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Fünfzehntes Kapitel

Der wirre, pflichtenbelastete Tag ging zu Ende. Die Nachtablösung brachte Donat Ruhe. Wie ein aus einem Wellensturm sich Rettender, verließ er die Kontorräume und eilte über die Treppen hinauf in sein hübsches, wohnlich eingerichtetes Zimmer. Dumpf nur noch drang der Trubel der Säle und Eintrittshallen zu ihm hinauf. Den ganzen Tag hatte er den Brief Allmendingers in seiner Brusttasche herumgetragen. Er hatte ihn gebrannt. Mehr als einmal hatte ihm die Hand danach gezuckt, aber er hatte nicht mehr Muße gefunden, ihn wieder zu lesen. Jetzt ließ er sich ein wenig atemlos auf dem kleinen Ruhebett nieder, vor dem ein Tisch stand. Dann zog er den Brief wieder hervor. Und nun fühlte er sich plötzlich allein mit diesem Briefe und dem neuen Wege, den er ihm auftat, fühlte sich der Gegenwart und seiner ganzen jetzigen Umgebung entrückt. Schon war ihm, als habe er den Weg heim ins Gebirg bereits angetreten. Schon hatte er in Gedanken Allmendingers Angebot angenommen. Alles Kommende erschien ihm klar, einfach, zum Greifen nahe, als läge seinen künftigen Pflichten und Handlungen ein fertiger, in alle Einzelheiten festgelegter Plan zugrunde. Die Heimat, das Land des Fremdenverkehrs, befand sich in einer schweren Krise. Das Tal von Aufdenmatten hatte sie längst zu spüren bekommen. Vielleicht waren dort wie anderswo alte Sicherheiten ins Wanken gekommen. Vielleicht stand selbst der schwerreiche Großwirt Allmendinger nicht mehr so fest wie einst! War das nicht die Zeit, da Unternehmungsgeist und Entschlossenheit zu neuer Wertung kamen? War nicht vielleicht seine, Donats, Zeit gekommen? Sein Ehrgeiz flackerte heller auf denn je. Schon schmiedete er Pläne. Schon warf seine Phantasie Möglichkeiten hoch in die Wolken. Dieses Aufdenmatten zählte zu den Weltwundern. In seiner landschaftlichen Schönheit lag ein unzerstörbares Kapital. Es galt nur, sie der Welt wieder ins rechte Blickfeld zu rücken. Der Mann mußte kommen, der selbst in dieser Zeit der Not aus den Vorzügen Aufdenmattens Gewinn zu ziehen verstand. Und konnte nicht er der Mann sein?

Die junge Tatkraft, die Donat einst in die Fremde getrieben, loderte höher auf denn je. Adern und Gehirn waren von ihrem Feuer wie durchloht. Er vergaß, daß er im Grunde noch ein kleiner Angestellter war. Nichts schien ihm zu schwer, keine Hindernisse unübersteigbar. Der Ehrgeiz, in der Welt etwas zu gelten, riß an ihm. Wohl vergaß er auch jetzt nicht, daß in der Kette seiner Berechnungen gerade dort, wo sie am festesten hätte sein sollen, ein sprödes, brüchiges Glied war. Der Antrag Allmendinger enthielt die Geldforderung. Aber dieses Geld – –

Donat grübelte. Seine Finger krampften sich ineinander. Dieses Geld lag in seinem Koffer, dachte er dann wieder und wieder, und in seinen verkrampften Fingern zerdrückte er allmählich gleichsam die harte Nuß seiner Gewissenszweifel. Dann sah er auch da den glatten Weg, auf dem es ein Verirren nicht mehr geben konnte. Er würde eben heimreisen, die Bankguthaben Beaudriers unterwegs erheben, von Allmendinger die nötigen Garantien fordern und ihm dann gleich den ganzen Betrag auf den Tisch zählen. War da noch irgendein Unrecht dabei? Nein doch, sein Vorgehen bedeutete nur eine Veränderung, nicht eine Gefährdung der Geldanlage! Er, Donat, würde schon dafür sorgen, daß die Summe gesichert blieb!

Donats Sinn wurde leichter und freier. Aber sein Sitz auf dem Sofa hinter dem Tisch beengte ihn. Eng schien ihm die Stube. Eng sogar das mächtige Haus, die mächtigere Stadt. Dennoch zwang er sich, stillzusitzen. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß er in seiner jetzigen Anstellung vertraglich eine Kündigungsfrist von einem Monat zu beobachten hatte, und diese Frist schien ihm unerträglich lang. Endlich beschloß er, morgen schon der Hotelleitung seinen Wunsch baldigen Austritts vorzutragen. Wenn er ihm aber nicht bewilligt wurde, so gab es ja noch die Möglichkeit einer plötzlichen und heimlichen Abreise. So groß war seine Ungeduld, daß er noch am gleichen Abend seine Zusage an Allmendinger niederschrieb und seine baldige Ankunft in Aufdenmatten in Aussicht stellte, obwohl er noch gar nicht wußte, wie seine Vorgesetzten sich zu seinen Plänen stellen würden. Als er sich endlich zu Bett begab, konnte er nicht einschlafen. Er zimmerte und hämmerte an seiner Zukunft herum, bis ihn der Kopf schmerzte und eine zehrende Unruhe im Körper ihm das Stilliegen zur Qual machte. Sobald er am andern Morgen den Generaldirektor des Hotels erreichen konnte, trug er ihm sein Anliegen vor und fand ihn über alles Erwarten entgegenkommend. Man lobte seine bisherige Tätigkeit, seine Unternehmungslust, wollte ihm auf einem Wege, der ihm so schöne Aussichten eröffne, nicht hinderlich sein. Und man schien nicht verwundert, daß er trotz seiner Jugend sich zumutete, in eine verantwortungsvolle Stellung einzutreten. Zuletzt beglückwünschte ihn der Vorgesetzte und schlug ihm vor, vierzehn Tage noch auf seinem Posten zu bleiben und einen bald zu findenden Nachfolger einzuführen.

Donat bedankte sich, erklärte sich einverstanden und warf gleich darauf seinen Brief an Allmendinger in den Kasten. Der Kopf war ihm ein wenig schwindlig. Aber er sah doch, daß drüben Henry Krebs aus einem Flur hervortrat. Er wollte an ihm vorbeigehen. Was ging ihn der kleine Kellner schließlich noch an! Es war ihm mit der Zeit lästig geworden, daß er mit ihm noch auf du und du stand. Auch sonst war es ihm mehr und mehr unbequem geworden, ihm zu begegnen.

Da sprach der hübsche Mensch ihn selbst an: »Man sieht sich kaum mehr.«

»Ich habe viel Arbeit«, wich Donat aus und fügte unter einem unwillkürlichen Zwang hinzu: »Vielleicht gehe ich auch bald fort.«

»Wieso?« wollte der andere, aufmerksam geworden, wissen.

»Das sollst du gelegentlich erfahren«, vertröstete Donat und machte sich mit einem »Jetzt habe ich zu tun« hastig los. Das Gespräch erregte ihn, als könnte er Dinge sagen, die ihn nachher reuen müßten. Und er fühlte, daß er froh sein würde, wenn er aus Henrys Nähe kam. Im Herzen saß ihm eine merkwürdige Furcht, Henry möchte sich weiter an seine Sohlen heften. Während er jetzt seinen Weg fortsetzte, stand ihm fest, daß er jenem nicht verraten würde, wohin er sich nach seiner Abreise von London begeben werde.

In den nächsten Tagen vermied er Henry erst recht, obgleich ihm dabei nicht wohl zumut war. Irgendwie mochte er den gutmütigen Kameraden seiner Lehrlingstage immer noch leiden. Er hatte ja weiter nie Freunde gewonnen. Henry war einer der wenigen näheren Bekannten, die er besaß. Er hatte sich nur Dinge angemaßt, die ihm nicht zukamen, Vertrauen gefordert, das er, Donat, weder geben wollte noch konnte.

Es war aber seltsam: Je mehr er jetzt den andern mied, um so häufiger tauchte an allen Ecken und Enden seine mittelgroße, schlanke Gestalt auf. Wenn Donat von seiner Pultarbeit aufschaute, konnte es geschehen, daß seine Augen auf einmal den braunen Henrys begegneten. Wenn er irgendwo allein einen Flur durchschritt oder unter eine Tür trat, um Luft zu schöpfen, so begab es sich, daß mit erschreckender Plötzlichkeit in seinem Rücken Henrys muntere, freundliche Stimme ertönte. Er kam sich ein wenig gejagt vor. Er glaubte nicht mehr an den Zufall dieser Begegnungen, und er entzog sich ihnen mit einer nervösen Ängstlichkeit. Wenn er jetzt in sein Zimmer kam, schloß er hinter sich die Tür und war entschlossen, den Kameraden durch irgendeine Entschuldigung abzuspeisen, falls dieser den Versuch machen sollte, wieder bei ihm einzudringen.

Hinter verschlossener Tür packte er auch eines Abends seinen Koffer und ließ ihn von einem der Hausdiener heimlich wegschaffen, während er Henry im Speisesaal beschäftigt wußte. Am folgenden Morgen entwich er dann selbst, noch bevor die Angestellten des Hotels ihren Dienst wieder antraten, erst aufatmend, als er im Zuge saß, der ihn an die Küste von England bringen sollte.

Sein Empfinden hatte ihn nicht getäuscht: Henry hatte ihm in der Tat nachgespürt. Er hatte bemerkt, wie er ihm ausgewichen war und gefühlt, daß er vermeiden wollte, ihm das Wie und Warum seines Wegganges zu erzählen. Henry war kein böser Mensch. Nach Beaudriers Tod hatte Donats Geheimtuerei ihn mehr vergnügt als empört. Aber er wußte ja, daß mit Beaudriers Nachlaß etwas nicht ganz stimmte und Donat dabei die Hand im Spiel hatte. Auch in des andern plötzlicher Abreise witterte er die Beziehungen zu seinen früheren Heimlichkeiten. Er hielt Umfrage, horchte hierhin und dorthin und hatte schon vor Donats Flucht herausgebracht, daß dieser beabsichtige, in seine Heimat zurückzukehren, und daß er dort Aussicht auf eine seiner Jugend noch kaum zukommende selbständige Stellung besaß. Dabei hatte er bis zum letzten Tag in gutmütigem Vertrauen darauf gewartet, daß Donat ihn doch noch in seine Pläne einweihen werde, hatte auch, wie schon früher, für sich selbst Förderung aus des andern Aufstieg erhofft und war bereit gewesen, wie er mit ihm hierhergefahren, auch mit ihm wieder zurückzureisen. Als er nun erst am Abend des Tages, an dem Donat abgefahren war, diese Abfahrt entdeckte, ergriff ihn zum erstenmal ein heftiger Zorn. Manche Handlungsweise Donats erschien ihm plötzlich weniger harmlos. Er begann ernstlich, von ihm übel zu denken, und fühlte eine feindselige Lust, ihm nun erst recht auf die Schliche zu kommen. So ließ Donat, ohne es zu wissen, hinter sich einen Feind und Spion zurück, der von nun an sich von seinen ferneren Schicksalen Nachricht verschaffte und entschlossen war, seine Wege gelegentlich wieder zu kreuzen.

Donats Herz schlug indessen erleichtert, als er in Dover vom Zuge ins Boot stieg. Es schlug höher, als er auf dem Kanal am Bordgeländer stand und nach Osten sah, wo Land sichtbar wurde und ein neuer Bahnzug ihn der Heimat immer näher tragen sollte. Sein Blick tauchte ins Blau des Himmels, und schon sah er in Gedanken die Berge, die in einigen Stunden am Horizont auftauchen mußten. Schon war ihm die Riesenstadt, in der er gewohnt, das mächtige Hotel mit seinem Menschengetriebe in ferne Vergangenheit gerückt, schon spürte er, wie das Mißbehagen, das ihm Henrys Nachspürerei bereitet, leise abflaute. Und schon begann eine neue Welt sein Inneres zu erfüllen. Aufdenmatten, der Vater, Anschi tauchten auf. Er sah das wohlbekannte Hotel Ewigschneehorn, das größte am Ort, in dem einst schon die Mutter tätig gewesen. Die Gestalt Allmendingers erschien, des Wirtskönigs, des ersten Mannes im Tal. Er sah sich auf dem Weg zu dem kleinen Hause am Dorfeingang, wo die Seinen wohnten, sah sich dann, wie er sich ins Hotel, sein neues Wirkungsfeld, begab. Beim Gedanken an Vater und Schwester zerrte etwas an seinem Herzen, aber sogleich kam eine wilde Ungeduld über ihn, und Ehrgeiz und Arbeitsdrang füllten ihm den Kopf mit so vielen Plänen, daß er die kleinen Dinge des Herzens rasch wieder vergaß. Wie ein lästiges Föhnlüftlein lief bei allem die Erinnerung an Beaudriers Dokumente, Wertpapiere und Noten mit. Er hätte sie gern vergessen, aber sie schien nun einmal auch in seine Zukunft zu gehören und war wie ein bittrer Saft im süßen, süffigen Trank seiner Zukunftserwartungen.

Er saß längst im Zuge, der Calais verlassen und durch Frankreich raste, als ihn einmal eine leise Ermattung befiel und ihm schien, es lohne sich nicht all der Anstrengungen und Hoffnungen, mit denen er seine Zukunft aufbauen wollte. Es fehlte ihm plötzlich etwas, an dem auch seine innerste Seele sich freuen konnte. Es schien ihm, es sei irgendwie in seinem Leben eine Leere, die selbst Vater und Schwester nicht ausfüllen konnten. Die Vision der Terrasse des Beau Séjour in Genf erwachte wieder einmal. Der Mond goß seinen Schein über weiße Platten des Bodens. Wie Reste silbernen Regens schimmerte es feucht auf dem Stein der Brüstung. Und Ursula Dülberg, das Kind, trat in die geheimnisvolle Helligkeit. Auch dieses Bild aber dauerte nicht. Zu laut polterten die Räder, zu rasch flogen Feld und Wald draußen vorbei. Jetzt war Paris erreicht. Und jetzt ging es schon der Schweizer Grenze zu. Da forderte die Gegenwart ihr Recht. Da galt es alles zu bedenken, was Ankunft und Heimkunft von ihm fordern würden.

Donat übernachtete in einem Gasthof in Basel, kassierte andern Tages das Guthaben des Beaudrier bei einer Basler Bank ein und fuhr dann nach Zürich, um mit Hilfe seiner Vollmacht die andern beiden Depots abzuheben. Bei diesen Gängen kam er sich vor wie ein Dieb, hielt sich, sobald die Geschäfte erledigt waren, in seinen Gasthöfen versteckt, ängstlich, daß er auf den Straßen irgendeinem Bekannten begegnen könnte, und wurde von einer peinvollen Hast gepeitscht, die ihn die endliche Ankunft in Aufdenmatten kaum erwarten ließ. Ein zitternder Atemzug entrang sich seiner Brust, als er am dritten Tage endlich wieder im Zuge saß und hoffen durfte, noch am gleichen Abend in Aufdenmatten anzukommen. Seine Besorgnis war überflüssig gewesen. Nicht das geringste hatte den glatten Verlauf seiner Geschäfte in Basel und Zürich behindert. Es lächerte ihn fast, wie reibungslos sich alles abgewickelt und wie unsicher er dabei gewesen war. Einige Male griff er nun nach der versteckten Brusttasche, in der die einkassierten Banknoten sich bauschten. Sie hatten noch die unangenehme Eigenschaft, ihn zu stören. Sie schienen irgendwie die Macht zu haben, zu zeigen, daß sie eigentlich nicht ihm und zu ihm gehörten. Je näher aber dem Gebirge und je höher in dieses hinauf der Zug schnaufte, desto stiller und gleichsam ergebener wurde das Geld. Nun war es auf einmal nicht mehr das des Beaudrier, sondern gehörte schon weit mehr dem Großrat Allmendinger, bei dem es künftig ebenso sicher wie in den Banken liegen sollte. Es war überhaupt etwas Eigenes um den zur Höhe keuchenden Zug. In je freiere Luft, in je größere Helligkeit er sich hinaufschraubte, um so freier und kühler wurde auch Donat zu Sinn. Es war ihm, als falle der bisherige Mensch, der Städter, der Hotelbeamte, der gesellschaftlich geschulte und in dieser Gesellschaft heimische Mann von ihm ab, als ziehe jemand ihm neue Kleider, ja eine neue Haut über. Durch ein Fenster brach Bergluft, eine rauhe, unbändige Luft, die kalt durchs Haar auf die Kopfhaut drang und die Wange wie mit Nadeln stach. Seine Muskeln spannten sich; er kam sich in seinem neuen Reiseanzug ein wenig falsch am Platze vor; Haut und Glieder schienen nach dem Schafwollgewand der Aufdenmattener Männer zu verlangen. Er lächelte über sich selbst. Es war ihm nicht Ernst damit, wieder ein Bergbub zu werden. Er war auch jetzt noch das Kind seiner Mutter, die einen andern Ehrgeiz gehegt; aber er freute sich doch unbewußt des Starken, Ursprünglichen, das ihn da umwindete, und fühlte, als strecke ihm sein Jugendland eine schwielige Pratze zum Willkommen entgegen.

Als er an der letzten Windung, die die Bahn beschrieb, die Dächer von Aufdenmatten aus dem Talgrund auftauchen sah, über allen der mächtige Dachstock des Hotels Ewigschneehorn, drängte ihn die Ungeduld, aus dem Zug zu springen und, eine steile Wegkürzung benützend, zu Fuß ins Dorf hinaufzueilen. Aber er blieb sitzen, und als bald nachher der Zug pfiff und an den Bahnhof rumpelte, machte diese Ungeduld einer jähen Hemmung Platz. Er erinnerte sich, wie lange er fort gewesen und daß niemand ihn erwartete. Im Drang der letzten Tage hatte er versäumt, irgend jemandem die Stunde seiner Ankunft zu melden. Vater und Schwester wußten überhaupt nichts von ihm, wenn inzwischen nicht Allmendinger sie irgendwie verständigt hatte. War das aber der Fall, so war vielleicht ihre Freude über die Wiederkunft eines Menschen nicht groß, der sich jahrelang nicht um sie gekümmert. Etwas Fremdes legte sich zwischen sie und ihn. Er stellte sich das kleine, bescheidene Vaterhaus vor, und das Erbteil der Mutter, ein kleinlicher Hochmut, regte sich einen Augenblick. Schon hatte ihn das Großstadtleben so verwöhnt, daß er mit einigem Mißbehagen an die enge Kammer und das harte Bett dachte, in denen er heute nacht liegen werde. Es erschien ihm wie ein Abstieg in die Zeit zurück, da er als Lehrling im fünften Stock des Beau Séjour auch nicht besser gebettet gewesen.

Gedankenversunken und unschlüssig stand er dann eine Weile auf dem Bahnsteig. Ein paar Hoteldiener lüfteten vor ihm die Mützen und nannten angreiferisch die Namen ihrer Gasthöfe. Er erblickte auch einen alten Bergführer, der viel mit dem Vater zusammen gewesen. Auf einer Bank sitzend, machte der sich mit seiner Pfeife zu schaffen und blinzelte zu ihm hinüber, erkannte ihn aber so wenig, wie die Hoteldiener das getan. Dann gewahrte er, wie sein großer, neuer Koffer ausgeladen wurde. Er tat, als ginge ihn das nicht an, und machte sich langsam auf den Weg dorfein. Dabei holte er den blöden Sepp ein, einen armen Geistesschwachen, der auf infolge Kinderlähmung steif und dünn gebliebenen Beinen davonstolperte. Dieser arme Mensch aber erkannte ihn und grinste ihn freundlich an. Das ging ihm sonderbar zu Herzen. Zugleich aber befiel ihn eine Art Angst vor weiteren Begegnungen, und er fing plötzlich an zu eilen. Weder rechts noch links mehr blickend, erreichte er das Haus des Vaters. Haus- und Stubentür waren unverschlossen, wie sie es immer gewesen, und durch Haus- und Stubentür trat er in einem Anlauf ein. Zuletzt war ihm der Atem eng. Als er aber nun den Vater und Anschi vor sich sah, quoll ihm das Blut warm zum Herzen. So hatte er sie früher täglich angetroffen, den Vater in seinem alten Ohrenstuhl mit dem Lederbezug und Anschi am Tisch. Nur hatte Anschi keine Schulbücher mehr vor sich, sondern war mit einer Handarbeit beschäftigt, die wie ein Kinderjäckchen aussah. Der Vater war völlig unverändert, oben ein starker, breitschultriger Mann mit einem schweren grauen Bart und unten ein armes brüchiges Wackelgestell. Er rauchte. Noch als er Donat erkannte, stieß er, als sei des andern Eintritt etwas Alltägliches, einen Puff Rauches in die Luft. Anschi freilich war ganz anders als früher. Ihr Haar glänzte noch goldener. Ihre Schönheit schien Donat so groß, daß er sie einen Augenblick gebannt anstaunte. Ihre großen, weißen Hände ließen nicht erkennen, daß sie täglich viel schwere Hausarbeit verrichteten. Diese Hände hatten etwas Schwermütiges. Sie allein an der ganzen gesunden Erscheinung besaßen einen eigentümlichen Ausdruck stummen Leidens, als hätten sie sich gegen irgend etwas Furchtbares wehren müssen und seien noch müde davon.

Hatte der Art, wie die Schwester über die Arbeit gebückt saß, etwas Lässiges und Sinnendes angehaftet, so verlor sich das sogleich, als Anschi ihn erkannte. Sie sprang auf. Ihr Gesicht leuchtete. »Donat«, rief sie und sprang ihm entgegen.

Ihre Hände vereinigten sich. Jetzt, wie einst beim Abschied, lag in der Plötzlichkeit ihres Handschlags ihre gegenseitige Liebe.

Jetzt erst beachtete Donat Anschis schwarzes Kleid. Und wie er an ihr niedersah, erschien sie ihm von einer Reife und Ruhe, die ihn seltsam ergriff. Er fand nicht gleich das Wort. Es schien ihm, daß er vieles fragen und sagen müsse. Aber noch verwirrt, wandte er sich dem Vater zu.

Zurbriggen sah ihn fremder und zurückhaltender an. »Das ist ja ein seltener Gast«, sagte er und wußte weniger als je, wessen er sich vom Sohne zu versehen hatte.

»Ihr werdet wohl gehört haben, daß ich komme«, erwiderte Donat.

»Von dir nicht«, murrte Zurbriggen. Dann gab er zu: »Der Ratsherr hat mich kommen lassen.«

Donat fühlte sich zurückgestoßen. Er hatte erwartet, ein Wort des Lobes zu hören. Er kam ja nicht als ein Bettler zurück.

Da fiel Anschi ein: »Wenn man lange keine Nachricht bekommt, denkt man eher an Schlimmes als an Gutes. So haben wir uns nicht träumen lassen, daß du ein ›Herr‹ geworden bist.«

Zurbriggen bemerkte trocken: »Man scheint es in der Fremde immer noch weiter bringen zu können als bei uns.«

Donat zuckte mit der Schulter. Die Wendung, die die Unterhaltung nahm, störte ihn irgendwie. »Man muß Glück haben, dort wie hier«, entgegnete er.

Zurbriggen betrachtete ihn aufmerksamer, befriedigter: Ein hübscher Bursche war er geworden, dachte er, hatte eine selbstsichere Art, eine gescheite Stirn und einen entschlossenen Mund. Er nahm ihn gern als Sohn wieder an, obgleich er den Ton, mit dem er mit ihm reden sollte, noch nicht recht fand.

Anschi stand schon an der Tür. »Einen Gast kann man nicht nur so sitzenlassen«, sagte sie mit einer stillen, fast mütterlichen Freundlichkeit. »Deine Kammer ist bereit«, fügte sie hinzu. »Auch zu essen sollt ihr bekommen.« Damit ging sie hinaus.

Donat lauschte ihr nach. Sie war die große Überraschung dieser Heimkehr. Nun rückte er einen Stuhl neben den des Vaters. Den Schritt der sich Entfernenden im Ohr, sagte er: »So früh ist sie schon eine Witfrau«.

»Das ist eine leide Geschichte«, antwortete Zurbriggen.

»Der Gallus Stettler war ein tüchtiger Mensch«, sagte Donat.

Da neigte sich der Vater ihm ein wenig entgegen und erwiderte mit einer eigentümlich erregten Stimme: »Wie die Anschi läuft keine zweite in der Welt herum.«

»Bekommt sie ein Kind?« fragte Donat.

Der Vater erwiderte: »Bald! Vielleicht lebt sie mehr in dem als bei uns.«

Donat schwieg. Nun war er da wieder mitten in dem Schicksal dieses väterlichen Hauses. Als sei er nie fort gewesen. Beide gehörten sie zu ihm, der Vater und die Schwester. Und mit beiden war er plötzlich wieder heimisch. Ja, er spürte erst jetzt ganz, wie sehr sie ihm alle die Zeit gefehlt hatten.

Da fiel Zurbriggen mit der Frage durch die Tür: »Also Direktor wirst beim Ratsherr? Das ist rasch gegangen.«

»Man muß wissen, was man will«, wich Donat aus.

»Gehst heute noch zu ihm?« fragte der Alte weiter.

»Das eilt nicht«, antwortete Donat, und es war ihm, als sei ihm hier lange wohl und – und würde er lieber ganz bei den beiden bleiben, die zu ihm gehörten.

Anschi kam den Tisch zu decken. Sie achtete auf das Gespräch der Männer, die nun von Donats neuer Anstellung, von seiner bisherigen Laufbahn und von den Dingen in der Welt draußen weiterhandelten. Einmal fragte sie: »Hast du kein Gepäck?«

Donat erwiderte, er werde es später holen.

Und später – er hatte seinen Koffer auf der Bahn geholt – hieß Anschi Donat nach seiner Kammer mitkommen, die so lange leer gestanden.

»Bin ich denn noch am gleichen Ort daheim?« fragte er verwundert, während sie ihm voran die Treppe hinaufstieg.

»Einmal mußtest du doch wieder heimkommen«, antwortete sie.

Seltsam bewegt stieg er hinter ihr her. Nie zuvor hatte er so gefühlt, wie nah die Schwester und er zusammengehörten. Und zugleich mußte er an die Mutter denken. Von ihr mußte ihnen beiden, trotz aller Verschiedenheit, doch dieses Gemeinsame gekommen sein.

Sie landeten darauf in der kleinen bergzugelegenen Kammer. Ein paar frühe Gentianen lagen auf einem mit Wasser gefüllten Teller, den Anschi auf den kleinen Tisch vor die Photographie der Mutter gestellt hatte. Sie leuchteten wie tiefe menschliche Augen. Wie seltsam das war! Donat war nie an Aufmerksamkeiten anderer gewöhnt gewesen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als müsse er sich klarwerden, wie das alles komme. Sein Koffer stand schon in der Kammer, und auf diesen ließ er sich nieder und sagte dann leise: »Danke für die Blumen«.

Und nun fiel auf einmal ein Schweigen zwischen sie. Jedes hatte in sich Dinge, die ihm schwer zu schaffen machten, und jedes fand schwer das Wort zu einer Vertraulichkeit oder zu einem ins Alltägliche zielenden Gespräch.

Endlich sagte Anschi: »Du hast ihn doch auch gekannt«.

Donat sah sie stehen in ihrem schwarzen Kleid, das ihre Schwangerschaft nicht mehr verbarg. Er konnte die Augen gar nicht von ihr abwenden, eine so schöne, seltene Frau dünkte sie ihn. Er brauchte auch nicht zu fragen, wen sie meinte. »Ich bin ja mit ihm zur Schule gegangen«, antwortete er und suchte nach Worten, um ihr zu bezeugen, wie leid es ihm um Gallus tue.

Aber sie nahm ihm alle Mühe ab. »Ich glaube, er war ein Mann, wie es keinen mehr gibt, so arbeitsam und froh und tapfer.«

Er wollte Näheres über Gallus' Tod erfragen, aber sie bemerkte das nicht, sondern fuhr fort: »Zuerst habe ich gemeint, ich müsse daran zugrunde gehen, aber wir Menschen sind doch jeder nur Eintägler, und wenn einer fortgeht, müssen die andern sehen, wie sie sich weiterhelfen. Mir aber ist etwas von Gallus geblieben. Es wächst in mir, und wenn es in ein paar Wochen da sein wird, wird es fast sein, als ob er wieder bei mir wäre. Du glaubst nicht, wie das ist. Von Tag zu Tag, während ich das Kind spüre, muß ich den Gallus noch mehr liebhaben, das Kind in mir und ihn in dem Kind.«

Während sie sprach, war ein merkwürdiges Spiel der Glieder an ihr zu beobachten, als läge in einem Zucken der Schultern, einem Spreizen der Finger, einem Aufrecken des Halses diese nach außen drängende, aus dem Werdenden werdende Liebe ausgeprägt. So klar sprach aus Wort und Gebärde die Überwindung eines fast unerträglichen Kummers, die Erkenntnis eines noch gebliebenen Glückes und das Rückgewinnen des inneren Gleichmaßes, daß Donat sich ganz klein vorkam und er verlegen und dann erschreckt an das dachte, was er dagegen zu erzählen hätte.

Anschi schien aber im Augenblick, da sie von ihrem eigenen großen Erlebnis dem Bruder gesprochen, für seine Nachrichten nicht Sinn zu haben. Sie sagte beinahe ein wenig hastig: »Wir haben ja aber noch Zeit genug, einander zu erzählen. Du wirst auspacken wollen, auch müde sein. Also wollen wir das andere auf morgen versparen.«

Damit ging sie zur Tür, fragte nur noch von der Schwelle her: »Wann gehst du zu Allmendinger?«

»Gelegentlich«, antwortete Donat auch ihr.

Da nickte sie ihm zu: »Schlaf wohl, das erstemal wieder daheim«, und ging.

Er blieb zurück, noch immer auf dem Koffer sitzend. Die schweren Gedanken zogen ihm den Kopf auf die Brust. Die Abneigung gegen den Gang zum Besitzer des Hotels Ewigschneehorn hatte sich noch verstärkt. Er sah sich in der engen Kammer um und dachte nur, wie gut es sich da weile, unten der Vater und die Anschi und hier alles still und alles sein. Der sonst immer wache Ehrgeiz war wie betäubt. Und das Notenbündel auf seiner Brust brannte ihn wie Feuer. Es war ihm, als müßte er es morgen zurücktragen auf die Banken, wo das Geld bisher geruht hatte. Es war ihm, als würde ihm dann der jetzt wie von einem Stein beschwerte Atem wieder leichter gehen.


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