beiden rauschte es. Kein Vogel sang; der Lenzwind sprach allein.
»Also so sehr hassen Sie die Stadt?« begann Hans von neuem. Seine Stimme klang merkwürdig zaghaft und kindlich. Gerda wandte sich fast erschreckt nach ihm um.
»Sie fragen das, als ob ich der Riese Goliath wäre, bereit, Ihr geliebtes Berlin mit einer Hand zu erdrücken! Ich bin nun einmal ein Landkind. Aber, lieber Gott, eine Närrin bin ich nicht! Müßte es sein, würde ich auch in Berlin leben können. Weiß ich denn, ob mich das Schicksal nicht noch einmal dorthin verschlägt? Wenn ich Hasso Hunding geheiratet hätte, säße ich jetzt als Leutnantsfrau in Potsdam und hätte mich auch gefügt … Nun geben Sie acht! Jetzt kommen wir in die sogenannten Dachsberge. Da wurden zu Mamas Zeiten große Feste gefeiert und was die Hauptsache ist: da bin ich getauft worden …«
Das interessierte Hans natürlich ungemein. Die Ponies trabten einen schmalen Weg hinab, der noch so voller welkem Laub lag, daß man kaum ihren Hufschlag hörte. Es war ein lautloses Gleiten in grünes Dämmer hinein, in einen Birkenwald von köstlichem alten Bestand, in dem die glatten weißen Stämme himmelhoch ragten, schlank gewachsen, ein Meer von Masten, das oben der grüne Blätterschleier deckte. Der ganze Wald war parkartig gehalten. Zahlreiche Wege und Fußpfade durchkreuzten ihn, und überall sah man steinerne Bänke und die Spuren ehemaliger Verschönerung.
Auf einem freien Rundplatze hielt Gerda an.
»Steigen wir ab,« sagte sie. »Wir wollen die Zügel um einen Baum schlingen. Die Ponies werden schon stehen – die Mückenplage geht ja erst los. Ich muß Ihnen eine Ueberraschung zeigen. Oder vielmehr eine Entdeckung, die ich neulich einmal gemacht habe, als ich auf den Dachsbergen Grillen fing. Sehen Sie dies steinerne Unding da in der Mitte? Es sieht wie ein Opferaltar aus, ist oder war aber nur ein Kochherd, auf dem gesotten und geschmort wurde, wenn hier Gesellschaft war.«
»Wie an Ihrem Tauftage. Eine hübsche Idee, so eine Taufe unter Gottes freiem Himmel!«
»Das mögen die Eltern auch gedacht haben. Nachher zeige ich Ihnen die Stelle, wo der Altar für den Prediger stand und das Taufbecken. Erst aber muß ich Sie mit meiner Ueberraschung bekannt machen …«
Hans war bereits abgesprungen und half auch Gerda vom Wagen. Die Ponies ließen sich willig anbinden und wühlten sich mit den Nasen in dem feuchten Laub ein, um ein paar frische Grashalme aufzuschnuppern.
»Komtesse, ich fürchte, wir bekommen Regen,« sagte Hans und deutete zum Himmel, dessen Wolkenbehang eine graue Farbe angenommen hatte.
»Dann werden wir naß,« entgegnete die Komtesse kurz. »Nun geben Sie mir Ihre Hand – ich will auf den Opferstein klettern. Opferstein klingt netter als Kochherd. Dann helfe ich Ihnen auch hinauf.«
Hans sah sich den Steinhaufen erst näher an.
»Etwas wacklig, Komtesse – aber auf Ihre Gefahr und Verantwortung hin! Halten Sie sich fest an mich!«
Sie stützte sich auf seinen Arm, schürzte ihr Kleid höher und kletterte tapfer darauf los. Von der Höhe herab reichte sie Hans die Rechte.
»Nun los! Ich steh' wie ein Monument. Wie die Bavaria in München – hab' auch sonst Aehnlichkeit mit ihr, nur bin ich nicht so hohl. Hoppla, Cousin – so–o!«
Er stand neben ihr, schwankte noch etwas, aber sie legte ihren Arm um seine Taille. Er war ganz Glück und Seligkeit.
»Stehen Sie nun endlich? Herrgott, Sie haben ja Lackschuhe an!«
»Ja. Ich will's nicht wieder thun. Halten Sie mich nur fest, Komtesse! Ich habe noch nie den Montblanc bestiegen. Wo ist nun die Ueberraschung?«
»Da drüben,« sagte sie und wies geradeaus. »Da haben Sie Schloß Uttenhagen wie auf einer kolorierten Photographie, aber geschmackvoller. Ein von lebendigem Grün umrahmtes Miniaturbild.«
»Wahrhaftig! Das ist wirklich ein entzückender Blick! Wenn nur meine Stellung –«
Er kam nicht weiter. Die Steine wichen mit Plötzlichkeit unter den beiden und mit Rollen und Krachen und lautem Getöse. Die Ponies scheuten empor. Das Bild, das sie sahen, mochte sie mit jähem Entsetzen erfüllen, denn sie stiegen aufwiehernd in die Höhe, zerbrachen die Deichsel, zerrissen die Zügel und jagten in flottem Galopp mit dem Wägelchen davon. Aber immer den Weg hinab; sie wußten, wo es nach Hause ging …
In demselben Augenblick, da Hans den Boden unter sich schwinden fühlte, umschlang er hastig mit beiden Armen Gerda, um sie vor dem Sturze zu schützen, so wie sie vorhin ihn hatte schützen wollen. Aber es blieb bei dem guten Willen. Der historische Kochherd ging aus allen Fugen; er hatte die Last der beiden Menschen nicht tragen wollen; er sprang, riß und klaffte auseinander, und Hans wie Gerda sahen sich plötzlich niedergerissen, unsanft und unfreundlich, die Beine hoch und über den Augen einen deckenden Schleier von fein pulverisiertem Mörtel, der wie eine Rauchsäule in die Luft wirbelte …
Sie waren beide lautlos gestürzt, gleich wackeren Kriegern, die in der Schlacht von der Todeskugel getroffen werden. Hatte Hans seine Gefährtin auch nicht vor dem Falle retten können, so hielt er sie doch immer schützend umschlungen, mit beiden Armen und rückte und rührte sich nicht und wäre vermutlich noch länger, ganz still, doch mit stürmendem Herzen, so liegen geblieben, hätte Gerda nicht angefangen, sich zu räuspern und zu husten und zu spucken, denn der Kalkstaub war auch ihr in die Kehle gekommen.
»Herr Volcker,« fragte sie, noch mit stark belegter Stimme, »sind Sie tot?«
Er hustete zuerst gleichfalls und antwortete sodann: »Ich glaube, Komtesse. Wahrscheinlich sind Sie auch tot und wissen es nur nicht. Wir wollen ruhig liegen bleiben …«
Da begann es leise und gemächlich zu regnen und fiel klatschklatsch auf die Gesichter der beiden.
»Es regnet,« sagte Gerda. »Das ist eine schöne Geschichte. Und die Ponies sind durchgegangen. Herr Volcker, so lassen Sie mich doch los! Ihre posthume Ritterlichkeit nützt mir nicht mehr viel. Wir leben, Seigneur!«
»Leben wir wirklich? Schade! Es war so schön, Komtesse, ich bleibe liegen. Eine höhere Macht warf mich zu Ihren Füßen nieder. Ja, stehen Sie auf – ich will vor Ihnen knieen! Die Steine sind spitz, und es regnet, aber was schadet das?! Ich bleibe so liegen, bis Sie mich gehört haben. Das Schicksal will es …«
Nun wußte Gerda, was kommen würde. Sie war darauf vorbereitet. Sie hatte es längst erwartet und war auch längst mit sich selbst im reinen. Aber der Augenblick schien ihr schlecht gewählt. Sie stand vor ihm, das ganze Kleid mit Kalkstaub bepudert, das hübsche Gesicht beschmutzt und das Haar zerzaust. Und der Herr Volcker sah auch nicht besser aus, nur leuchteten seine Augen, und da er ihre Hand festhielt, so teilte sich ihr das raschere Schlagen seiner Pulse mit.
Sie war etwas blasser geworden. Sie hätte kein Mädchen sein müssen, mit reiner Seele und voll keuschem Empfinden, wäre sie Herrin der zaghaften Scheu geworden, die sie überschlich.
»Komtesse Gerda,« sagte Hans mit bewegter Stimme; »es ist verrückt, ein Liebesgeständnis in dieser Situation. Wenigstens würde die Welt es so nennen. Doch man muß der Welt trotzen können. Ich bin gewiß, auch Sie werden es müssen, wenn Sie mich erhören wollen. Aber die Liebe reißt selbst chinesische Mauern ein. Und ich habe Sie sehr, sehr lieb. Wollen Sie mein Weib werden, Gerda? …«
Der Augenblick war dennoch nicht schlecht gewählt. Sie empfand plötzlich anders als vorhin. Daß er so ohne Pose, mitten im Regen, mitten zwischen Schutt und Steinen, ein Mensch ohne Aufputz und nicht einmal unter dem glättenden Einfluß der Schnurrbartbinde, um ihre Hand anhielt – das gefiel ihr auf einmal. Er war ihrem Wesen näher gerückt. Es durchströmte sie warm; ein heißer Quell sprudelte in ihrem Herzen aus und rann durch ihre Adern und Nerven und zuckte in ihr, bis hinein in die Fingerspitzen.
Sie entzog ihm ihre Hand, legte beide Arme um seinen Hals und schaute ihm mit tiefen glücklichen Augen voll in das Gesicht.
»Hans – sag das noch einmal – es sind so süße Worte … Nein – laß es mich wiederholen: ich habe dich sehr, sehr lieb und ich will dein Weib werden …«
Nun sprang er auf und riß sie stürmisch an seine Brust. Es war ein tolles Jauchzen in ihm. Er hatte seine Jugend froh und lustig verlebt, war kein Heiliger gewesen und kein Puritaner. Aber unter allen Freuden, die sich dem lebenslustigen Menschen geboten und die er skrupellos genossen hatte, war keine gewesen, bei der er auch Weihe empfunden hätte wie jetzt …
Und es regnete fort und fort, strömte naß hernieder auf ihre junge Liebe, naß auf die bloßen Köpfe und rieselte über ihre bestaubte Kleidung. Es rauschte gemächlich im Birkenwalde, und zwischen den Trümmern des bedeutungsvollen Kochherdes bildete sich ein blankes Wassernetz; Gräser und Büsche tropften …
»Regnet es?« sagte Hans plötzlich und schaute auf. »Herrgott – es regnet ja wirklich!«
Gerda lachte. »Ich spür' es schon seit einiger Zeit. Mein Hut fehlt – der deine auch.«
»Sie liegen unter Trümmern begraben. Ich suche sie …« Und er suchte und fand auch die Hüte, aber sie waren schandbar geworden … »Gerda, wir müssen tauschen. Du setzest meinen Hut auf; der hält immerhin noch ein wenig den Regen ab, während dein Strohhut durchlöchert worden ist. Drei Löcher hat er, zwei große und ein kleines.«
»O, wie sehen wir aus, Hans Volcker!« rief sie. »Wo ist deine Bügelfalte geblieben und der schöne Sitz deiner Krawatte? Was fangen wir an? Zwei Stunden zu Fuß! Mir macht's nichts, aber für einen Gentleman in Lackstiefeln ist das ein Trauermarsch.«
»Lackschuh, fahr hin! Ich habe andre im Koffer. Ich kann auch dem Wetter trotzen. Doch du thust mir leid. Ich würde dich tragen –«
»Wenn du es könntest! – Tragen! Hans, mein Junge, man trägt mich nicht so leicht. Ich bin nicht Meißener Porzellan, sondern erdgeboren. Sorge dich nicht um mich. Ich stapfe schon vorwärts, durch dick und dünn. Fürchte nur, der Papa wird verwunderte Augen machen, wenn er uns so verstrolcht und doch so glücklich heimkommen sieht.«
Hans knipste mit den Fingern.
»Siehst du, der Papa!« sagte er. »An den haben wir auch noch zu denken. Ich fange an, wieder mutlos zu werden. Was wird uns die Zukunft bringen?«
»Einen Schnupfen,« antwortete sie. »Den ganz gewiß. Und von Papa Segen und Jawort. Ich kenne meinen alten Herrn. Wir haben uns gegenseitig erzogen. Hans, mein Hut steht dir wahnsinnig. Knüpfe die Bänder unter dem Kinn zusammen. Die roten Mohnblumen färben ab, oder ist das Blut, das dir über die Backen träuft? Nein, die Blumen färben ab – Hans, du siehst toll aus! Ich auch wahrscheinlich. Wenn wir über die Felder gehen, fliehen die Krähen davon.«
»Das werden sie. Um so besser. Wir wandeln einsam mit unsrer Liebe, wie im deutschen Liede. Nur der Mondenschein fehlt. Aber der Regen ist wenigstens warm, und unsre Herzen sind's auch. Mut und vorwärts!«
Sie gingen Arm in Arm durch den triefenden Wald zurück und nahmen die Sonne mit sich …