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Achtes Kapitel.

Vor das Portal des Hotels Kaiserhof rollten die Wagen und führten die glänzende Gesellschaft, die in der Marienkirche der Trauung von Gerda Dassel mit Hans Volcker beigewohnt hatte, zum Festmahl. Man hatte gegen die anfängliche Beredung die Hochzeit schon auf den ersten September verlegt. Ende des Monats sollte das ›Morgenblatt‹ zu erscheinen beginnen; da war die Anwesenheit Hansens in Berlin notwendig. Man konnte nicht einmal an eine längere Hochzeitsreise denken, sondern wollte sich damit begnügen, vierzehn Tage an den italienischen Seen zu verleben.

Das Festmahl im Kaiserhof-Hotel war zugleich auch eine Art Einweihungsfeier für die neue Zeitung. Es war alles da, was von Politikern und der Finanz in Beziehung zum »Morgenblatt« getreten war. Auch Graf Vließen fehlte nicht – etwas geniert, denn er hatte seine Gattin bei sich, deren weithin leuchtende Brillantrivière ihre Häßlichkeit nur noch mehr auffallen ließ. Uebrigens gab sich Vließen dieser in ihrer Abscheulichkeit bedauernswerten Frau gegenüber von vollendetster Ritterlichkeit. Es machte fast den Eindruck, als wolle er der ganzen großen Gesellschaft beweisen, daß man sich täusche, wenn man in diesem Falle von einer Geldheirat spreche – daß er für dies arme, verunstaltete Wesen in der That eine gewisse Neigung empfinde. So nickte er ihr während des Diners dann und wann zärtlich zu, hauchte auch einmal einen Luftkuß auf Zeigefinger und Daumen zu ihr hinüber und erschöpfte sich in allerhand kleinen Aufmerksamkeiten, die indessen nur geringe Gegenliebe zu finden schienen. Gräfin Vließen glich einer bewegungslosen Mumie, sprach auch fast gar nicht und antwortete auf direkte Anreden nur ganz kurz – mit tiefer, rauher, unsympathisch klingender Stimme. Der bewegliche Breesen, der ihr linker Tischnachbar war, verglich sich heimlich mit dem heiligen Laurentius. Er saß wie auf einem glühenden Rost. Alles an ihm vibrierte, flog und zitterte. Welche Frau! Es gab kaum noch ein landläufiges Unterhaltungsthema, das er nicht angeschlagen hätte – und sie antwortete mit ewig gleichbleibendem Gesicht immer nur ja oder nein. Schließlich ertrug der Kammerherr die Tortur nicht länger. Er schützte Nasenbluten vor und verschwand und marschierte im Vorzimmer zwischen Kellnern, Lakaien und Kaffeejungen einige Zeit auf und ab, um sich wieder zu beruhigen. Aber es wurde ihm schwer. Wer hatte die Tischordnung entworfen? Ein Idiot! Warum setzte man ihn neben diese fürchterliche Gräfin? War er ein Verbrecher? ›Nein,‹ sagte sich der Graf, der seine Vergleiche stets ziemlich weit herholte, ›lieber aztekisch lernen als stundenlang Tischherr einer solchen Frau zu sein! Ich bleibe hier draußen, bis das Dessert an die Reihe kommt. Das halt der Deibel aus! …‹

Unten an der Tafel saß ein junges Paar, das sich besser unterhielt. Mit dem Banquier Nathansohn hatte man auch dessen Tochter Hella laden müssen. Dittmar Dassel führte sie zu Tisch. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er der Kavalier einer Jüdin sein mußte. Er war Antisemit aus Traditionsgefühl. Er haßte die Juden durchaus nicht, und ihre stetig an Einfluß gewinnende soziale Machtstellung war ihm höchst gleichgültig. Er hatte die Judenfrage bisher nur aus der Kavaliersperspektive betrachtet; es war für ihn ganz selbstverständlich, daß ein Jude ihm gesellschaftlich nicht gleichberechtigt war. Mit dem Begriff Jude verband er ohne weiteres eine Reihe von Vorstellungen wie Mühlendamm, Galizien, Schnorrerei und alte Kleider. Nun hatte er eine Jüdin zu Tisch zu führen.

Er zuckte mit den Schultern, als er aus der Tafelordnung ersah, wen man ihm zugedacht hatte. Er war sowieso aus der Bahn geschleudert. Sein Vater hatte ihn bei der Heimkehr mit eisiger Kühle begrüßt, ihn nicht einmal in Uttenhagen empfangen, sondern hier in Berlin, in dem kleinen Hotel in der Dorotheenstraße, in dem Dittmar abgestiegen war, und in dem er noch wohnte, abwartend, was nun aus ihm werden solle. Am liebsten hätte er dem Hochzeitsfest seiner Schwester überhaupt nicht beigewohnt. Auch diese Ehe paßte ihm nicht. Aber er schwieg darüber. Sein letztes Unglück hatte ihn still werden lassen. Mit verbissenem Grimm, ein leicht mokantes Lächeln auf den Lippen, reichte er Fräulein Nathansohn den Arm, um sie zu Tisch zu geleiten.

Er hatte anfänglich in offen zur Schau getragener Feindseligkeit über sie hinweggeschaut. Und sie schien seine Feindseligkeit zu erwidern. Auf der Stelle that sich eine unsichtbare Kluft zwischen den beiden auf. Erst, als man nebeneinander saß, sich fast mit den Armen berührend, fiel Dittmar die seltene Schönheit Hellas auf. Die Linien ihres Profils waren von entzückender Reinheit. Die edel gewölbte Stirn, die feine Nase, der Schwung der Lippen, Kinn und Halsansatz – alles das vereinigte sich zu reizvollster Wirkung. Sie trug ein elfenbeinfarbenes Kostüm aus weichem, stumpfem Stoff mit Seidenstickereien an den Säumen und als einzigen Schmuck eine fünffache Kette kleiner Perlen, die vorn am Hals durch ein schmales, mattgoldenes Oval geschlossen war. Die Gestalt war mittelgroß, schlank und geschmeidig. In der ganzen Erscheinung gab sich vornehmste Rasse kund. In pikantem Gegensatz zu der starken Fülle des schwarzen Haars, über dem ein leichter Bronceton zu schillern schien, stand das helle Grün der langbewimperten Augen, die von fein gezogenen dunkeln Brauen überwölbt wurden.

Diese eigentümliche Schönheit frappierte Dittmar doch; er war empfänglich für weiblichen Reiz. Seine feindselige Haltung schwand, er wurde liebenswürdiger und unterhaltender. Aber die Eroberung wurde ihm nicht leicht gemacht. Hella war auffallend zurückhaltend. Sie vergab sich nichts, ging mit großer Gewandtheit auf seine Unterhaltung ein, zeigte sich in keiner Weise abwehrend, doch noch weniger entgegenkommend. Sie blieb geflissentlich kühl – und erst, als Dittmar den Ton zu ändern begann und aus fadem Geplauder zu ernsthafteren Themen überging, wurde auch sie lebhafter und sichtlich wärmer. Namentlich das, was Dittmar, in der ihm eigenen glänzenden Art zu schildern, von Japan erzählte, schien sie sehr zu interessieren. Sie hatte kürzlich, von einer älteren Engländerin begleitet, Italien und einen Teil des Orients bereist und schwärmte von den Schönheiten des Südens und den wechselnden zauberhaften Stimmungen in der Natur. Sie war Malerin, und da er seine gelegentlichen schriftstellerischen Sünden zugestand, so fand man sich bald auf dem Gebiete des Künstlerischen. Ihre beiderseitigen Interessen trafen sich, und es währte nicht lange, so befanden sie sich in anregendster Unterhaltung.

Nur auf kurze Zeit wurde sie unterbrochen. Dittmar sah, daß seine Nachbarin einem dicken Herrn weiter oben an der Tafel, der ihr zugetrunken hatte, kopfnickend und lächelnd dankte.

»Wer ist das?« fragte er. »Hundert Namen sind bei der Vorstellung an meinem Ohr vorübergeschwirrt – ich kenne die wenigsten …«

»Das ist mein Vater,« erwiderte Hella.

In diesem Augenblick war es Dittmar, als empfinde er einen heftigen Schlag. War das möglich? Gab es wirklich so wunderliche Spiele der Natur? Dieser dicke Protz der leibliche Vater eines bewundernswert schönen und auch klugen und anmutigen Mädchens? – Dittmar war plötzlich und unbewußt schweigsam geworden. Der alte Nathansohn dünkte ihn einfach gräßlich und, was ihn im Augenblick noch peinlicher berührte, als der Typus des modernen Finanzjuden. Breit und dick saß er da, die Serviette in den Kragenausschnitt gestopft, auf dem feisten Gesicht mit den gewaltigen Hängebacken, der orientalischen Nase und den Thränenwulsten unter den Augen ein Lächeln der Befriedigung, schmatzend und kauend und mit den rundlichen Fingern die Artischocke auf seinem Teller zerpflückend. Der reich gewordene Emporkömmling, dessen Vater vielleicht noch mit Bändern und bunten Tüchern hausieren gegangen war, der brutale Genußmensch, der sich mit Nerven und Fibern und nie satt werdendem Leibe für die Entbehrungen des Ghetto entschädigte …

Das war der Vater Hellas. Wie kamen die beiden in diese Gesellschaft? – Ach ja – Dittmar entsann sich: Nathansohn war der Bankier des leitenden Staatsmanns und zählte zu den Mitgründern des »Morgenblatts«. Baron Hunding sprach sehr vertraulich über den Tisch herüber mit ihm. Das moderne Judentum gewann an Platz – es ließ sich nicht bestreiten … Dittmar fand, daß die Tafelgesellschaft überhaupt eine recht gemischte war – allerdings »interessant gemischt«. Der Adel dominierte durchaus nicht, aber er war immerhin gut und stattlich vertreten. Dassel, der Vater, Graf Breesen, Baron Hunding mit Sohn und Schwiegertochter, Prinz Inningen mit seinem ungeheueren Monocle, noch, ein paar Grafen, Freiherren und Herren »von« – Uniformen, Kammerherrenfracks und viele Orden: es machte sich hübsch. Auch war der Adel zweckmäßig verteilt zwischen den Vertretern des respektablen Bürgertums, das das Haus Volcker repräsentierte. Der Bräutigam war in der Offiziersuniform jenes altberühmten Kürassierregiments erschienen, zu dessen Reserve er gehörte – eine kleine Eitelkeit, die man ihm schon verzeihen konnte. Aber da war noch ein andrer Volcker, der Bruder, der trug einen entsetzlich altmodischen Frack und ausgesucht in der Mitte des weißen Vorhemdchens einen großen Brillanten, der seiner Fassung nach von dem Urgroßvater stammen mußte – ein Ungetüm von Brillanten. Wie konnte man so geschmacklos sein! Und wie aß der Mann seine Artischocke! Er zerrupfte und zerfaserte sie und nahm dann schließlich noch das Messer zu Hilfe. Auch die Gattin des älteren Volcker sah nüchtern und pfahlbürgerlich aus. Sie war eine große, ausdruckslose Blondine mit harten Zügen und sprach Stuttgarter Dialekt. Ihr blaues Seidenkleid schlug in der Taille Falten. Eine Schwester der Volckers, Malwine, vervollständigte die engere Familie: ein älteres, brünettes Mädchen mit sympathischen Zügen. Dittmar glaubte gehört zu haben, daß sie Lehrerin sei. Das war nun auch nicht nötig; die Familie war ja reich genug …

Noch einige Verwandte waren anwesend – ›Biedermänner und Ehefrauen‹ charakterisierte sie Dittmar heimlich – und ein großer Bekanntenkreis: Verlagsbuchhändler von Namen, Druckereibesitzer, Papierfabrikanten, ein paar Sortimenter – das hatte auf ausdrückliches Verlangen Bertram Volckers alles geladen werden müssen. Kein einziger sollte vor den Kopf gestoßen werden. Bertram hatte ernst und gewichtig über die Einladungsfragen mit Hans verhandelt. Dazu kam der Stab des Aufsichtsrates und aller derer, die in intimerer Verbindung mit dem »Morgenblatt« standen: Doktor Pfeil, der vielgenannte Bimetallist, der Afrikareisende Huhnholtz, der Parteisprecher Doktor Sensenschmidt, der noch vor Erscheinen des Blattes auf hundert Schleichwegen gegen den Chefredakteur Doktor Rempler intriguierte – Parlamentarier, einige Ministerialbeamte, der Leiter des offiziösen Telegraphenbureaus … »eine sehr interessante, vielfältig gemischte Gesellschaft,« murmelte Dittmar in sich hinein.

»Sie sind nachdenklich geworden, Herr Graf,« sagte seine Nachbarin, ihren kleinen Dinerfächer öffnend.

»Ich orientierte mich, gnädiges Fräulein. Ich schaute mir die Gesellschaft an. Vergebung, wenn ich Sie vernachlässigte –«

»Bitte sehr – ich dringe nicht auf Unterhaltung. Ich liebe sogar die kleinen Ruhepausen. Es geht mir übrigens wie Ihnen: auch ich kenne die wenigsten. Den großen Gesellschaften Papas entzieh' ich mich gern durch eine vorgeschobene Migräne.«

»Gnädigste lieben das große Gesellschaftsleben überhaupt nicht?«

»Das große – nein. Das ist mir odiös. Es erinnert mich immer an die Tables d'hôte in den Riesenhotels der Schweiz. Man kennt sich kaum und lernt sich auch nicht kennen. Bleiben Sie in Berlin oder kehren Sie nach Japan zurück?«

»O nein – ich bleibe …« Dittmar kämpfte mit einer leichten Verlegenheit, überwand sie aber schnell. »Ich muß bleiben, gnädiges Fräulein. Ein unglückliches Ungefähr hat mich gezwungen, den Dienst zu quittieren. Ich suche neue Beschäftigung; aber ich fürchte, sie wird schwer zu finden sein.«

Hella war klug genug, zu verstehen. Der junge Mann hatte eine Dummheit gemacht, vielleicht Schulden zu hauf; er war gestrandet. Von derlei hatte sie oft gehört; es ging so zu in der vornehmen Welt. Aber in diesem Falle hatte sie Mitgefühl.

»Das bedaure ich,« entgegnete sie. »Wird Ihnen Ihr Vater nicht seine Besitzung zur Verwaltung geben?«

»Das wäre freilich die einfachste Lösung. Aber mein Vater ist dagegen. Er ist streng geworden – hat freilich auch das Recht dazu. Ich habe nicht immer ganz vernünftig gelebt. Und nun heißt es Punktum, Strich darunter. Ich soll – lächeln Sie nicht, gnädiges Fräulein, es ist blutiger Ernst – soll ›erwerben lernen‹.«

Sie warf einen raschen Seitenblick auf den eleganten jungen Mann und seine weißen, weibischen, gepflegten Hände.

»Würde Ihnen das nicht Freude machen?« fragte sie.

Er war ein wenig verblüfft. »Das Erwerben? – O gewiß – ich bin durchaus keine unthätige Natur. Sie dürfen nicht vergessen, gnädiges Fräulein, daß die diplomatische Carriere auch eine ganz gehörige Arbeitskraft erfordert. Mit einem schönen Scheitel und gut sitzender Toilette ist es da nicht immer gethan. Man bedarf schon einer hübschen Dosis geistiger Regsamkeit, um vorwärts zu kommen.«

»Ich glaube es, Herr Graf – kann mir auch sehr wohl denken, daß es Ihnen nahe gehen muß, Ihren interessanten Beruf aufzugeben.«

»Ich wurde im allgemeinen nicht so beschäftigt, wie ich es mir gewünscht hätte. Ein paar besondere kleine Missionen waren anregend und boten auch gewisse Schwierigkeiten, die glücklich zu überwinden mir viel Spaß gemacht hat. Aber im allgemeinen hielt man mich im recht langweiligen Kanzleidienst fest – ich müßte also lügen, wollte ich behaupten, daß mir der Abschied Thränen gekostet hätte. Viel weniger leicht werd' ich, so fürchte ich, den Wechsel der gesellschaftlichen Stellung hinnehmen können. Anschauungen, in denen man aufgewachsen ist und die man mit geflissentlicher Sorgfalt als Träger eines ziemlich vorurteilsvollen Standesbewußtseins gehütet hat, lassen sich nicht so im Handumdrehen ablegen. Leider nicht.«

Hella ließ ihren Fächer fallen.

»Schon, daß Sie das ruhig aussprechen,« erwiderte sie, »scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß Sie sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen, mancherlei über Bord zu werfen, was Sie künftighin vielleicht als Ballast empfinden würden. Und der gute Wille thut viel.«

»Ist nur leider nicht alles, gnädiges Fräulein. So lächerlich es klingt: oft genug wird mir mein Name im Wege sein. Wenn ich Kaufmann werden wollte, am meisten. Dazu habe ich allerdings gar kein Talent. Habe ich überhaupt Talente? Vielleicht gesellschaftliche, die mir aber ebensowenig nützen wie meine Sprachbegabung. Ich habe einen altjapanischen Roman übersetzt und ihn einem Verleger angeboten – nicht Volcker, das wollte ich nicht, einem andern. Der Mann will das Buch mit Abdrücken der Originalillustrationen erscheinen lassen; das kostet viel – infolgedessen hat er mir nur ein winziges Honorar zahlen können. Von der Schriftstellerei dürfte ich also kaum leben können.«

»Können Sie sie nicht mit der Journalistik verbinden? Das ›Morgenblatt‹ steht Ihnen ja doch nahe, und in diesem großen Betriebe ist sicher noch ein Platz frei. Dann haben Sie sich den Rücken gedeckt, sind die Alltagssorgen los und können immer noch Ihrer Muse leben. Ich glaube, das ist ganz praktisch gedacht – ich bin eine Kaufmannstochter.«

Dittmar neigte zustimmend den Kopf.

»Vermutlich wird es so auch werden,« entgegnete er. »Wahrscheinlich werde ich den sportlichen Teil des Blattes übernehmen. Das interessiert mich ja auch – aber – früher ließ ich selbst meine Pferde rennen, hab' hundert Bekannte da draußen – und wenn die mich nun als Reporter wiedersehen« … er griff nach seinem Weinglas … »na, es muß eben alles gelernt werden!«

»Das muß es, Herr Graf. Ich beneide Sie.«

»Aber, gnädiges Fräulein –«

»In vollem Ernste: ich beneide Sie. Sie dürfen doch wenigstens kämpfen – und zwar wird es ein schneidiger und fröhlicher Kampf werden – nicht nur um die Existenz, um das liebe Brot, sondern auch ein Krieg gegen Vorurteile. Das muß köstlich sein, und ich bin gewiß, Sie werden sich jedes Sieges in dieser Campagne mehr erfreuen als der Siege, die Sie ehemals auf dem grünen Plan erfochten haben oder –«

»Am grünen Tische. Sie können ruhig aussprechen, was Sie wahrscheinlich gedacht haben, gnädiges Fräulein. Solche Rückerinnerungen sind ganz gut für mich, wenn sie zuweilen auch weh thun. Ich fürchte übrigens den Kampf nicht – nun ich weiß, daß ich ihn aufnehmen muß. Aber kriegslustig bin ich deshalb doch nicht – ach nein! Aus sicherem Port ist das Urteil immer ein wenig befangen. Sie würden mich nicht so ›beneiden‹, wenn Sie an meiner Stelle wären.«

»Das glaub' ich doch, Herr Graf. Das Verlorene läßt sich, soweit ich Sie verstanden habe, für Sie nicht mehr einbringen. Das ist bedauernswert und dennoch ein großer Vorteil. Sie brauchen nicht mehr Rückschau zu halten, sich nicht an das zu klammern, was hinter Ihnen liegt – Sie haben die Bahn frei. Sie können im Grunde genommen nur gewinnen. Ihre ganze Zukunft ist ein einziger großer Gewinst. Und insofern sind Sie viel besser daran als ich, insofern beneide ich Sie. Mir sind die Wege bereitet, glatt und hindernislos. Ich darf nicht einmal ›erwerben‹, denn Papa würde gewaltig räsonnieren, wollte ich meine Bilder zum Verkauf ausstellen – was würde die Welt dazu sagen! Und ohne Erwerben kein Kampf, ohne Kampf kein Leben, das wirklich lebenswert und nicht herzlich langweilig ist …«

Sie sagte das Letzte mit einer gewissen Müdigkeit im Ton. Sie war sicher ein kluges Mädchen, aber Dittmar schien es doch, als posiere sie ein wenig. Solche junge Damen meinte er vielfach kennen gelernt zu haben. Sie waren fast immer ausgezeichnet erzogen, hatten viel gelernt und kokettierten gern mit philosophischen Floskeln. Aber Seelen hatten sie nicht. Auch bei dieser schönen Jüdin war alles Oberfläche. Der Sonnenstrahl wärmte nicht. Dittmar fand sie kalt und frostig; sie war nicht sein Geschmack …

Doktor Sensenschmidt schlug an sein Glas und erhob sich, die weiße Brust reckend. Man war unvorsichtig genug gewesen, keine Einteilung der Toaste vorzunehmen. So überstürzten sie sich denn. Jedem Gange folgten zwei Reden. Baron Hunding hatte begonnen; er war der Klügste gewesen und hatte nach englischer Sitte einfach sein Glas mit dem Rufe erhoben: »Dem jungen Paare!« Um so eindringlicher und weitläufiger waren die folgenden Redner. Als die Toaste auf die Verwandtschaft erschöpft, kamen die geschäftlichen Beziehungen an die Reihe. Doktor Pfeil sprach auf die Firma Volcker; ein alter reicher Papierhändler gedachte des Begründers des Verlagshauses und war dabei selbst so gerührt, daß ihm die Thränen über die Wangen tropften. Sensenschmidt toastete auf die neue Zeitung. Er sprach, als ob er in einer Volksversammlung wäre, mit prachtvollem Organ, in schönen Perioden und mit theatralischer Gestikulation. Seine Worte rollten. Er war ganz Komödiant.

Graf Breesen hatte sich wieder eingefunden. Im Vorzimmer herrschte ein unerträglicher Zug. Lieber wollte er die Nachbarschaft der Gräfin Vließen ertragen, die stumm wie immer das Muster des Tischtuchs betrachtete. Breesen haßte die großen Diners, weil er nicht stillsitzen konnte. Aber eine Tortur wie heute hatte er lange nicht durchgemacht. Jeder Nerv in ihm zitterte.

Der alte Dassel war still und in sich gekehrt. Seine große Gestalt in Johanniteruniform überragte die ganze Umgebung. Auf dem lieben, sympathischen Gesicht lag ein trüber Schatten. Obschon er die Wahl Gerdas für eine sehr glückliche hielt, grämte sich sein Herz. Mit ihr zog der Frohsinn aus seinem verwaisten Heim. Und nicht das allein. Auch die Herrin zog von dannen, die seines Hauswesens Zügel mit jugendlich kräftiger Hand geführt hatte. Dassel wußte, wie sehr sie ihm fehlen würde. Er war ein schlechter Landwirt; seine Interessen gehörten der Politik, in der er aufging, in der er lebte, schaffte und wirkte. Eine kurze Zeit hatte er fast bedauert, daß er geschworen, Dittmar nicht bei sich aufzunehmen; doch nur eine kurze Zeit. Landjunker sein – das war nicht die harte Schule, die er sich für den Leichtsinnigen wünschte. Eine Armutsprobe wollte er für ihn; mühsam sollte er sich sein tägliches Brot verdienen – sei's auch in Handlangerarbeit, die Dittmar von der Höhe seines aristokratischen Bewußtseins für entehrend halten mochte, und die doch die Ehre wieder wecken sollte in ihm. Der alte Dassel besaß viel Familienstolz; aber ob Dittmar seinen Adel ablegen oder als Herr Graf Handwerks- und Commisdienst leisten würde, das war ihm gleich. Nur arbeiten, wirklich arbeiten, redlich und ehrlich arbeiten sollte er lernen. Hatte er das gelernt, so stand Uttenhagen ihm wieder offen. Im andern Falle war Dassel fest entschlossen, den Besitz Gerda zu vermachen. Dittmar hätte, da er mehr als sein Pflichtteil bereits erhalten und durchgebracht, keinerlei Einwände gegen eine solche Bestimmung erheben können.

Auf Wunsch Volckers und Gerdas sollte Dittmar beim »Morgenblatt« beschäftigt werden. Im Grunde war dies Dassel durchaus nicht recht. Er glaubte zwar an die schriftstellerische und journalistische Begabung Dittmars; aber ein sogenannter freier Beruf schien ihm dennoch nicht der geeignetste für den Entgleisten – vor allen Dingen nicht als Vorbereitungsstadium für die Uebernahme von Uttenhagen, das eine ganze Kraft erforderte. Dassel wollte Ketten und Handschellen für seinen Sohn; völlig sollte erst einmal der Leichtsinn Dittmars gebrochen werden. Schließlich fügte sich der Alte – schon aus Liebe zu Gerda, die weniger eine warme als kluge Fürsprecherin ihres Bruders war. Der Posten des Sportredakteurs beim »Morgenblatt« war noch nicht besetzt; es war nur eine unbedeutende Stellung, mit einhundertfünfzig Mark Monatsgehalt dotiert. Aber es war ein Anfang. Fünfzig Thaler waren ehemals eine Lumperei für Dittmar gewesen, nicht der Rede und nicht des Aufhebens wert. Jetzt sollte dies Fixum die Grundlage seiner Einkünfte bilden. Er mußte unter diesen Verhältnissen rechnen lernen oder untergehen, denn mit dem Augenblick, da er den diplomatischen Dienst quittiert, hatte auch sein Kredit bei den Geldmännern aufgehört, die gegen Wechsel, Ehrenschein und gute Zinsen die Hilfespender der goldenen Jugend sind. Diese Leute mit der feinen Nase wußten ganz genau, zu welcher Stunde sie ihren eisernen Arnheim zu schließen hatten.

Am meisten erfreut über diesen Ausgleich war Gerda. Sie hatte nach der Rückkunft Dittmars eine ernste Unterredung mit ihm gehabt und mit ihrer Ansicht über seinen Leichtsinn nicht hinter dem Berge gehalten. Und gerade dieser Schwester gegenüber, deren Vermögen ihm gleichfalls zum Raub gefallen, war Dittmar klein, sehr klein geworden. Er ging ohne weiteres auf alle ihre Vorschläge ein. Sie kam ihm gleich mit einem ganzen Plane. Sie entwarf ihm in ihrer praktischen Weise ein genaues Budget: soundsoviel für die Toilette, für Logis, Essen und Trinken, für Extraausgaben. Es waren karge Zahlen; es war ein kümmerliches Auskommen. Heimlich war Dittmar in heller Verzweiflung. Seine Garderobe und Wäsche waren so reichhaltig und so gut im stande, daß er auf Jahre hinaus keines Bekleidungskünstlers bedurfte. Das hatte Zeit. Aber die tausend Kleinigkeiten, die das Leben eines Gentlemans behaglich ausgestalteten, die mehr waren als üppige Mahlzeiten und edle Weine und die feinsten Importen – das ganze Drum und Dran im Dasein eines Verwöhnten – auf das verzichten zu müssen, dünkte ihn namenlos schwer.

Die Unterredung zwischen den Geschwistern fand in dem kleinen Hotel statt, in dem Dittmar abgestiegen war. Und plötzlich setzte sich Dittmar an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und begann zu schluchzen.

Da aber wurde Gerda zornig.

»Pfui, Ditt!« rief sie. »Pfui, Ditt – heulst wie ein Schuljunge! Heulst, weil du arbeiten mußt! Ist es so weit mit dir, daß du zu feige bist, ein neues Leben zu beginnen, dann nimm deinen Revolver und mach kurzen Prozeß! Dann bist du nichts weiter wert als die Kugel! Bist auch der Liebe deiner Eltern nicht wert gewesen, die dich verhätschelt und verzogen haben, und meiner Liebe, die dir das Letzte gab! Was jammerst du, Mensch? Findest du eine Thräne, so laß sie der Erbärmlichkeit der Vergangenheit gelten; dann aber das Naß aus den Augen gewischt und mit klarem Blick in die Zukunft geschaut! Ditt, bist du ein Mann oder eine Memme?«

Nicht der Zorn Gerdas, sondern die starke, sittliche Empörung, die aus ihren Worten sprach, machte Eindruck auf Dittmar. Er erhob sich auf der Stelle, fuhr mit der Hand über die Augen und küßte die Schwester.

»Sei nicht böse, Gerd – es war nur ein Moment kindischer Schwäche,« sagte er. »Ich bin zu allem bereit. Ein Mann, keine Memme …«

Sie hatte in ihrer rührenden Opferwilligkeit das meiste schon vorgesehen. Wohnen sollte Dittmar bei dem Chef der Bilderabteilung im Hause Volcker, dem Radierer Steffens, der ein Zimmer zu vermieten hatte. Das hatte Hans vermittelt, der auch gewünscht hatte, an seiner Mittagstafel stets einen Platz für seinen Schwager frei zu lassen. Von allen Seiten streckten sich Dittmar sorgende Hände entgegen; verwandtschaftliche Liebe umgab ihn noch immer. Und gerade das empfand er unsäglich peinlich, diese ängstliche Sorge um ein verlorenes Kind. Sollte schon einmal mit allem gebrochen werden – dann auch allein und auf eigenen Füßen in das neue Leben hinein!

Aber er sprach das nicht aus. Er schwieg darüber und dankte Gerda.

Sie sah schön und glücklich aus an ihrem Hochzeitstage. »Eine Walküre,« sagte Baron Hunding Vater zu seiner Nachbarin. »Schneidiges Weib,« murmelte Baron Hunding Sohn und dachte wehmütig an den Korb, den er sich einmal bei Gerda geholt hatte. Er hatte als Pflaster auf die Wunde ein niedliches blondes Frauchen erhalten, das er sehr liebte, aber für Gerda trug er noch immer eine große Verehrung unter der roten Husarenjacke – eine warmblütige ritterliche Verehrung, die ihm aus den Augen sprach, sah er sie an. Bei seinem Nebenbuhler von damals, dem Grafen Vließen, war das nicht der Fall. Er mied es sichtlich, dem Blicke Gerdas zu begegnen, und schwärmte einmal sein Auge zu ihr hinüber, so schien dies eher einem raschen Aufblitzen mühsam gedämpfter Leidenschaft zu gleichen als dem Ausdruck verehrungsvoller Freundschaft. Aber er machte sich wieder stattlich wie einst, der Graf Vließen, er war wieder ganz Löwe – und auch die Verwüstungsreflexe auf seinem interessanten Gesicht standen ihm gut. »Lackierte Verlumptheit« hatte einmal eine geistreiche Frau sein Genre genannt; das war ein wenig hart, aber es traf beinahe …

Während des Kaffees blieb das junge Paar noch; man wollte erst mit dem Elfuhrzuge nach dem Süden. Graf Breesen dankte allen Göttern, daß er endlich von der Pein der Tischunterhaltung befreit war. Er machte seiner Nachbarin eine tiefe und respektvolle Verbeugung und murmelte etwas, das wie »außerordentlich glücklich gewesen, meine gnädigste Gräfin« klang. Dann rief er sich einen Kellner heran, trank drei Cognacs, schüttelte sich, trank einen Curaçao und nahm hierauf den Arm des Barons Hunding.

»Liebster Hunding,« wisperte er, »ich bin tot. Was, tot – gerädert! Was gerädert – ein torturierter Inkulpat bin ich, liebster Hunding! Den größten Verbrecher aller Zeiten könnte man nicht schwerer strafen, als durch eine zweistündige sogenannte Tischunterhaltung mit der Gräfin Vließen. Herrgott, ist das eine Frau! Sagte ich Frau? – Nein, sie ist ein Petrefakt.«

»Aber, bester Graf –«

»Aber, bester Baron, Sie kennen sie nicht! Danken Sie dem Schöpfer! Die Frau hat etwas Ausgegrabenes an sich. Sie ist mir unheimlich – wie ein Götzenbild aus der Obotritenzeit. Sie verzieht nie eine Miene. Von Sprechen gar keine Rede. Ich trinke sonst selten Cognac – aber ich muß mich innerlich erst wieder erwärmen – ich werde noch einen Cognac trinken! Dieser Hochzeit gedenk' ich! Wie Vließen das aushält –!?«

»Bester Graf, Vließen ist eine abgehärtete Natur –«

»Das ist richtig. Geben Sie mir noch einen Henessy, Kellner! Das ist richtig. Vließen hat mit den Wilden gekämpft. Aber, lieber Baron, ließe man mir die Wahl: die Wilden oder diese Gräfin – ich zöge die Wilden vor …«

Inzwischen hatte sich auch Dittmar Dassel von seiner Tischdame verabschiedet. Doch ein bittender Ruf Fräulein Hellas rief ihn nochmals zurück.

»Pardon, Herr Graf,« sagte sie, flüchtig errötend, »mein Vater möchte gern Ihre Bekanntschaft machen …«

Der dicke Nathansohn streckte Dittmar die rechte Tatze entgegen, während er auf der linken seine Kaffeetasse balancierte.

»Freu' mich sehr, mein verehrter Herr Graf – bin ein alter Freund Ihres Vaters … Schon seit Siebzig …« Er schlürfte seinen Kaffee, dabei mit der einen Hand sein Vorhemdchen schützend … »Freu' mich sehr … Höre, daß Sie auch beim ›Morgenblatt‹ – sozusagen mit dabei sind. Wird 'ne gute Sache. Besuchen Sie uns doch mal, Herr Graf! Rennpferde kann ich Ihnen freilich nicht zeigen, aber ein paar hübsche Karossiers hab' ich im Stall.«

Dittmar verbeugte sich.

»Mit Vergnügen, Herr Nathansohn. Ich habe übrigens nicht nur sportliche Interessen, sondern auch künstlerische. Und ich höre, Ihre Fräulein Tochter malt –«

»Sie malt,« bestätigte der dicke Bankier, »ja, sie malt. Aber ich habe schon Schöneres gesehen. Na, Hellachen, ich will dir nicht zu nah' treten – schließlich malst du ja bloß für dich allein. Sie malt nämlich am liebsten alte Weiber, Herr Graf – und das ist nicht mein Genre.«

Er lachte geräuschvoll und gutmütig.

Der Kaffee wurde im Lichthofe des Hotels genommen, der zu diesem Zwecke reserviert worden war. Man stand hier plaudernd in Gruppen bei einander; aber es lag wenig Stimmung über dem Ganzen. Der alte Dassel irrte ruhelos umher, blieb hie und da einmal stehen, mit diesem und jenem ein flüchtiges Wort wechselnd und mit den Augen immer wieder seine Tochter suchend.

Nun zog auch Gerda sich zurück. Sie wollte in einem Zimmer des Hotels Reisekleidung anlegen. Kaum hatte sie sich entfernt, als Bertram Volcker eilfertig seinem Bruder entgegenstürzte.

»Hans, ein Wort im Vertrauen,« sagte er halblaut. »Ich habe dich schon während des ganzen Abends sprechen wollen, fand dich aber nie allein. Weißt du das Neueste?«

»Hoffentlich nichts Unangenehmes –?«

»Wie man's nimmt. Malwine will sich mit Steffens verloben …«

Hans schaute Bertram mit großen Augen an – fast ungläubig, starr vor Staunen. Seine Schwester Malwine war Mitte Dreißig; Steffens ein Angestellter des Hauses, ein guter Arbeiter, ein Künstler in seinem Fach, aber immerhin nur ein Besoldeter der Volckers.

»Bertram, wie ist das möglich?« fragte Hans. »Ist Malwine verrückt geworden? Hat sie der Thorschlußkoller gepackt?«

»Das klingt nicht gerade sehr liebenswürdig. Aber ich gestehe dir zu – ich war auch ein wenig verblüfft, als sie mir heute morgen die Mitteilung machte, Steffens habe um ihre Hand angehalten und sie ihm zugesagt. Nun läßt sich ja gar nicht bestreiten, daß Steffens ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle ist –«

»Hol ihn der Teufel!« fluchte Hans. »Wär' er kein Ehrenmann, so würde er nicht in unserm Geschäft sein. Ich wollte, er wär' ein Schuft, dann könnte aus dieser unsinnigen Heiraterei so wie so nichts werden. Was machen wir, Bertram? Malwine ist natürlich unerschütterlich fest, wie ich sie kenne?«

»Da drüben steht sie und spricht mit dem Papierhändler Kahnblei, weiß aber ganz genau, daß wir in diesem Augenblick über ihr Schicksal verhandeln. Jetzt schaut sie her und nickt …«

Ja – sie nickte freundlich herüber, die ältere Schwester, die auch gern ihr Glück haben wollte. Sie war noch immer begehrenswert mit ihren fünfunddreißig Jahren, der Regelmäßigkeit ihrer etwas harten Züge, mit ihren dunklen Augen und ihrem kohlenschwarzen, gewellten Scheitel. Sie war Lehrerin und wohnte allein; sie wollte nicht die Häuslichkeit ihrer Brüder stören, war auch immer eine Natur von starkem Eigenwillen gewesen.

Hans zuckte mit den Schultern. Er wußte ganz genau, daß Malwine sich niemals dazu überreden lassen würde, Steffens aufzugeben.

»Mag sie thun, was sie will,« sagte er. »Ich gestehe dir unverhohlen, Bertram, daß mir die Geschichte gräßlich ist. Ich kann meiner Schwester nicht mein Haus verbieten, aber in Verkehr trete ich mit den neuen Verwandten nicht. Der Bruder von Steffens ist Destillateur. Na, weißt du, das kann einem nicht gerade angenehm sein, wenn man sich eben mit einer Gräfin Dassel verheiratet hat! … Nee, lieber Bertram, komm mir nicht mit ein paar wohlfeilen Redensarten von allgemeiner Menschenwürde oder so etwas. Solange es gewisse gesellschaftliche Unterschiede gibt, muß man einfach mit ihnen rechnen … Versuch du noch mal dein Heil bei der Malwine! Du hast ihr immer näher gestanden als ich.«

»Es hat gar keinen Zweck, Hans. Aber noch ein andrer Punkt ist zu überlegen. Sie hat hunderttausend Mark aus eigenem Kapital in unser Zeitungsunternehmen eingeschossen –«

»Nun – und?«

»Und Steffens ist ein Feind der Zeitung; das hat er offen erklärt. Wenn er im letzten Moment Schwierigkeiten macht –«

»Ah bah – geschäftliche Verpflichtungen lassen sich nicht im Handumdrehen redressieren! Und Steffens steht bei uns in Lohn und Arbeit –«

»Und bleibt es hoffentlich!«

»Ich würde ihn auch nicht gern verlieren, aber schließlich – jede Kraft ist zu ersetzen … Es ist Zeit, daß ich mich umkleide. Wir drücken uns nachher französisch. Adieu, Bertram; meine Adresse kennst du; benütze sie nur im Notfall – ich möchte meine paar Flittertage gern ungestört verleben.«

»Sei ohne Sorge. Adieu, mein Junge – und nochmals alles Gute auf den Eheweg! Gib aber Dorothee noch die Hand; sie ist so übelnehmisch …«

Dorothee war die Gattin Bertrams: die große, robuste, ausdruckslose Blondine im blauen Seidenkleide, das in der Taille Falten schlug.

Hans willfahrte der Bitte seines Bruders. Dorothee drückte ihm ihrer Gewohnheit nach außerordentlich kräftig die Hand und bat um Ansichtskarten aus Pallanza, Lugano, Como, Bellagio und noch einigen andern Orten.

Malwine stand in der Nähe und allein. Hans konnte nicht unartig sein und mußte auch ihr adieu sagen.

»Nichts weiter als adieu?« fragte Malwine.

»Ah so – ja. Bertram erzählte mir. Ich wünsche dir Glück und Segen, Mally. Daß ich mit deiner Partie nicht einverstanden bin, verhehle ich dir nicht.«

Das schlanke brünette Mädchen nickte.

»Ich wußte es, Hans. Und es thut mir auch leid, weil ich dich lieb habe. Aber jeder ist sich selbst der Nächste. Leb wohl! …«

Graf Vließen stand mit Dittmar an der Brüstung der niedrigen Empore und schaute in den Saalraum hinab.

»Weißt du, das ist eigentlich eine sehr interessante Gesellschaft, Ditt,« sagte er.

»Diese erleuchtete Bemerkung habe ich mir vorhin schon selber gemacht, Etienne. Von einem so bedeutenden Manne, wie du es bist, hätte ich tiefere Weisheit erwartet, nachdem du fünf Minuten stumm brütend in den Schaum deines Pilseners geschaut hast.«

»Ich dachte allerdings nach – und seit zwei Jahren thu' ich das ungern. Eine sehr interessante Gesellschaft – trotz der paar Kronen da unten und dem Nimbus der Regierungsfreundlichkeit im Ensemble außerordentlich demokratisch. So demokratisch wie ein Pferdebahnwagen, in dem sich auch allerhand zusammenfindet. Ditt, mein Knabe, die Decadence unsres Adels macht galoppierende Fortschritte. Ditt, mein Knabe, ich prophezeie dir: binnen Jahresfrist wirst du das niedliche kleine Judenmädel, das man dir vorsorglich zur Tischnachbarin gegeben hat, zum Altare führen.«

Dittmar setzte sein Bierglas auf den nächsten Tisch und sich selbst auf den Stuhl daneben.

»Deine Prophezeiung ist mir so in die Glieder gefahren,« sagte er lachend, »daß ich Platz nehmen muß. Also du glaubst wirklich, man hätte die kleine Nathansohn neben mich gesetzt, um … Laß dich nicht auslachen, Etienne! Die Volckers haben die Tischordnung gemacht – Hans und sein Bruder – sie denken gar nicht daran – ah bah, sei nicht so thöricht!«

»Ich bin nicht thöricht; das hab' ich bewiesen, als ich selbst eine Geldheirat schloß. Lieber Junge, der adlige Name ist heute ein käuflicher Wert. Du bist auf demselben Nullpunkte angelangt, auf dem ich mich vor zwei Jahren befand. Und du wirst gerade so ›handeln‹ wie ich; man kann auch von Schachern sprechen.«

Der Cynismus Vließens ärgerte Dittmar.

»Taxiere, du verkennst mich doch ein wenig, Etienne,« antwortete er. »Daß ich leichtsinnig war, leugne ich nicht. Manche Dummheit reut mich; aber sie durch eine neue wieder wett zu machen, fällt mir nicht ein. Ich werde mich einschränken und – arbeiten.«

Vließen verzog den Mund und strich sich den Bart.

»Recht so, Ditt. Ich höre, du wirst dem ›Morgenblatt‹ deine schätzbare Kraft zuwenden. Das ist der Anfang der Demokratisierung deines Empfindens. Ob das ›Morgenblatt‹ konservative oder liberale Tendenzen vertritt, ist wurscht – die papierene Macht ist unter allen Umständen immer eine demokratische. Die Zusammensetzung dieser Gesellschaft ist bezeichnend. Alles schart sich um das Banner des ›Morgenblatts‹: Hofmann und Krämer, Graf und Jude, alles tritt sich freundschaftlich nahe, verbrüdert und versippt sich sogar – die papierene Macht gleicht Rang und Stand aus, glättet und nivelliert. Ganz gut so. Gut auch für uns. Findest du nicht, Ditt? Daß ein Graf Dassel Redakteur wird, fällt heute gar nicht mehr auf. Früher hätten sich sämtliche Ahnherren unter ihren Steinplatten herumgedreht. Früher standen die Zeitungsschreiber für unsereins auf gleicher Stufe mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher.«

Dittmar wurde der scharfen Antwort überhoben, die er auf der Zunge hatte. Die Gräfin Vließen näherte sich in diesem Augenblicke ihrem Gemahl und sagte, mit ihren müden, rotumränderten Augen Dittmar flüchtig streifend: »Etienne, das junge Paar ist fort; wollen wir nicht auch aufbrechen?«

Vließen erklärte sich sofort bereit. Das Coupé war um zehn Uhr bestellt; es mußte schon draußen stehen. Der Graf begleitete seine Gattin in die Garderobe und half ihr diensteifrig in die Ueberkleider, Mantel, Capuchon und unzählige Tücher und Shawls. Als die beiden vor das Portal des Hotels traten, wurden sie von Ausrufern umschwärmt, die der Portier ärgerlich zurückzutreiben suchte.

»Neue Zeitung! Der ›Volksbote‹!« schrieen die Burschen. »Zwei Pfennig die Nummer!« …

Der Arm des Grafen zuckte, als er seiner Gattin in das Coupé half. Er wandte sich nochmals zurück und ließ sich eine Nummer des neuen Blattes reichen.

»Bezahlen Sie,« sagte er zu dem Portier, ihm ein Geldstück in die Hand drückend.

Der Wagen rollte davon. Vließen drückte auf die Feder, die das elektrische Licht im Coupé entzündete.

»Der ›Volksbote‹, Nina« – die Gräfin hieß Minna, doch Vließen nannte sie Nina –, »das ist das Blatt von dem – von dem Vetter von dir. Du weißt doch –«

Sie nickte schläfrig.

»Ja, ich weiß. Ist es denn wirklich so sehr gemein?«

»Muß mir's erst ansehen, Nina. Der Titel läßt auf alles mögliche Erfreuliche schließen. Ich werde mich darauf abonnieren, damit ich meinen täglichen Aerger habe … Also ›Volksbote‹ heißt es …«

Die Gräfin antwortete nicht. Sie war wieder in Stumpfsinn versunken.

Etienne studierte das Blatt. Aeußerlich machte es sich nicht schlecht. »Probenummer« stand in Fettdruck auf dem oberen Rande. Dann folgte eine flott gezeichnete Kopfvignette; darunter waren die Abonnementsbedingungen und die Inseratenpreise angegeben. Wieder eine Zeile tiefer stand: »Herausgeber Franz Düren – Chefredakteur Doktor Rolo Metzenthien – Verantwortlicher Redakteur Ernst Schuriem – Verlag und Druck von G. Werner & Co. Sämtlich in Berlin.« Dann begann der Text ohne Ansprache an das Publikum, ohne die üblichen Versprechungen und Zusicherungen.

Der Inhalt war nach dem Muster der englischen Pennyblätter gegliedert. Viel Gewicht war auf die Überschriften gelegt. Ein großer Betrugsprozeß erregte zur Zeit Aufsehen. Das Referat über ihn ersetzte den Leitartikel. Da hieß es:

 

Prozeß Gellert-Hansen.

Ein neuer Zeuge.
Ein unerwartetes Zusammentreffen.
Die Hyänen des Kapitals.

 

Dann folgte der Bericht, von gewandter Feder verfaßt, mit geschickter Ausbeutung aller sensationellen Momente. Er war in zahlreiche kleine Kapitel geteilt, deren jedes wieder seine besondere Ueberschrift hatte – wie »Der Staatsanwalt schreitet ein« oder »Ein Qui-pro-quo« oder »Der Wucherer und sein Kind«. Eingestreut waren allerhand Bilderchen in Strichmanier: Porträtköpfe der Angeklagten, Zeugen und Richter, eine Gesamtansicht des Verhandlungssaals, ein paar Gruppen aus dem Zuschauerraum.

Nach denselben Grundsätzen wie dieser forensische Leitartikel war das ganze Blatt redigiert. Der politische Teil bestand aus einigen kurzen, feuilletonistisch gehaltenen Plaudereien: »Der Reichskanzler ist verschnupft« – »Die neuen Freunde der Sozialdemokratie« – »Kein Kreuzer für neue Kreuzer!« – »Crispi in tausend Aengsten«. Zwei Entrefilets waren aus Paris und Rom datiert, enthielten den Vermerk »Von unserm Spezialkorrespondenten« und als Ueberschrift je eine Anzahl Schlagworte, wie: »Die Diamantenmarquise – Cancan im Elysée – Déroulède als Hanswurst – Der Mord in der Rue de Madrid …« In dem Blatte wimmelte es von lockenden Ueberschriften; dabei war aber die Einteilung nicht unübersichtlich. Im Gegenteil: diese unlitterarische Hinweisung auf den Inhalt, die nur die grobe Wirkung des Ganzen erhöhen sollte, erleichterte dem Durchschnittsleser zweifellos die Orientierung. Eine längere Plauderei beschäftigte sich mit den kommunalen Verhältnissen Berlins; eine andre trug den Titel »Aus der Gesellschaft« und brachte allerhand Klatschgeschichten vom Grafen O. und der Baronin von A. und dem Fürsten von J.-K. auf T. – erfundenes Zeug, pikant erzählt, dazwischen aber auch Familiennachrichten, bei denen die Namen voll ausgedruckt waren, wie die Mitteilung von dem »heute stattfindenden Hochzeitsfeste der Komtesse Gerda Dassel und des Verlagsbuchhändlers Hans Volcker …«

Hier schüttelte Graf Vließen zum erstenmal während der Lektüre der Probenummer den Kopf. Eine knappe Schilderung der Entstehungsgeschichte des Hauses E. M. Volcker war beigefügt, ebenso eine genealogische Notiz über die Grafen Dassel. Dann hieß es weiter: »Ein Bruder der Komtesse Gerda war bis vor kurzem der deutschen Gesandtschaft in Tokio attachiert, hat aber den Abschied nehmen müssen, weil seine außerdienstlichen Interessen sich nicht ganz mit seinen beruflichen vertragen wollten. Man sagt, daß dies bei Gelegenheit eines Kegelabends im deutschen Klub zu Tokio dem jungen Grafen unumstößlich klar geworden sei. Und da ging er denn lieber …«

»Juxblatt,« murmelte Vließen, aber er las doch weiter. Die lokale Chronik nahm einen breiten Raum ein, ebenso das Vermischte: eine Zusammenstellung von Unglücksfällen, Verbrechen und Klatsch aus aller Herren Länder, eine bunte, aber wiederum sehr geschickt aneinandergereihte Auslese aus fremden Zeitungen. Auch die Wissenschaft kam zu ihrem Recht: ein Artikel behandelte in populärer Form die ethnographischen Verhältnisse in Togoland. Der Parlamentsbericht wurde in gedrängter Kürze gegeben: es war gleichfalls nur eine Plauderei, schnoddrig erzählt, mit boshaften Bemerkungen versehen – eine politische Witzelei. Der Roman betitelte sich: »Bankerott mit zwölf Millionen. Originalroman aus der Berliner Gesellschaft unsrer Tage von Eugen Tristan von Werdenfels« und begann mit dem Kapitel »Der Ueberfall in der Neujahrsnacht«. Im »Briefkasten« gewährten ein »eigens angestellter Arzt« und ein »eigens angestellter juristischer Beistand« unentgeltlich Rat und Hilfe.

»Juxblatt,« murmelte Vließen, aber er las doch weiter. Zwischen den einzelnen Abschnitten befanden sich, durch dicke Randlinien besonders hervorgehoben und fett gedruckt, Ankündigungen der »Administration«. So hieß es unter anderm: »Wer zehn zahlende Jahresabonnenten bringt, erhält ein Jahresabonnement umsonst.« An andrer Stelle: »Man beachte die Preisrätsel auf Seite 6!« Und weiter: »Zur Weihnachtszeit werden an die Abonnenten besondere Prämien verteilt!« – Solche Lockrufe, die das Blatt auf das niedrigste journalistische Niveau herabdrückten, waren über alle Seiten verstreut und mußten dem Lesenden sofort in die Augen springen.

Vließen zerknitterte die Zeitung und ließ sie auf den Boden des Coupés fallen. »Juxblatt,« murmelte er abermals. Es war lächerlich. Eine Stadt wie Berlin stand geistig viel zu hoch für eine so miserable Presse. Dieser »Volksbote« mußte ebenso rasch wieder verschwinden, wie er gekommen war. Er war nicht zu fürchten; kein anständiger Mensch würde ihn lesen.

»Ist das Blatt wirklich so sehr gemein?« fragte die Gräfin von neuem mit ihrer schläfrigen Stimme.

»Es ist jedenfalls nicht viel wert, liebe Nina. Aber du kannst dich beruhigen: dein Vetter wird sich das Vergnügen nicht allzu lange gönnen. Auch die Kreise, an die sich der ›Volksbote‹ wenden will, sind nicht idiotisch genug für eine derartig narrenhäuslerische Lektüre. Ich garantiere dir, daß binnen sechs Monaten nichts mehr vom ›Volksboten‹ übrig geblieben ist.«

»Das wär' ja recht gut,« erwiderte die Gräfin. »Gehst du noch aus, Etienne?«

Der Wagen hielt vor einem eleganten Hause in der Voßstraße. Der begleitende Diener war vom Bock gesprungen und riß den Schlag auf. Vließen stieg aus und half seiner Gattin.

»Noch auf ein Stündchen, Nina,« sagte er. »Ich hab' mich mit Schwerin im Klub verabredet.«

»Gott, wieder die Pferde!«

»Diesmal die Jagd, mein Kind. Nebenbei auch die Politik. Schlaf gründlich aus – du scheinst mir ein wenig angegriffen. Au revoir, chérie.«

Er hatte sie bis an das Portal gebracht und küßte ihr hier, sich verabschiedend, die Hand.

»Ausspannen!« rief er dem Kutscher zu. »Ich gehe zu Fuß.«

Er steckte sich eine neue Cigarre an und schritt der Wilhelmstraße zu. Plötzlich fiel ihm ein, daß er noch seine Orden trug. Er blieb stehen, knöpfte den Paletot auf, hakte die kleine Kette mit den Miniaturdekorationen von der Frackklappe und steckte sie in die Tasche seines Ueberrocks. Dann ging er weiter, den Rauch seiner Cigarre in wirbelnden Linien zwischen den Lippen hervorstoßend.


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