Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Wie er es vorausgesagt hatte, nahm Arnold Zurbriggen, der Bergführer, in der nächsten Woche in Gedanken Seil und Beil und stieg den Weg in den Himmel hinauf. Anschi fand ihn in der Dämmerstunde tot in seinem Stuhl.

Als er begraben war, trafen Anschi, Donat und Anna in der Wohnstube zusammen. Noch stand dort der Stuhl, in dem er so lange gesessen. Noch hing am Wandnagel seine Führerausrüstung.

Die Geschwister hatten auf dem Heimweg vom Friedhof von ihm gehandelt, ihn gerühmt, ihm, ein jedes nach seiner Art, nachgetrauert. Jetzt in der Stube fehlte er ihnen mehr noch als vorher. Aber Anschi, die den Haushalt so lange schon geleitet, übernahm das Regiment, das im eigentlichen doch bis zuletzt in der Hand des Vaters gelegen. Sie schickte die schlanke Anna in die Küche, Feuer anzünden.

Donat sah Mutter und Tochter einen Augenblick beisammenstehen. Ihr Haar, bei beiden gleich hell, gleich blond, stach von ihren schwarzen Trauerkleidern ab. Sie waren beinahe gleich groß. Ihre Ähnlichkeit war zum Staunen.

Als Anna gegangen war, sagte Anschi: »Jetzt müssen wir es allein machen, miteinander, wir drei. Die Hauptsache wird sein, daß wir einander immer in die Augen sehen dürfen.«

Donat nickte nur. Er stimmte zu. Aber ein wenig bedeutete das Nicken auch ein Neigen. Er empfand einen seltsamen Respekt vor der Schwester. Und nachher, im Hinausgehen, strich er ihr mit der Hand über den Rücken. Das war so gut wie ein Wort: Wenn du da bist, wird es schon recht gehen! –

Im darauffolgenden Sommer lief Donat Zurbriggens Name durch alle Zeitungen. Aus einem Nachbartal ragte der Schwarzwetterstein auf, ein Granitzahn von so schroffer, menschenverachtender Steilheit, daß noch niemand ihn erklettert hatte. Der alte Zurbriggen hatte zu sagen gepflegt: »An den Schwarzwetterturm geht nur ein Narr oder Selbstmörder.« Dieser Narr stieg aber in diesem Sommer im Hotel Ewigschneehorn ab, ein Engländer von mittleren Jahren, der in allen Erdteilen Berge erklettert hatte und mit launenhafter Beharrlichkeit nach denen suchte, die noch kein Fuß bezwungen. Und er setzte sich in den Kopf, auch den Schwarzwetterstein zu besiegen.

Allmendinger schickte zu Donat: »Sag ihm nein, dem Irrenhäusler. Wenn er es dir nicht glaubt, glaubt er es keinem.«

Donat aber befolgte den Rat nicht. Ihn packte der Ehrgeiz, der Hunger, der ihm von Kindsbeinen an zu schaffen gemacht. Er machte ihn jetzt ebenso lüstern nach dem trotzigen Berg wie den Fremden.

Als Anschi und Anna erfuhren, wessen er sich unterfangen wollte, schrie das Mädchen auf: »Jesses. Du wirst doch das nicht tun!« Anschi aber machte beklommene Augen und sagte: »Versuche nicht wieder den Herrgott.«

Dem zähen Donat zitterte der Körper vor Eifer und Trotz. »Ich muß«, erwiderte er und brach am selben Abend mit dem Fremden auf.

Anschi drückte ihm zum Abschied die Hand und hielt den andern Arm um die schluchzende Anna gelegt.

Donat nahm die Erinnerung an die beiden mit sich auf den Weg. Keinen Augenblick dachte er, daß er nicht wiederkommen könnte. Die warteten doch auf ihn, die Anschi und Anna, das Kind! Das war wie ein Zwang, wieder heimzukehren! –

Am folgenden Tag hingen die zwei Männer in den Felsen des Wettersteins. Rings um sie war blaue, heiße Luft. Der Himmel hatte keine Wolke. Stunden und Stunden kletterten sie schon an der schwarzgrauen Wand. Einer schob den andern, einer zog den andern. Immer wieder gelangten sie eine Steinstufe höher, während der Fuß eine Stütze und die Hand einen Griff fand. Der Schweiß rann ihnen in Bächen von der Stirn. Die Tropfen perlten ins Nichts. Hinter ihnen gähnte der Abgrund.

»Goddam«, keuchte der Engländer und schaute sich nach den Möglichkeiten des Rückwegs um.

Sie hatten Eisengriffe eingeschlagen, Seilschlingen befestigt. Sie verbissen sich so in den Kampf, daß sie nicht achteten, wie der Abend kam.

Schon stand die Sonne tief im Westen, als sie ein Grasband unter überhängendem Fels erklommen.

»Es geht nicht«, verzweifelte der Fremde.

»Heute nicht mehr«, antwortete Donat, und in der Stirn war eine Falte, als habe ihm einer mit der Beilschneide hineingeschlagen.

Sie nächtigten auf dem Grasband, an einem Eisenkeil festgebunden.

Als die Sterne verblaßten, und man wieder zu sehen begann, erklärte der Engländer, er gebe es auf.

»Ich muß«, sagte Donat.

»Geht! Ich warte«, antwortete der Fremde lakonisch.

Donat begann aufs neue die Kletterarbeit. Sein Mund sah aus wie ein scharfer Messerschnitt, so schmal preßte er die Lippen zusammen.

Der rauhe, graue Fels schien manchmal zu zucken, so wühlte der Mensch sich an ihm empor. Er klebte. Er schob sich. Er klomm. Aus lauter Sehnen schien er gebaut.

Noch ehe der Tag seine Mittagfeuer sprühen ließ, stand er auf dem Gipfel.

Der Gipfel maß ein halbes Dutzend Meter im Geviert, aber die kleine Platte war flach, und von ihr aus sah man in unendliche Schneefelder, in alle Wunder der silbernen Gletscher und alle Tiefen des ewigen Blaus. Wind wehte, gerade genug, daß er die Stirn kühlte und um Schläfen strich, hinter deren Wand das Hämmern der Adern langsam still wurde.

Tief unten lagen die Täler, hellgrüne, lachende Matten und Wälder, die zu atmen und gleich dunklen Fahnen nach der Höhe zu wehen schienen.

Donat Zurbriggen stand einsam. Den Pickel hing er an den Gurt. Etwas wollte ihm die Arme in die Höhe reißen, daß er sie dieser Wucht von Einsamkeit, die um ihn war, entgegenbreite. Aber sie blieben ruhig an seiner Seite haften. Nur im Innern wuchtete der Drang, halb Jubel, halb Andacht, und das Bewußtsein: Nun stehst du hoch über allem, was Erde heißt! Und das andere Bewußtsein: Morgen! Übermorgen! An vielen Tagen noch wirst du den Weg hinauf nach den Gipfeln tun! Indessen werden sie warten, die Anschi, die Frau des Gallus, und Anna, das Kind.

Donat Zurbriggen schrie auf. Er rief hinaus in die weite, blaue Leere. Es war kein Wort, kein Name, nur irgendein Schrei, wie die aus gesprengter Enge der Brust aufjauchzende Freude ihn ins Unendliche wirft.

Dann begann er den schwierigen Abstieg. –

Und dann eben lief sein Name durch die Zeitungen.

Es war lange nicht das letztemal.

Anschi sagte: »Gallus war ein guter Gänger. Aber du bist einer, wie man ihn nicht begreift.« Und das schöne Gesicht wurde ihr heiß. Sie sah Anna an, die, hoch aufgeschossen, wie Fünfzehnjährige oft sind, stand und mit den blauen Augen blinkte.

Sie warten beide. Wie Donat es weiß: immer warten sie auf ihn. Und so hoch er jeweilen gestiegen, und so weit ihm die Brust geworden sein mag, vielleicht ist ihm der Gipfel aller Gipfel der Heimweg zu ihnen.

 


 << zurück