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Pawel saß an seinem Schreibtische und arbeitete. Dieser Schreibtisch war sehr primitiver Art. Er bestand aus zwei Böcken, über die eine große Platte aus Kiefernholz gelegt war. Eine Menge aufgeschlagener Bücher lag verstreut über der Platte; die Mitte nahm ein großes Tintenfaß ein, und vor diesem stand eine Reihe Zinnsoldaten. Wahrhaftig – Zinnsoldaten, und zwar in regelmäßigem Aufmarsch, und jede der kleinen Figuren trug ein Zettelchen um den Hals, auf dem verschiedene Namen standen. Auch in dem Pappkasten unter dem Tintenfaß lagen zahlreiche Zinnfiguren in ziemlich wildem Durcheinander; auf diesen weißqrauen pappenen Kasten aber hatte die Hand Pawels geschrieben: »Erbbegräbnis« und darunter: » R. i. p.«
Das Zimmer war klein, doch nicht unbehaglich. Freilich sah man wenig. Ungeheure Rauchwolken wogten durch die Luft. Die Lampe auf dem Schreibtische schimmerte wie eine gelbe Laterne im Nebel. Pawel rauchte von früh bis spät, wenn er daheim war. In einer Ecke des Zimmers standen seine Pfeifen in einer Etagere aus Birkenholz. Olga mußte sie sauber erhalten; das war ihre Arbeit. Sie hatte sich längst an den Qualm gewöhnt; sie merkte ihn kaum noch. Sie saß nebenan in ihrem eigenen Stübchen und schrieb gleichfalls beim Scheine einer kleinen, rosa verhängten Lampe. Die Thür zwischen beiden Zimmern stand weit offen …
Die Feder Pawels glitt hastig über das Papier. Es ging rasch; es war keine Arbeit, die Denken erforderte. Nur die Phantasie mußte rege erhalten werden. Dafür sorgte die nimmer ruhende Pfeife. Ohne Rauchwolken ringsum war Pawel kein Fabulieren möglich. Und das Fabulieren war alles, war klingendes Gold. Hemmschuh war jedwede Psychologie, jedes Denken Ballast. Aus den Rauchwolken wuchs die Phantasie gigantisch hervor und führte den Schreibenden auf Geisterschwingen in rasender Hast von Ort zu Ort: in Wüsteneinsamkeit, in das Treiben der Großstädte, in die Felsengebirge und hinaus auf das Meer. Scenerie und Staffage wechselten wie die Bilder im Guckkasten. Pawel hatte es immer eilig, wenn er am Schreibtische saß. Bald mußte er in London sein, um in Whitechapel einem flüchtigen Verbrecher nachzujagen, bald in den Tuilerien; war er einmal in einem Tiroler Dörfchen zu kurzer Ruhe gekommen, so störten ihn die Beduinen wieder auf, die eine Farm an der Grenze Algeriens überfallen wollten; nicht einmal im buschumhegten Kaffernkraal fand er Rast, denn Albion mußte seine Siege haben, und auch in den Dschungeln Indiens hatte er zu thun …
Freude schien dem Arbeitenden diese Hetzjagd der Phantasie nicht zu bereiten. Sein Gesicht war mürrisch und blieb es, ob er sich im dichtesten Kampfgewühl befand oder aus einem Liebesabenteuer unter dem Himmel Griechenlands oder in einem Salon im Faubourg Saint-Germain. Wenn er einen der numerierten Bogen, die vor ihm lagen, vollgeschrieben hatte, stöhnte er jedesmal leicht auf, ehe er ihn zur Seite legte. Und auch während der Arbeit hörte dieses Stöhnen nicht auf; mitunter begleitete er sogar seine Schreiberei durch gelegentliche ärgerliche Ausrufe, die jeden, der nicht recht wüßte, um was es sich handelte, hätten ängstlich machen können – so beispielsweise, wenn er sagte: »Pfui, wie gemein – wieder zum Mörder geworden!« oder »Um diesen Schurkenstreich beneid' ich mich selbst« – oder wenn er, leise erwägend, vor sich hinmurmelte: »Wie breche ich denn da am geschicktesten ein? …«
Pawel schrieb unermüdlich weiter, immer gleich mürrisch, immer das Mundstück seiner langen Pfeife zwischen den Zähnen, graue Wolken über den Tisch blasend. Plötzlich hörte er mitten im Satze auf, spritzte die Feder aus, nahm einen der Zinnsoldaten, der auf dem Zettelchen den Ramen »Prätorius« trug und warf ihn in die Pappschachtel. Dann lehnte er sich befriedigt in seinen Korbstuhl zurück, schlug die Schöße seines Schlafrockes über den Beinen zusammen und rief in das Nebenzimmer: »Du, Olinka – der Prätorius ist glücklich tot!«
»Na, siehst du!« klang es aus der Nebenstube zurück.
»Das sagt gar nichts, Olinka. Du sollst dir den Trauerfall notieren. Den Kaffernhäuptling Mputu hast du neulich wieder lebendig werden lassen, obwohl ich ihm den Speer so durch den Leib gerannt habe, daß er auf der Stelle seine schwarze Seele ausgehaucht hat.«
»Aber Axel, mein Schatz, das war doch deine Schuld, denn du hattest mir nichts von der Sache erzählt! Uebrigens hat es ja gar nichts geschadet. Eine Riesennatur wie Mputu kommt nicht so leicht um. Vor der hundertunddreißigsten Lieferung durfte er auch gar nicht sterben.«
»Wo bist du denn jetzt, Ollichen?«
»Im Verbrecherkeller in London. Sag einmal, hast du das Lexikon der Gaunersprache da? Sei so gut und gib es mir her. Ich bin sonst ganz firm in den Ausdrücken, möchte aber keinen Fehler machen und nachsehen, ob ich ›Kaschemme‹ richtig angewendet habe. Dabei bin ich mir noch nicht so recht sicher.«
»Ollichen, das ist ja auch schnuppe! Du gibst dir viel zu viel Mühe. Für das Gesindel, das sich an unsern Romanen erfreut, ist jede Mühewaltung verschwendet. Das muß man gedankenlos herunterschmieren. Es gibt Kollegen in Apoll – o welche Blasphemie! – die schreiben einfach seitenlang aus alten Scharteken ab. Man schämt sich nur. Kann man sich denn noch schämen? …«
Er war aufgestanden, hatte das gewünschte Buch gesucht und brachte es seiner Schwester in das Nebenzimmer.
»Danke!« antwortete Olga. »Leg es hin, Axel. Du darfst nicht immer so verzweifelt thun. Es ging bisher doch nicht anders. Bei deinen Theaterstücken hätten wir verhungern können. Deine ›Heimatlosen‹ sind von dreißig Redaktionen zurückgekommen. Man muß sich durchschlagen, wenn's auch manchmal schwer hält. Du faßt alles so wuchtig auf, so tragisch. Ich betrachte diese Zeit nur als Episode. Und ich stöhne auch nicht bei der Arbeit. Manchmal macht sie mir sogar Spaß …«
Sie schrieb, während sie sprach, ruhig weiter, den blonden Kopf mit dem zausigen Strudel über der Stirn über das Papier geneigt.
Pawel schaute ihr eine Zeitlang zu. Dies Schwesterchen war bewundernswert. Freundin, Mitarbeiterin, Helferin, Hausfrau – das war sie ihm alles zugleich. Pawel war Philologe, hatte es aber über die Anfangsstadien seines Berufs nicht hinausgebracht. Er war eine weiche, ungemein empfindliche Natur, die sich an allen Ecken und Kanten des Lebens Wunden holte. Der Aerger über einen dummen Jungen und dessen thörichten Vater hatte ihn veranlaßt, eine leidlich gute einträgliche Stellung als Hauslehrer aufzugeben. Er wollte Schriftsteller werden, aber der Lorbeer blühte zu hoch und seine blaue Blume trieb viele Dornen. Er rang wie ein Verzweifelter und hungerte dabei. Schließlich fand er bei Franz Düren ein Unterkommen, der damals soeben seine neue Volksbibliothek ins Leben gerufen hatte. Auch Pawel begeisterte sich für die Idee, den niedern Ständen für das gleiche Geld, das sie in ihrem Lesehunger für die Schundliteratur der Hintertreppen zu verschleudern pflegen, bessere und gesündere Geisteskost zu bieten. Doch der Erfolg blieb aus und Pawel sah sich in Bälde wiederum dem Nichts gegenüber. In diesen Tagen härtester Sorge zeigte Olga die ganze stählerne Festigkeit ihres Wesens. Als Buchhalterin in einem Papiergeschäft hatte sie sich ein paar hundert Mark ersparen können. Dies kleine Kapital opferte sie, um die Uebersiedlung nach Berlin bewerkstelligen zu können. Sie war der Ansicht, daß Axel durchaus eines »Luftwechsels«, in geistiger und körperlicher Beziehung, daß er auch lebhafterer Anregungen bedurfte, als Köln sie ihm bieten konnte. Und dann die vielerlei litterarischen Verbindungen, die ihm die Hauptstadt erschloß! Er hatte zwei Dramen und einen Roman in seinem Pulte liegen; vielleicht fand sich Gelegenheit, die eine oder andre Arbeit durch persönliche Vermittlung unterzubringen. Olga hoffte viel von Berlin. Ihr Bruder war in ihren Augen eine genial veranlagte Natur, aber ein unpraktischer Mensch. Er mußte sich durchringen. Doch es war in Berlin wie in Köln: er kam über den Dornenweg der Anfängerschaft nicht fort. Ein Zufall brachte ihn mit Werner & Co. in Verbindung, für die er eine Reihe von Prospekten anfertigen sollte. Pofahl gefiel die Schreibweise des jungen Mannes; er schlug Pawel vor, ein paar Volksromane für die Firma zu verfassen. Das war gerade an dem Tage, an dem der letzte Hundertmarkschein Olgas eingewechselt worden war. Axel hatte eine stürmische Aussprache mit seiner Schwester. Er schrie und stöhnte und ächzte. Es sei entwürdigend, schmachvoll, erniedrigend; Pegasus im Joche – Apoll in Ketten! Sklavendienst und Seelenmord, gegen den seine Feder sich sträuben würde! …
Olga ließ ihn austoben. Er habe recht. Die Arbeit sei schwer und nicht würdig seiner Begabung. Aber sie bringe ihn wenigstens über die Sorgen des Augenblicks fort. Sie bat, das Anerbieten nicht von der Hand zu weisen. Sie wolle ihm Mitarbeiterin sein, wolle im Haushalt nach Möglichkeit sparsam wirtschaften, um einen Notgroschen zurücklegen zu können; sie rechnete ihm mit ihrer frischen, klaren und eindringlich klingenden Stimme vor, daß man in einem Jahre soviel verdienen könne, um dem nächsten mit Ruhe entgegen zu sehen; inzwischen fand sich vielleicht ein Theaterleiter, der es mit einem der Dramen Axels versuchte, oder ein Verleger für den Roman »Die Heimatlosen«. Herrgott, dieses Anerbieten von Werner & Co. war doch wenigstens eine Hoffnung, aus der Not herauszukommen! Man konnte leben, ohne einen täglich wiederkehrenden, immerwährenden Kampf fürchten zu müssen … Während Olga sprach und Axel zu überzeugen versuchte, traten ihr unwillkürlich die Thränen in die Augen. Sie beweinte den Genius ihres Bruders, an den sie glaubte und den sie knechten helfen mußte, um sich gegen Armut und Hunger zu wehren. Aber gerade diese Thränen in ihren sanften blauen Augen besiegten Axel. Er küßte Olga und strich ihr das Haar aus der Stirn. Also gut – hinein in die Sklaverei! Er stürmte zu Werner & Co. und unterzeichnete die Verträge, in denen er seine Seele verkaufte. Und dann ging es an die Arbeit – an eine ganz tolle und wahnsinnige Arbeit. Zwei Romane sollten gleichzeitig geschrieben werden, jeder hundertundzwanzig Druckbogen stark, voll verrücktester Erfindung, mit einem Dutzend nebeneinander herlaufender Fabeln, die in allen Weltgegenden und in allen Schichten der Gesellschaft spielten: im Grunde genommen nicht zwei Romane, sondern vierundzwanzig. Axel saß von früh bis spät bei seiner Pfeife, von Rauchwolken umhüllt, und schrieb, und nebenan saß Olga und regte nicht minder fleißig die Hände. Der Bogen brachte zwanzig Mark – aber wie lange währte es, bis man einen solchen enggedruckten Großoktavbogen vollendet hatte! …
Pawel hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und schaute noch immer der Schwester zu. Die Lampe warf einen rosigen Schein über ihr blondes Stirnhaar und das niedliche, vom Eifer lebhaft gefärbte Gesicht. Ihre Hand huschte eilfertig über das Papier. Sie schrieb erstaunlich flink.
»Wie das bei dir geht!« sagte Axel.
»Nicht wahr? Fix – ich bin gleich wieder mit einem Kapitel zu Ende. Ein neuer großer Einbruch bei Lord Caxton wird geplant, und dabei findet man ein wichtiges Dokument – ich weiß bloß noch nicht, welches. Das muß ich erst beschlafen. O ja, es geht fix. Weißt du, jetzt bin ich so eingearbeitet, daß ich wie eine Maschine funktioniere. Ich ziehe mich auf, und dann geht es los.«
»Schade um dich, Olinka! Du hast das Zeug, Besseres zu leisten. Du würdest eine ganz nette Geschichte schreiben können. Du solltest es einmal versuchen.«
»Das fehlte noch, Axel! Damit sie wie deine ›Heimatlosen‹ herumwandert, um schließlich doch wieder hierher zurückzukehren. Nein, mein Schatz. Die Parole heißt: Geld verdienen. Später – na ja, vielleicht kann ich mir später einmal das Vergnügen leisten, etwas für mich ganz allein zu schreiben. Vorderhand müssen wir dich frei zu machen suchen. Du mußt erst wieder nach eignem Geschmack arbeiten können.«
Er seufzte. »Ach, liebes Ollichen, ich fürchte, ich habe den Geschmack verloren. Ich werde gar nichts Vernünftiges mehr schaffen können. In meinem Hirn wirbelt der ganze Blödsinn chaotisch durcheinander, den ich im letzten Jahre verzapfen mußte. Diese Fronarbeit hat mich müde gemacht.«
»Du wirst wieder frisch werden, mein Herz. Vielleicht langt's, daß wir im Sommer ein paar Wochen aufs Land können. Da wirst du dich erholen. Und dann gehst du an die Ausführung deines Planes – weißt du, an den Lustspielstoff, von dem du mir öfters erzählt hast. Ein Lustspiel ist leichter unterzubringen als ein Drama. Man lacht auch lieber als daß man weint. Und während du dein Stück bearbeitest, schreibe ich allein an den Romanen für Werner weiter. Das macht mir nix. Es geht mir rasch von der Hand. Und ich sagte dir ja schon: es amüsiert mich auch. Die lyrischen Kapitel gelingen mir allerdings immer besser als das Grausliche.«
»Das ist richtig, Olli. Die Liebesscenen zwischen dem Grafen Ortobello und seiner kleinen Nähmamsell sind sogar reizend – viel zu schön für die Banausen von Lesern. Wo hast du das nur her? Hast selber kaum in die Welt geguckt und beschreibst Herzensleiden und -freuden, als ob du der Liebe Süße und Herbigkeit bereits bis auf den Grund ausgekostet hättest. Alles Phantasie, Olinka?«
Sie beugte sich noch tiefer über das Papier, denn es flutete siedendheiß über ihr Gesicht. Doch nickte sie und entgegnete, während ihr Herz gewaltig hämmerte: »Alles Phantasie, Axel. Du hast ja doch auch noch keinen Einbruch verübt und bist noch nicht zwischen die Krokodile in Indien geraten und hast noch nie einen Zulukaffern gesehen und auch noch nie einen Elefanten erlegt, und beschreibst das trotzdem mit den schönsten Worten.«
Axel lachte, paffte ein paar Züge in die Luft und wurde dann wieder trübe.
»Das ist ja mein Elend, Ollichen, daß ich so etwas schreiben muß,« meinte er. »Ein Schriftsteller soll nur das schildern, was er kennt und erlebt hat.«
»Axelchen, das ist gewiß eine große Weisheit, aber wenn sich die Dichter aller Zeiten an sie gehalten hätten, dann hätte Goethe keinen Götz und Schiller keinen Wallenstein und Freytag keinen Ingo und Ingraban schreiben können. Uebrigens will ich nicht mit dir darüber streiten, weil die Essenszeit nah ist und jede Polemik dir den Appetit verdirbt. Sei so gut und mache in deiner Stube die Fenster ein bißchen auf, damit wir den kondensierten Geist herauslassen können. Und dann sage mir: Thee oder Bier? Es ist beides da.«
Axel entschied sich für Thee. Olga legte ihre Papiere zusammen und begann den Tisch für das Abendbrot zu decken. Das ging gerade so flink wie die Schreiberei. Sie huschte hin und her, sprang in die Küche, kehrte mit Tellern und Schüsseln zurück, schnitt das Brot und zündete die Spiritusflamme unter dem Wasserkessel an. Währenddessen legte Axel nebenan den Schlafrock ab und machte bessere Toilette. Bei den Mahlzeiten liebte er eine gewisse Korrektheit des Aeußern, so gern er sich sonst gehen ließ.
Der Tisch war nicht ärmlich. Wurst, Schinken, Eier – auch eine Büchse Sardinen hatte Olga besorgt. Bei aller Sparsamkeit durfte Axel nicht darben. Die Oelfische pries sie besonders, denn Fischnahrung kräftigte das Gehirn, und Oel sei den Nerven von Vorteil. Sie legte dem Bruder vor und schenkte ihm Thee ein. Das war immer die behaglichste Stunde des Tages. Der Tabaksrauch hatte sich etwas verflüchtigt und wogte nur noch in dünnen, durchsichtigen Guirlanden längs der Stubendecke hin. Die rosa beschirmte Lampe stand mitten auf dem Tisch. Ihr Lichtkreis war klein; das ganze übrige Zimmer lag im Dunkeln.
»Olli – was ich dich schon längst einmal fragen wollte,« sagte Axel, »nein, keine Sardine mehr – danke – wie geht es denn deiner Freundin Marie? Hieß sie nicht Marie? Mich deucht, du bist lange nicht bei ihr gewesen. Hast du dich mit ihr gezankt? …«
Olga hatte, als sie nach Berlin gekommen, für kurze Zeit Beschäftigung als Schreiberin bei einem Rechtsanwalt gefunden. Eines Abends war sie länger als gewöhnlich ausgeblieben, so daß Axel in Sorgen gewesen war. Aber sie kehrte fröhlich und guter Dinge zurück. Die zweite Schreiberin im Bureau des Rechtsanwalts, jene Marie, hatte sie mit in ein Theater genommen. Der Bruder Maries, so erzählte Olga ihrem Bruder, war Theaterkassierer; von ihm erhielt sie dann und wann Freibillets. Axel war in der Folge zu öftern einmal des Abends allein zu Hause. Aber er sorgte sich nicht mehr um die Schwester. Er hatte sie anfänglich aus dem Theater abholen wollen, doch da hatte sie ihn ausgelacht: sie stände fest auf ihren Füßen und hätte auch zwei derbe kleine Fäuste und eine sehr schlagfertige Zunge. Sie fürchte die Nachtfalter nicht. Und das glaubte er schon: sie verstand es, sich ihrer Haut zu wehren; sie war ein wackeres und tapferes Frauenzimmerchen …
Bei der Frage Axels, warum sie so lange nicht mit ihrer Freundin zusammengewesen sei, schien Olga zu erschrecken. Sie wechselte leicht die Farbe; das gehörte zu ihrer Eigentümlichkeit, und es sah sehr hübsch aus, wenn plötzlich eine volle Welle Blut in ihre Wangen schoß und mählich das ganze Gesichtchen färbte bis zu den Schläfen, wo unter der zarten Haut deutlich das bläuliche Geäder sichtbar wurde.
»Na ja,« sagte Axel lachend, »ich merke schon, ihr habt euch gezankt!«
»Das kommt unter den besten Freundinnen vor,« entgegnete Olga. »Es war übrigens nicht von Wichtigkeit. Daß ich mit Marie nicht mehr das Theater besuche, hat andre Gründe. Marie hat eine Stellung in Leipzig angenommen – sie ist gar nicht mehr in Berlin. Es ist mir ganz recht; es war ein schlechtes Vertragen mit ihr … Hat Düren nichts mehr von sich hören lassen?«
Sie hatte diese Frage so hastig angefügt, als wolle sie sich beeilen, der Unterhaltung eine andre Wendung zu geben.
Axel setzte die Theetasse nieder und zuckte mit den Schultern.
»Seit er das letzte Mal hier war, hab' ich ihn nicht wieder gesehen, Olli. Daß ich Besuch bei ihm gemacht und ihn nicht zu Hause getroffen habe, erzählte ich dir schon. Ich denke mir, er wird mit seiner neuen Zeitung alle Hände voll zu thun haben. Meinst du, daß er Wort halten und mir eine Anstellung schaffen wird?«
»Es ist schwer, darauf Ja oder Nein zu sagen. Er scheint dich gern zu haben –«
»Oder dich, Ollichen!«
»Mich? – Ach du lieber Gott! … Aber um deinetwillen hätte ich nichts dawider. Vielleicht hält er wirklich Wort. Die Frage ist nur die, ob du dich bei dem ›Volksboten‹ wohl fühlen würdest. Werner und Pofahl haben dabei mitzureden – du kannst dir also denken, was es für ein Blatt werden wird.«
»Ist mir gleichgültig, Ollichen. Ich nehme jede feste, mit leidlichem Gehalt verbundene Stellung an. Ich muß einmal aus der Gedankenhetze herauskommen – was red' ich von Gedanken! – ich meine, die Phantasie muß einmal ausspannen. Freilich – jede andre Zeitung wie gerade die Wernersche wär' mir schon lieber. Aber wo ankommen?! Beim Volckerschen Morgenblatt wird längst alles besetzt sein. Und ich habe keine Konnexionen. Die Leute würden einen Neuling auch gar nicht nehmen.«
In der Entree schlug die Klingel an.
»Der Junge aus der Druckerei, der das Manuskript abholt,« sagte Olga, sich erhebend. »Ich mache auf, Axel, laß dich nicht stören! Richtig – eh' ichs vergesse: ich habe deinen Tabakskasten neu gefüllt. Eine etwas bessere Sorte als sonst. Olympier-Kanaster – du wirst wie Zeus in den Wolken thronen, wenn du ihn rauchst …«
»O du gutes Schwesterchen!« rief Axel der Davonspringenden nach. Der Gedanke an die bessere Tabakssorte brachte seinen Appetit zum Schweigen. Er griff wieder zur Pfeife, prüfte Rohr und Ausguß und begann sie zu stopfen. Der Tabak schien wirklich prächtig zu sein; er sah blond aus wie das Haar einer englischen Schönheit und duftete angenehm. »Was wär' ich ohne die Olinka!« murmelte Axel und setzte die Pfeife in Brand.
In der Entree wurde eine Männerstimme laut.
»Ja – er ist zu Hause,« sagte Olga. »Wo sollte er sonst sein. Er ist immer daheim. Aber wir haben Feierabend gemacht. Eben sprachen wir noch von Ihnen, Herr Düren. Und Rosen!? O wie schön! …«
Düren trat ein und begrüßte Axel herzlich. Er habe längst vorsprechen wollen, aber die Einrichtung seiner Zeitung nehme alle seine Zeit in Anspruch. Nun komme er aber auch gleich mit einer entscheidenden Frage: ob Pawel die Redaktion des feuilletonistischen Teils am »Volksboten« übernehmen wolle? –
Olga schlug das Herz stärker vor Freude. Aber sie hielt es für schicklich, dieser Freude nicht Ausdruck zu geben. Sie umwarb Düren mit Liebenswürdigkeiten. Es stellte sich heraus, daß er noch nicht zu Abend gespeist hatte, und nun deckte sie für ihn und setzte von neuem den Spiritus in der Theemaschine in Brand und legte ihm vor – alles mit der Bethulichkeit einer geschäftigen kleinen Hausfrau, die ihren Gast ganz besonders ehren möchte.
Währenddessen erzählte Düren von seiner Zeitung. Die Zukunft des »Volksboten« war gesichert; Ende September sollte die Welt mit der Probenummer überschwemmt werden. Nach Ablauf des ersten Quartals hoffte man auf dreißigtausend Abonnenten; dann begann das Geschäft. Der erste Jahresabschluß mußte bereits mit dem hunderttausendsten Abonnenten rechnen. Düren warf mit Zahlen um sich wie ein Jongleur mit seinen Kugeln. Er hatte ein Blatt Papier aus seinem Notizbuche gerissen, es neben seinen Teller gelegt und bedeckte es, während er speiste, mit Ziffernreihen. Er wollte Freund Pawel vorrechnen, was an der Sache zu verdienen sei, wenn sie richtig angefaßt werde. Der Verdienst war natürlich ungeheuerlich. Mit Tausenden hielt sich Düren nicht lange auf. Er rechnete wie Jules Verne; die Basis war vernünftig und greifbar, aber schon auf dem Fundament erhoben sich die Luftschlösser und wuchsen und wuchsen – bis in die Wolken hinein. Der »Volksbote« war so beschaffen, daß die Abonnenten einfach kommen mußten und die Inserenten auch. Dieses Muß war der Angelpunkt der Berechnung. In drei Jahren hatte der »Volksbote« die ganze sonstige kleine Presse verschluckt, so wie die großen Warenhäuser die Detailgeschäfte aufzehren. Da war er zu einer Macht geworden, die sich nicht mehr erschüttern ließ. Den jährlichen Reingewinn um diese Zeit schätzte Düren auf rund eine halbe Million. Es war ganz klar – das mußte herauskommen; Franz griff wieder zum Bleistift und bedeckte das Papier mit Ziffern: Abonnements, Annoncen und Reklamen, das waren die Gewinner; Papier, Satz, Druck, Redaktion und die sehr verwickelte, ganz Deutschland überspannende Verwaltung standen dagegen; blieb so und so viel. Eine halbe Million war noch schlecht gerechnet.
»Aber sie geht in drei Teile,« bemerkte Olga, die, phantasiereicher veranlagt als ihr Bruder, mit flammendem Interesse den Darlegungen Dürens gefolgt war.
»Das ist noch zweifelhaft,« entgegnete Düren und legte den Bleistift hin. »Ich hoffe, schon im zweiten Jahr Werner und Pofahl auszahlen zu können … Kinder, wir sind unter uns! … Werner und Pofahl wollten mich schon beim Notar über das Ohr hauen. Aber ich zeigte mich ihnen gewachsen. Ich erklärte ihnen einfach: geht ihr nicht auf meine Bedingungen ein, so beschaffe ich mir das nötige Geld anderweitig. Ich hätt' es bekommen …« Er lachte fröhlich auf … »Es ist merkwürdig, wie lustig der Zufall spielt! Denken Sie, Fräulein Olga, daß man mir sogar schon ein paar tausend Thaler geboten hat, falls ich mich dazu verstehen sollte, das Unternehmen gänzlich aufzugeben!«
»Was?!« rief Pawel erstaunt. »Ach so, ich verstehe – die Volckers fürchten die Konkurrenz für ihr ›Morgenblatt‹ –«
»Nein – Gott bewahre, Pawel! Die Volckers thronen auf eisiger Höhe – und wenn sie mich wirklich fürchteten, würden sie es doch nicht sagen. Davon ist keine Rede. Aber ich habe hier eine schwer reiche Cousine, schwer reich und mordshäßlich, die ist mit einem Grafen Vließen verehelicht: Weltreisender, Abenteurer, Gentleman – derzeit ein großer Politiker vor dem Herrn. Auch mit den Leuten des ›Morgenblatts‹ verschwägert, verschwistert und befreundet: der junge Volcker heiratet eine Verwandte Vließens, eine Komtesse Dassel –«
» Wie heißt seine Braut?« fiel Olga fragend ein. »Dassel –?«
»Ja – Dassel … Kennen Sie die Familie?«
»Nein – ich kenne sie nicht …« Olga war an den Seitentisch getreten und klapperte mit den Theetassen … »Woher auch? – Mir fiel nur der Name auf. Ich glaube – glaube, ich habe ihn neulich in einem Roman verwandt; ich wußte gar nicht, daß er wirklich existiert … Aber erzählen Sie weiter, Herr Düren. Daß Sie eine gräfliche Cousine besitzen –«
»Erhöht meinen Wert in Ihren Augen. Fräulein Olga, das ist nicht hübsch. Das ist wirklich nicht hübsch. Ich hätte mir von dem eignen Werte mehr versprochen. Uebrigens will die Cousine Komtesse auch nichts von mir wissen, gar nichts, seit das alte Buchdruckersignet der Dürens sich bei ihr in ein Wappen mit neun Perlen verwandelt hat. Daß ich hier in Berlin eine Zeitung für das Volk ins Leben rufen will, ist ihr höchst unangenehm. Und da hat mir Graf Vließen denn vorgeschlagen, ich möchte fünftausend Thaler nehmen, Berlin aufgeben und mich wieder in die Provinz zurückziehen.«
»Sehr gut!« rief Axel. »Wie diese Feudalen mit unsereinem umspringen! Und was antworteten Sie?«
»Ich antwortete, daß ich mich vielleicht entschließen würde, meine Idee zu verkaufen. Aber nicht für fünftausend Thaler. Bei fünfundzwanzigtausend würde ich allenfalls mit mir handeln lassen … Da drehte mir der Herr Graf denn den Rücken und ließ mich stehen. Ich nehm's ihm nicht übel. Ich würde es wahrscheinlich ebenso gemacht haben. Aber lustig ist's doch. Ich hatte ein paar hundert Mark in der Tasche, als ich herkam – und nun fliegen mir schon die Gelder zu. Ich nehme es als einen Beweis dafür, daß mein Stern wieder im Steigen ist …«
Er bat noch um eine Tasse Thee. Kaffee und Thee trinke er in Unmassen, erzählte er, das Bier verabscheue er. Es widerstrebe seiner quirligen Natur. Temperamentvolle Leute müßten eo ipso das Bier hassen; etwas andres sei es mit dem Champagner.
»Ah ja,« sagte er, »ein Glas Champagner lass' ich mir schon gefallen! Das ist auch zugleich ein ästhetischer Genuß. Dies Schäumen und Perlen und Brausen, das unaufhörliche Auf und Nieder in dem goldgelben Wein ist ein hübsches Farbenspiel und so erfreuend für das Auge! Menschen mit Nerven haben Champagnerseelen; pfui über die bierduseligen Tröpfe! Kinder, zieht euch an – wir wollen in die nächste Weinstube gehen und ein Glas Sekt auf die Erneuerung unsrer alten Bekanntschaft trinken und auf ein gutes Zusammenleben im ›Volksboten‹. Oder nein – auf eurer Bude ist's gemütlicher als im Restaurant. Ich hole zwei Flaschen Schaum – Fräulein Olga, Sie müssen für Eis sorgen! Abgemacht!«
»Halt!« rief Pawel lachend. »Einen Augenblick, lieber Düren – Himmel, was sind Sie für ein Mensch! Kein Mensch, eine Spirale! Vorläufig haben Sie mich ja noch gar nicht. Vorläufig haben Sie nur gesagt, daß Sie mich wollten –«
»Oho und aha, ich hab' Sie schon in der Tasche! Nur Ihre Unterschrift fehlt mir noch. Da ist der Kontrakt. Redaktionsdienst von Drei bis Sieben. Gehalt anfänglich dreitausend Mark. Steigt aber von Jahr zu Jahr. Und Fräulein Olga möchte ich auch gleich binden. Fräulein Olga, wir brauchen eine erste Korrektorin. Das ist insofern keine allzu leichte Thätigkeit, als Sie häufig bis um Mitternacht auf dem Posten sein müßten. Aber dafür können Sie ausschlafen, denn Ihre Arbeit würde erst am Spätnachmittage beginnen. Anfangsgehalt zweitausend Mark. Ich weiß freilich nicht, ob –«
Olgas heller Jubel unterbrach ihn. Sie hatte Dürens Hände ergriffen; ihre Augen waren feucht geworden.
»Was wissen Sie nicht?« fragte sie. »Ob mir die Thätigkeit zusagt? – O, lieber Freund, ich schäme mich keiner Arbeit, von der ich hoffen kann, daß sie Axel geistig wieder frei machen hilft. Mit mehr als vierhundert Mark fester monatlicher Einnahme können wir wie die Fürsten leben und noch an Ersparnisse denken. Und wieviel freie Zeit bleibt uns außerdem noch! Axel kann seine Soldschreiberei an den Nagel hängen, und ich – ich – weiß nicht, ob ich nicht im Nebenamt dabei bleiben werde. Mir ist es ein leichteres Verdienen als ihm, neben dem immer das litterarische Gewissen zu Tisch sitzt – und zu Besserm bin ich doch nichts nütze …«
Axel widersprach, pries die Begabung seiner Schwester und erschöpfte sich dann gleichfalls in Danksagungen an Düren, der wieder Platz genommen hatte und den Geschwistern mit glücklichem Lächeln zunickte. Wirklich – er war sehr glücklich. Es machte ihm Freude, diesen beiden Menschen aus geistiger und leiblicher Not emporhelfen zu können. Bei dem seltsamen Gemisch von großer Gutmütigkeit und sittlicher Sorglosigkeit, das ihn charakterisierte, überlegte er gar nicht, ob nicht die Arbeit in Diensten eines Blattes, wie er es plante, für die beiden ein ebenso starker Fron sein mußte, wie der es war, den sie aufgeben wollten. Im Grunde genommen begriff er auch kaum, daß Axel unter geistigem Drucke seufzte. Er begriff nur, daß dieser begabte Mensch sich für verhältnismäßig elenden Lohn plagen und schinden mußte. Das that ihm leid. Und mehr noch als ihn bedauerte er das tapfere kleine Frauenzimmer, das sich die Finger wund schrieb, um das Gesindel bei Werner & Co. reich zu machen.
Er schwelgte in der Freude des Wohlthuns. Sein ganzes Gesicht strahlte.
»Steig' ich, steigt ihr auch, Kinder,« sagte er. »Laßt mich erst einmal Pofahl und Werner abgeschüttelt haben, dann sollt ihr sehen, wie ich allein weiterklimme. Das heißt, ihr immer mit. Meine Leute halt' ich mir gut – die beteilige ich an meinen Verdiensten. Ich bin nicht wie Pofahl und Werner; ich bin kein Blutsauger. Leben und leben lassen! Nun unterschreibt die Kontrakte! Wie ich mir Ihre Arbeit denke, lieber Pawel, das besprechen wir noch ausführlicher. Sie wissen, wir wollen ein Volksblatt schaffen, kein Organ für die satte Bourgeoisie –«
»Ein Volksblatt,« betonte auch Axel. »Ach, lieber Freund, ich denke noch oft genug an unser verunglücktes Unternehmen in Köln zurück. Das Gute muß sich auf die Dauer doch durchringen, und wenn Sie in Ihrer neuen Zeitung –«
»Gestatten Sie, Pawel,« fiel Düren ein; »das Gute ist das, was der Menge zusagt. Letztgründig immer nur das. Ich habe mein Lehrgeld bezahlen müssen. Setzen Sie dem Arbeiter eine Trüffelpastete vor – und wenn sie noch so vortrefflich zubereitet ist, sie wird ihm nicht schmecken. Was wollen Sie? Ein Großer hat gesagt: erlaubt ist, was gefällt, und ein andrer, der nicht weniger an Geist besaß als Goethe: jedes Genre ist erlaubt, nur nicht das langweilige. Brav so. Wir werden dem Volke bieten, was ihm gefällt und was nicht langweilig ist. Alles andre ist Unsinn. Das ist mein Standpunkt – ich glaube, der richtige. Nun will ich den Sekt holen. Fräulein Olga, das Eis! In zehn Minuten bin ich wieder da …«
Er stürmte davon.
»Ein toller Kerl,« sagte Axel kopfschüttelnd. »Ich glaube, er wird es zu etwas bringen, denn er ist nicht – ängstlich … Aber ich bin es plötzlich geworden – ganz plötzlich … Ich – fürchte mich vor dem ›Volksboten‹ …«
Olga hatte in das Licht der Lampe gestarrt, mit einem Ausdruck, als denke sie an ganz etwas andres als an die Zeitung Dürens. Nun warf sie mit energischer Bewegung den Kopf zurück.
»Ich will dir etwas sagen, Axel: wenn man tief unten steht und möchte zur Höhe, dann ist man nicht wählerisch. Man sucht sich das erste Beste, um festen Fuß fassen zu können. Handelte es sich um mich allein, wär' alles anders. Aber ich bin ehrgeizig für dich. Du sollst weiterkommen. Bisher schlepptest du Ketten an Händen und Füßen. Ein Stück Kette nimmt dir Düren sicherlich ab. Du behältst Zeit genug zu eigener Arbeit. Deshalb wäre es Thorheit, wollten wir nein sagen statt ja.«
Er nickte. »Du hast wieder einmal recht, Schwesterherz. Was wäre ich ohne dich, Olinka!«
»Ein Halm im Winde,« erwiderte sie lachend. »Träumer du! Aber jetzt das Eis! Axel, in der Küche steht ein großer kupferner Kessel. Hol ihn; in ihn wollen wir das Eis füllen. Er sieht blank aus und wird sich gut ausnehmen, wenn die dicken Goldköpfe der Champagnerflaschen aus ihm hervorlugen; vielleicht sind die Köpfe auch silbern. Immerhin, sie werden glänzen.«
»Ich gehe schon,« sagte Axel. »Es wird ein Symposion werden. Olli, wenn du das Eis besorgst, bringe eine Schürze voll grüner Blätter und Zweige vom Gärtner mit. Die streuen wir über den Tisch und in die Mitte die Rosen Dürens. Es soll köstlich aussehen wie bei einem Senator Alt-Roms.«
»Abgemacht,« entgegnete Olga und ging, während Axel sich anschickte, den bewußten kupfernen Kessel aus der Küche zu holen. Er dachte vorläufig nicht mehr an den ›Volksboten‹ und seine litterarische Zukunft. Die Idee des Symposions lockte ihn. Er überlegte ernsthaft, ob es nicht hübsch sein würde, sich mit weißen Bettlaken zu drapieren, einmal gefaltet und den Zipfel über die linke Schulter geworfen, so wie Cato von Utica, der berühmte Sonderling, seine Toga trug. Und plötzlich fiel ihm etwas Erschreckliches ein: woraus sollte man denn den Champagner trinken? Wassergläser waren im Hause, auch einige Bierhumpen, aber kein schlank geformtes Krystallglas. Ob Düren wohl daran dachte, ein paar Spitzkelche mitzubringen? Sicher nicht. Olga mußte sie in der Glashandlung nebenan kaufen. Was kam es auf die drei Mark mehr oder weniger an! Champagner aus Bierhumpen – nein, das zerstörte jedwede ästhetische Wirkung! …
Olga war inzwischen in ihr Zimmer gegangen, zog ihr Jäckchen an, setzte den Hut auf und öffnete hierauf das Mittelfach ihrer Kommode, um ihr Portemonnaie hervorzusuchen. Das Schloß öffnete sich schwer; sie mußte niederknieen. Neben sauber und sorgsam zusammengelegten Taschentüchern, Hemden und Höschen ruhte da der Reichtum des Hauses in einer ausrangierten Cigarrenkiste. Und auf einmal zögerte Olgas Hand, dies Kistchen zu öffnen. Seit drei Tagen beherbergte es einen Schatz, den sie schon in der ersten Stunde seines Eintreffens wieder hatte loswerden wollen. Es hatte ihr nur an Zeit gefehlt und an Heimlichkeit, ihn auf die Post zu tragen – und er lastete so schwer auf ihr …
Sie war ein tapferes Mädchen. Sie hatte den Schmerz und die Demütigung und den Kummer ihres verliebten Herzens heruntergewürgt. Nicht einmal die Spuren der Thränen, die sie in stiller Nacht geweint, hatte Axel gemerkt. Er wußte nichts von allem: er träumte weiter durch das Leben. Aber nun, da sie endlich das Kistchen öffnete und neben ihrem Portemonnaie und den paar Goldstücken ihrer Habe die verfluchten Tausendmarkscheine sah, die eine freigebige und, o Gott, noch immer so liebe Hand ihr auf blutende Wunden gelegt, in jener egoistischen Gutherzigkeit, die über das Heute das Gestern vergißt, wenn sie damit rasch Trost zu schaffen erhofft – da brach es wieder rinnend und strömend in ihrem armen Herzen auf. Da durchflutete sie die Bitterkeit ihres Schmerzes und trieb ihr ein heißes Naß in die Augen und schrie in ihr die Stimme der Vernunft nieder, die ihr so hundertmal gepredigt hatte: es wird so kommen und muß es, sei vorbereitet und hüte dein Herz! … Wer hütet sein Herz? Wer fragt nach der nächsten Stunde, wenn ihm der Augenblick Seligkeit bringt? Wenn er selbstvergessen und fesselfrei sich einmal aufjauchzen kann in einem Leben, so arm an Jubel und Harmonie? … Die kleine blonde Olga beweinte das Glück, das sie nicht halten konnte und das nichts als eine holde Thorheit gewesen war, die den Blütenstaub von ihrer Seele gestreift hatte.
Sie weinte. Sie hatte das Symposion vergessen und alle ihre Aufträge. Sie war nicht mehr das kluge und tapfere Mädchen, das mit fröhlicher Kraft den Kampf um das Dasein aufnahm. Die Erinnerung hatte sie niedergeworfen, hatte um den Mund, der so sonnig lachen konnte, seine schmerzlichen Runen gegraben und ihr helles Jauchzen zu leisem Schluchzen ersterben lassen … Sie hörte nicht, wie sich die Thüre öffnete und Axel eintrat.
»Olli, mein Kind,« sagte er, »denke dir, Olli, es ist furchtbar. Wir haben keine Gläser. Keine schmalen, schlanken und luftigen Kelche, keine …«
Es polterte etwas. Olga stieß einen leisen und wehen Schrei aus und schlug, als schäme sie sich, die Hände vor das Gesicht.
Das Kistchen mit dem Gelde war auf die Erde gefallen, war ihren zitternden Fingern entglitten, als sie es wieder verbergen wollte. Eines der Goldstücke rollte fast durch die ganze Stube und blieb dann mit leisem Aufklingen liegen. Zu Füßen Axels flatterten die Tausendmarkscheine. Er starrte mit großen Augen auf sie herab – ohne Mißtrauen, aber in maßlosem Erstaunen.
»Olli – Kind – wo hast du dies Geld her?« stieß er hervor.
Sie kniete zu seinen Füßen und rührte sich nicht. Sie erhob nicht den Kopf. Es brannte in ihrem Hirn. Was sollte sie sagen?!
»Das sind ja Tausende, Olli,« begann Axel von neuem und hob eine der Banknoten auf. Er lächelte dabei harmlos und freudig. »Sollte Werner hinter meinem Rücken den Freigebigen gespielt haben? Düren scheint Einfluß auf ihn zu haben … vielleicht … Hurrjeh, Ollichen.«
Aber da sprang sie auf.
»Laß das Geld liegen, Axel,« sagte sie mit leicht zitternder Stimme. »Laß es – es gehört mir nicht – es soll morgen zurückgehen. Ich hatte schon gestern die Absicht, schon vorgestern –«
»Wo kommt es denn her, Kind? Du hast doch niemals Geheimnisse vor mir gehabt –«
»Nein,« fiel sie hastig ein, und wieder wechselte sie die Farbe. »Es ist kein Geheimnis – ich wollte längst einmal mit dir darüber sprechen, nur – nur kam ich nicht dazu … Es gibt Dinge, die sich nicht so leicht ausplaudern lassen … Herrgott –«
Sie brach ab. Ihre Augen wurden feucht. Abermals rannen schwere Thränen über ihre Wangen.
Er sah es und begriff die Schwester nicht. In seiner Weltfremdheit kam nicht einmal eine Ahnung über ihn, was ihre Thränen bedeuten könnten. Nur Mitleid schlich sich in sein weiches Poetenherz.
»Aber, Lieb,« sagte er und griff zärtlich nach ihren Händen, »aber, Lieb – was soll denn das? Was weinst du, Kind? …«
Sie wischte mit der Hand über ihr Gesicht und atmete stark auf.
»Hör zu, Axel … Axel, das Geld da stammt von einem Manne, den ich sehr lieb gewonnen habe. Aber da er mich nicht heiraten kann, wollte er wenigstens meine Zukunft geschützt wissen. Er dachte sich nichts Schlimmes dabei; er hat es gut gemeint; er wollte mich nicht kränken – und kränkte mich doch …«
Axel war sehr erstaunt.
»Warum denn gekränkt?« fragte er. »Ach so – ich verstehe – des Geldes wegen. Aber wenn er es gut gemeint hat, Ollichen!? … Ollichen, warum hast du mir denn nie etwas davon erzählt?«
»Ich – ich wollte nicht; ich konnte nicht.«
»Das begreife ein andrer. Eine Liebe ist doch kein Verbrechen, ist doch keine Sünde, der man sich zu schämen braucht …«
Er hielt noch immer ihre Hände fest. Und nun fühlte er, daß sich ihre Nägel in sein Fleisch bohrten. Sie zitterte, doch dabei leuchteten ihre Augen auf.
»Nicht wahr, Axel?« rief sie. »Keine Sünde, der man sich zu schämen braucht? Ach, Axel, ich habe ihn so lieb gehabt! Es war immer ein Stück Sonnenschein für mich, mit ihm zusammen sein zu dürfen. Er war so zart, so gütig, so aufmerksam. Es war mir schon Glück, an ihn denken zu dürfen. Es war mir schon Glück, das Wiedersehen mit ihm berechnen zu können. Ich habe die Tage und Stunden gezählt, die zwischen Gegenwart und Zukunft lagen; die Zukunft war er allein …«
Axel ließ ihre Hände los. Er schüttelte den Kopf, betrachtete das auf der Erde liegende Geld und wurde ernster.
»Wie heißt er, Olli, und warum konnte er dich nicht heiraten?«
»Laß den Namen! Er sagt nichts. Es ist für immer aus zwischen uns beiden. Er hat eine andre geheiratet.«
»Eine andre? Mein Gott, aber warum denn, wenn ihr euch liebtet?! Warst du ihm nicht gut genug? Wo hast du ihn kennen gelernt?«
»Im Theater. Einmal mit Marie …«
»Und –?«
Olga wurde zornig. »Was ›und‹?! Wir haben uns häufig gesehen. Er lud mich ein, mit ihm zu Abend zu essen – natürlich nicht in schlechten Lokalen. War etwas dabei?«
Er schüttelte den Kopf, ohne Argwohn, aber in einem Anflug von Aerger.
»Ich weiß nicht,« sagte er; »ich kann das doch nicht recht passend finden. Entschieden nicht, Ollichen. Man gibt sich kein Rendezvous mit einem fremden Herren.«
»Aber ich liebte ihn doch!«
»Warum hast du ihn nicht zu mir geführt?«
»Das ging nicht.«
Sie kniete wieder am Boden und raffte das Geld zusammen und warf es in die Cigarrenkiste zurück.
»Olli, war es ein Offizier?« fragte Axel.
»Nein.«
»Du willst mir nicht sagen, wer es war?«
»Nein …« Sie sprang auf, umschlang ihren Bruder und küßte ihn. »Quäle mich nicht, Axel! Ich leide so viel. Es ist alles tot in mir. Es ist alles aus. Ich sehe ihn nie wieder. Es ist alles begraben …«
Axel erwiderte ihre Küsse nicht, löste langsam ihre Hände von seinem Halse und sagte: »Es war also eine Dummheit. Sei künftig aufrichtiger zu mir, Olli. Wie soll ich dich hüten?«
»Ueberlaß es mir selbst, Axel.«
Es klingelte draußen.
»Das ist Düren. Geh, Olli, und hole das Eis. Düren braucht nichts zu merken. Und das Geld? Wenn er es gut gemeint hat …«
Sie starrte ihn an. Eine Flamme des Zorns schlug aus ihrem blauen Auge. Verstand er denn noch immer nicht? – Nein; dieser große Mensch war wie ein Kind.
»Es geht morgen zurück,« sagte sie. »Ich würde es nicht passend finden, wollte ich es behalten. Nun öffne Düren …«
Während sie durch die Küche und über die Hintertreppe davoneilte, ging Axel zur Entreethür. Er fühlte sich etwas benommen. Seine Phantasie wußte Ungeheueres zu spinnen; sein Verstand arbeitete schwer.