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Zehntes Kapitel

Über das Tal von Aufdenmatten kamen Herbst und Winter. Das war ein merkwürdiger Vorgang. Er begann mit einem Stillwerden der Straßen. Die Einheimischen, die sie bevölkerten, was besagten die noch, nun auch die letzten fremden Wanderer fehlten? Ein Hirt trieb sein Vieh ein, ein Heuer trug seine Ernte auf dem Buckel nach dem Gaden am Hang. Am Sonntag liefen ein paar Dutzend Leute zur Kirche. Aber das alles zählte nicht mehr zwischen dem gewaltigen Wall der Berge, an dem gemessen Menschen Punkte sind.

Herbststürme warfen ein dünnes weißes Flockennetz über die Wälder und Alpen. Bald aber wurde das zum schweren gleißenden Mantel, der lastend tiefer und tiefer zu Tal rollte. In der Höhe zog kein Jäger mehr, keine Pferdekarawane klomm nach den Klubhütten, kein Bergführer stand mehr mit Pickel und Seil marschbereit. Einem Gasthof um dem andern fielen die Lider der Holzladen über die leeren Fensteraugen. Bald standen sie da wie riesige verschlafene Tiere, die jeden Augenblick bereit schienen, sich zu Boden zu legen. Auch der Lärm wich aus dem Hochtal, den der kleine Alltag der Menschen macht. Selbst die grollende Stimme der wilden Senne erstarb zu einem heimlichen Murmeln und Flüstern und Rieseln, und jeden Morgen umgürteten neue Eiskrusten die Steine ihres Bettes. Schweigend und schläfrig schleppten sich die Tage durchs Tal. Dann brachen neue Stürme herein und peitschten Regenschwaden durch die Straßen, die bald in Schneegestöber übergingen. Diese Stürme fielen in die Wälder und wühlten sie auf, daß die einzelnen Tannen sich bogen und knarrten und krachten und gleich einem verzweifelnden Volke mit langen schwarzen Armen zum Himmel zu jammern schienen.

Die von Aufdenmatten saßen in den Häusern, auf den Ofenbänken, an den Herdfeuern. An den Nähtisch, das Nudelbrett und den Waschtrog stellten und setzten sich die Frauen. Die Männer rauchten ihre Pfeifen.

Auch der Zurbriggen-Arnold hatte seinen Sitz jetzt im Ohrenstuhl; seine Krücken lehnten neben ihm. Zuweilen schaute die Anschi nach ihm, aber er war immer ein großer Schweiger gewesen, und die im Einschlafen begriffene Natur machte ihn noch wortkarger. Anschi saß häufig in ihrer Dachkammer. Von ihr übersah man das Tal besser als von der Wohnstube aus. Und die Anschi saß am Fenster und staunte hinaus. Nicht um viel zu sehen. Ohne daß sie es merkte, schaute sie mehr in sich selbst hinab als in die graue Weite. Sie gehörte nun schon eine Weile zu den mannbaren Mädchen des Dorfes. Und sie hatte oft kleine Sehnsüchte in sich und Unruhen, über die sie sich wunderte und die sie trieben, allein zu sein. Ihre Arme und Brüste rundeten sich. Ihr scheiniges Haar gewann mit der wachsenden Reife des Körpers noch an Schönheit. Es geschah selbst dem weiberfernen Zurbriggen, daß er manchmal beim Anblick der Tochter die Augen aufriß und sich wunderte, wie er zu diesem heilighellen Nachkommen kam. Einmal, die Zeitung in Händen, scherzte er: »Da ist eine Schönheitskonkurrenz ausgeschrieben. Ich meine, ich will dich auch hinschicken.«

»Wollte auch, daß ich müßte«, zürnte Anschi. »Ich bin kein Tier, das man ausstellt.«

Aber Zurbriggen lachte ruhig. »Man könnte es nicht jeder sagen. Aber manchmal freut man sich halt, daß man ein solches Kind im Haus hat.«

Diese Freude wuchs mehr und mehr in seinem Herzen. In seinen überlangen Mußestunden verglich er die Tochter auch wieder mit der Mutter, die oft so ungattig und immer wenig ansehnlich gewesen. Dabei wunderte er sich immer neu, was für Kinder sie ihm hinterlassen; denn auch der ferne Donat schlug irgendwie aus der Art.

Von diesem Donat kam eines Morgens wieder einmal eine Karte. Sie lag noch drüben auf dem Tisch, und an sie anknüpfend, sagte Zurbriggen zu der soeben ins Zimmer tretenden Anschi: »Nach England fährt er also, der Donat, hast gelesen?«

Anschi blickte sonderbar ernst und nachdenklich darein. Die Karte war schuld, daß sie eben eine reichliche halbe Stunde an ihrem Grübelfenster oben gestanden. Sie hing an dem fernen Bruder. Wenn sie auch nicht allzu häufig mehr an ihn dachte, so hatte er doch einen Platz in ihrem Herzen und fühlte sie hie und da eine schmerzliche Leere, weil er scheinbar nie wiederzukehren die Absicht hatte.

»Man liest, wohin er geht«, antwortete sie jetzt dem Vater. »Aber wie es mit ihm und in ihm ist, erfährt man nie. Er wird einem immer fremder.«

Zurbriggen stocherte in der Pfeife. Ihm ging die Sache nicht so nahe. Der Sohn suchte seine eigenen Wege. So mochte er mit dem Leben fertig werden wie er wollte! Er verstand seinen Wandertrieb so wenig, wie er das Verlangen der Mutter nach Besserhaben verstanden hatte.

In diesem Augenblick ging die Haustür. Jemand stampfte draußen den frischgefallenen Schnee von den Schuhen. Das unterbrach das Gespräch.

»Schon wieder«, knurrte Zurbriggen.

Anschi tat, als kümmere sie das Geräusch im Flur nicht. Aber einen Augenblick später entwischte sie.

Draußen wartete Gallus Stettler auf sie. Er streckte ihr die Hand hin. Vielleicht, damit der Vater es nicht höre, sprachen sie nicht. Aber ein wenig verlegen war Gallus. Irgendwie sah er die Notwendigkeit ein, dem alten Zurbriggen zu erklären, warum er bald keinen Tag mehr verstreichen ließ, ohne daß er auf Besuch kam.

Anschi stieg die Treppe zu ihrer Kammer hinauf, schon gewohnt, daß Gallus ihr folgte. Seit er einmal, als sie über einer Näharbeit oben gesessen, von Zurbriggen geschickt, sie heruntergeholt hatte, war dieser Weg ihm ein selbstverständlicher geworden. Niemand, auch der Alte nicht, sah am Ungewöhnlichen etwas Besonderes. Die beiden waren sonst keine Heimlichtuer. Wie gute Kameraden verkehrten sie miteinander. Sie brauchten keinen Hüter.

Das bedachte auch Zurbriggen, während er Stettler der Anschi in den oberen Stock folgen hörte. Er sog aber bald heftiger an seiner Pfeife und grub mit seinen Gedanken den beiden nach. Daß sie einander gern mochten, sah jedes Kind. Was aber daraus werden sollte, erriet selbst ein alter Mann nicht leicht. Nicht, daß die Anschi nicht zum Gallus gepaßt hätte! Sie hatte nichts von der Mutter, die sich bei ihrem Mann, dem Bergführer, als eine Gefangene vorgekommen; aber wie seiner Frau Elise Lebensansichten seinem Beruf widersprochen hatten, so schien Anschi bei aller Freude an dem Mann Gallus eine seltsame Abneigung gegen sein Handwerk zu haben. Seit Gallus in ihr Leben getreten, fürchtete Anschi die Berge. Wenn er auf einer Besteigung aus war, lief sie des Tages hundertmal von Stube zu Stube, von Fenster zu Fenster, hinaus ins Freie und wieder hinauf unters Dach. Und mit dem Fernrohr suchte sie den Berg ab, auf dem sie Gallus wußte. Sie klagte nicht, aber ihr bleiches Gesicht verriet ihre Unruhe. Die war freilich nicht ganz ungerechtfertigt. Der Weg zu den Gipfeln bedeutete oft einen wilden und einen ungleichen Kampf. Wie von den Fliegern, die jetzt bald in jeder Wolke zu finden waren, ein jeder einmal zu Boden sauste und sein Leben verlor, so starben auch von den Führern nicht viele im Bette. So war es eine heikle Sache ums Heiraten! Zudem waren die Zeiten schlecht, der Verdienst des Gallus klein und sein sonstiges Gut mit drei Fingern zu zählen!

Immer tiefer grub Zurbriggen sich in die Angelegenheiten des Gallus hinein. Dabei erlebte er eigentlich zum erstenmal selbst Gefahren und Schwierigkeiten, die er einst gedankenlos überwunden. Wieder ging er Wege, die ihm in seiner Lahmheit für immer verschlossen waren, und kam erst jetzt zum eigentlichen Bewußtsein seines Berufes. Ein nie vorher empfundenes Übelkeitsgefühl, eine leise, sonderbare Angst kränkelte ihn nachträglich an. Und sie löste der aus Liebe und Leidenschaft geborene Haß gegen die Machtsprotzen, die Berge, wieder ab, mit dem er einst selbst gegen sie angekämpft und sie bezwungen hatte, bis sie ihn zum Krüppel geschlagen. Er nahm jetzt die Partei des Gallus, und Anschis Unrast nachempfindend ging er mit ihm wohlbekannte Wege, überstieg tückische Spalten, vermied den Schneebruch und das kranke Gestein, an dem Hand und Fuß nicht Halt fanden. Paß auf, schrie er dem Gallus zu, und den Berg fluchte er an: Verdammter hinterhältiger Teufel!

Die zwei, die inzwischen Anschis Kammer betreten hatten, ahnten nicht, wie der Alte unten sich um sie mühte. Anschi hatte sich an ihrem Nähtisch am Fenster niedergelassen, und Gallus war an der Tür stehengeblieben. Das war alles, wie es immer war. Und wie jeden Tag wartete Anschi, daß Gallus zuerst sprechen werde. Der zog den Oberkörper ein wenig in die Höhe, als ob ihm in seinem schweren winterlichen Schafwollgewand heiß sei.

»Eigentlich fange ich an mich zu schämen«, gestand er dann.

Anschi zeigte ihm ihr helles Gesicht. »Weil du jeden Tag kommst«, erriet sie lachend.

»Vielleicht würde dein Vater mich lieber zum Teufel jagen«, meinte er bedrückt.

»Das würde er nicht«, antwortete sie, »er hat dich immer gern gemocht.«

»Aber was kommt dabei heraus?« unkte er weiter.

»Willst du dir die Beine in den Leib stehen?« fragte Anschi.

Da nahm er, wiederum wie jeden Tag, den zweiten Stuhl, der in der Kammer stand, und ließ sich in Anschis Nähe nieder.

»Ich kann dich ja doch nicht heiraten«, platzte er dann heraus.

Es war, wie wenn ein Straßenstein plötzlich in eine Milchschüssel plumpst. Sie hatten nie von Liebe gesprochen. Sie wußten, daß eines dem andern gut war. Es war nicht schwer zu erraten bei des Gallus täglichen Besuchen und der Tatsache, daß sie nicht mehr Zurbriggen, sondern Anschi galten, wie bei der andern Erscheinung, daß Anschi diese Besuche mit einem sonderbar frohen Ausdruck im Gesicht zu empfangen pflegte. Aber die Feststellung, die Gallus jetzt machte, fiel doch in eine Zeit und ein Wesen noch völliger Unvorbereitung.

Anschi war ein wenig zurückgezuckt. »Muß man denn immer an eine Heirat denken?« fragte sie dann.

Gallus schwieg. Er hatte so viel auf dem Herzen, daß er nicht wußte, mit was er beginnen sollte.

»Kann man nicht auch einfach gute Kameradschaft halten?« fragte Anschi weiter.

Aber sie saßen etwas nahe beieinander. Es war nicht leicht, des Gallus suchenden Augen auszuweichen oder den Blick wieder aus ihnen zu lösen, wenn sie ihn erwischten.

»Vielleicht sollte ich fortgehen. Vielleicht fände man im Tal eine Beschäftigung und ein Auskommen«, meinte Gallus immer gleich bedrückt.

Aber Anschi fiel rasch ein: »Du kannst doch ohne Berge nicht sein.«

»Du kennst mich«, murmelte er, und dabei legte er den Oberkörper noch schwerer auf die auf die Knie gestützten Arme. »Mit der Kameradschaft geht es auf die Dauer nicht«, breitete er seine Gedanken vor ihr aus. »Es bleibt da immer noch etwas zu wünschen, und die Wünsche kommen, man mag wollen oder nicht – –«

Er stockte. Dann quälte er sich weiter um eine Lösung. »Wenn wieder andere Zeiten und mehr Verdienst kämen, könnte ich wohl etwas beiseite legen.«

Sie saßen jetzt so dicht beieinander, daß seine gefalteten Hände beinahe ihre Knie berührten.

Anschi verstand alles, was er gesagt und nicht gesagt hatte. Sie wußte Bescheid um ihn und sich selbst. Als er nun schwieg und eine beklemmende Stille eintrat, war ihr erst recht, als springe zwischen ihr und ihm eine Tür auf. Sie spürte, daß er die beiden Hände, die da dicht vor ihr die Finger ineinanderdrückten, am liebsten um ihre Arme klammern würde. Und sie selbst drängte etwas ihm entgegen. Es lockte sie, sich ihm anzuschmiegen. Sie wartete auf seine Hände. Aber über alldem, was heimlich in ihr lebte, blieb ihr der Kopf klar, und sie antwortete ihm jetzt mit einer freien und sicheren Stimme: »Die Zeit meint es nicht gut mit uns. Aber man muß sie nehmen, wie sie ist. Ich will mit dem Vater reden. Vielleicht gibt es doch einen Weg.«

Er fuhr errötend zurück: »Ich möchte nicht um Gottes willen gelitten sein«.

Sie freute sich an seinem Stolz. Und sie meinte, mit seiner Hilfe alle Hindernisse beiseite schieben zu können. »Wo zwei essen, wird auch noch ein dritter satt werden können«, antwortete sie, und in Gedanken schon die Zukunft aufbauend, fuhr sie fort: »Wenn du zugreifst, wo es etwas zu verdienen gibt, werden wir es schon machen können.«

Er erhob sich, ganz überwältigt von der Art, wie sie ihn verstand, ihm Hilfe lieh und ihm seine Wünsche gleichsam vom Gesicht ablas. »Anschi«, sagte er mit erregter Stimme und streckte ihr wirklich die Hände entgegen.

Sie bog sich ein wenig zurück, ohne seine Hände zu nehmen. »Wir wollen uns die Sache nicht schwerer machen, als es sein muß«, sagte sie, etwas Dunkles, Strenges im Blick. »Wir werden nachher froh sein, wenn wir uns gehalten haben.« Dann stand auch sie auf.

Er hatte Mühe, nicht auszubrechen, nicht irgendein Wort, aus Bewunderung und Freude gemischt, herauszustoßen: Du Prachtsfrau, du!

Anschi legte gelassen ihre Arbeit zusammen. Die Erkenntnis, wie wohl sie einander verstanden, erheiterte auch sie. Und sie bot jetzt Gallus die Hand: »Wir könnten doch gleich jetzt zum Vater gehen«, schlug sie vor.

Er nahm die Hand, und mit leicht ineinandergelegten Fingern verließen sie die Stube und stiegen zu Zurbriggen hinunter. Es war, als schritten sie in der Kühle des hohen Gebirgs, in freier, frischer Luft, irgendwie beglückt, in den Gliedern eine Leichtigkeit, als wäre das Leben ein Spazierweg.

Als sie über die Schwelle der Wohnstube traten, hatte Zurbriggen noch nicht aufgehört, sich in Gedanken mit vielem herumzuzanken, was auf sie Bezug hatte. Ihr Eintritt machte ihn unwirsch. Er hatte das unwillkürliche Gefühl, daß er nun zu einer bestimmten Stellungnahme gedrängt werden sollte. Der Rauch seiner Pfeife wurde dicker, verdrießlicher.

Anschi ließ Stettlers Hand los, machte einen Bogen um den Tisch und rückte einen Stuhl zu dem des Vaters. »Jetzt gibt es etwas zu beichten«, begann sie.

Gallus blieb hinter ihr stehen.

Zurbriggen nahm die Pfeife aus dem Mund und wartete.

»Es gibt eine Brautschaft«, gestand Anschi.

»Da kann man nichts machen«, lachte Zurbriggen kurz auf. »Deswegen wird niemand in Aufdenmatten auf den Rücken fallen.«

»Wir müssen heiraten«, fuhr Anschi weiter. »Weil wir nicht warten wollen, bis wir können.« Dann begann sie auseinanderzusetzen, sie habe sich alles überdacht: Wenn Gallus seine Kammer aufgebe und mit ihnen gemeinsamen Haushalt führe, sei das schon Ersparnis. Was er verdiene –

»Was verdient jetzt einer schon hier oben«, fuhr Zurbriggen zweifelnd dazwischen.

»Die Gemeinde bereitet einen großen Holzschlag vor. Es wird diesen Herbst und Winter schon Arbeit geben«, ließ sich Gallus vernehmen.

Anschi eiferte: »Ein Esser mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an. Wenn wir Donats Bett in meine Kammer stellen – das alles kostet nichts, Vater.«

»Bis Kinder kommen«, wehrte der Alte trocken ab.

»Mit den Sorgen wächst der Wille, darüber hinwegzukommen«, wendete Gallus tapfer ein.

Zurbriggen schaute in die Pfeife, als zähle er die Tabakblätter darin. Aber heimlich war ihm, als wehe ihn ein Heiterwind an. Man konnte nichts gegen die beiden haben, konnte sich nicht ärgern, mußte sich freuen an ihrem Willen, sich durchs Leben zu schlagen. Da sprang ihn noch einmal die Erinnerung an den Beruf des Gallus an. Ganz wild machte ihn der Gedanke. »Du gehst im Sommer mit Fremden«, stellte er Gallus vor, als hätte er nicht einst das gleiche getan. »Du hättest die Anschi sehen sollen, wenn du jeweilen unterwegs warst. Nirgends hatte sie Ruhe, bis du wieder heimkamst. Wenn du erst ein Vater bist – –«

Die Anschi überrann es siedeheiß. Der Vater rührte an Dingen ihres Innersten. Sie erschrak, daß sie selbst sie einen Augenblick vergessen hatte. Es litt sie nicht auf ihrem Stuhl. Die Augen weit vor Beklommenheit stand sie vor Gallus.

»Er wird daran denken«, sprach sie erregt, »er wird keine Führungen mehr annehmen, die ein Gottversuchen bedeuten.«

Nun erschrak auch Gallus, er wußte nicht, ob vor Anschi oder vor sich selber. »Natürlich denkt man daran«, versicherte er dann.

Zurbriggen wiegte ungläubig den Kopf. Dafür war er ein Beispiel! – Zogen die Berge nicht immer noch seine Gedanken an, daß er seine Krücken vergaß und gleichsam im Traum noch an ihnen herumkletterte? Würde es dem Gallus anders gehen?

Vor Gallus stand Anschi immer noch. »Frau und Kind müssen das Erste sein«, stieß sie heraus. Ihre Augen glänzten von verhaltenen Tränen und einer Leidenschaft, deren man die Kühle nicht fähig gehalten hätte.

Gallus hatte sie nie so fassungslos gesehen. Er streckte die Arme nach ihr aus. Ihre Lippen begegneten einander. Und noch im Sturm dieses ersten Kusses drängte Anschi: »Redet doch, Vater! Es muß doch so gehen mit uns beiden.«

Zurbriggen, aufgerüttelt, sah sie an. »Ich?« fragte er noch benommen. Dann, langsamer, mit halber Stimme und halber Zustimmung fügte er hinzu: »Gehen wird es schon. Ihr müßt das ja auch alles selber haben und selber wissen.«

Da zog Anschi den Gallus wieder an den Tisch. Dort ließen sie sich nieder. Und dort begannen sie von dem weiterzusprechen, was nun werden sollte. Je klarer sie dabei über die Zukunft wurden, um so bewegter klangen ihre Stimmen. Aber die Zärtlichkeit, die gleich kleinen Stichflammen aus ihren Worten züngelte, münzte sich in keine Liebkosung mehr um. Still und fast ein wenig steif saßen sie nebeneinander.

Zurbriggen blieb ein verwunderter Zuschauer. Er hatte nie über Menschen nachgedacht, aber an diesen zweien staunte er herum und dachte: Wenn die Welt viel so gesundes, braves Manns- und Weibsvolk hätte, das müßte guten Nachwuchs geben!


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