Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Ein Personenzug ratterte über winterliche Felder. Er war spärlich besetzt. Wer nicht mußte, bummelte nicht durch den kalten Nebeltag. Die Scheiben des Dritteklassewagens waren dicht mit Eisblumen überwachsen. Aber Donat Zurbriggen kratzte mit dem Messer eine Rinne hinein. Ein weißes Pulver staubte auf den Fensterrahmen nieder. Er aber betrachtete durch die entstandene Lücke die Landschaft. Umgepflügte Getreide- und Kartoffelfelder, hartgefroren und mit dünnem Schnee beworfen, zogen sich endlos hin. Hochnebel war wie eine Kuppel über die Ebene gespannt und berührte am Horizont die dunkle, weißbespritzte Erde. Dort spann ein hellerer Schein, wie von irgendwo leuchtender Sonne.

Zuweilen tauchte eine Kirchturmspitze über ferne Fläche. Zuweilen verkündeten kleine Rauchsäulen die Nähe eines Dorfes. Manchmal wartete an geschlossenem Bahnübergang ein Kraftwagen oder ein Bauerngefährt. Manchmal fiel eine Krähe mit schwerem Flügelschlag ins bleiche Feld. Sonst war kein Leben rings.

Donat war unruhig, zwiespältig sein Inneres. Die Tatsache, daß er nicht allein war, behelligte ihn vor allem.

Ihm gegenüber saß Henry Krebs, sein Kammer- und Berufsgenosse. Er hatte seine Mütze in die Wagenecke geklebt und schlief, den dunkellockigen hübschen Kopf hineingebohrt.

Donats Gedanken waren wie Hunde, die auf dem Spaziergang ihres Herrn vor- und zurücklaufend den Weg dreimal machen. Sie sausten zurück zum Hotel Beau Séjour, zu den eintönigen Tagen seines Kellnertums, zu Herrn Louis Meister, der ihm beim Abschied so väterlich auf die Achsel geklopft und gesagt hatte: »Viel Glück, Donat! Sie werden Ihren Weg schon machen«, zum Ober mit dem kahlen roten Schädel, der ihm aufgetragen, er möge schreiben, falls in England bessere Fortkommensgelegenheit sei, und zu dem armen, ungeschmückten, schon halb in Vergessenheit sich verschlüpfenden Grabe des Charles Beaudrier, das er am Tage vor seinem Aufbruch noch einmal aufgesucht hatte. Es war merkwürdig, wie dieses schon verunkrautete Grab gleichsam mit ihm reiste oder wie die Gedanken, als seien sie an einem Gummiband daran befestigt, immer wieder zu ihm zurückschnellten.

Jetzt fiel sein Blick auf seinen Handkoffer, der ihm gegenüber über dem Sitz des Henry im Netz lag. Ein Wertpaket lag darin sorgfältig versteckt. Seine Geheimhaltung war ihm so wichtig, daß es ihn jetzt sogar störte, seinen Koffer nicht in seinem eigenen Netz untergebracht zu wissen. Und warum mußte da drüben Henry sitzen? Freilich, er, Donat, hatte gehört, London sei eine Stadt, in deren Riesenverkehr den Neuling schwindle. So hatte er am Ende noch immer nichts dagegen, bei der Ankunft daselbst einen Gefährten zu haben. Auch mochte er Henry eigentlich noch immer ganz gern leiden. Aber jetzt – was brauchte er ihm jetzt im Wege zu sein?

Drei Tage waren sie nun schon unterwegs. Immer im Bummelzug! Weil Donat gehofft, es werde Henry zu lange dauern. Selbst eine Fußwanderung hatten sie gestern gemacht! Aber unentwegt war Henry an Donats Seite geblieben. Und nun war heute ein besonderer Tag: Sie näherten sich Neuendorf, dem Ort, wo Adrienne Schelbert, Beaudriers einstige Geliebte, wohnen sollte!

Donat sah wieder nach der Uhr. Ein dutzendmal schon hatte er sie hervorgezogen. Eine Stunde noch! dachte er. Dann mußte er irgendwie des Reisegenossen ledig werden. Mit Gewalt, wenn es mit Güte nicht ging! Je näher er dem Ziele kam, um so aufgeregter wurde er. Er würde die Dame Schelbert finden, natürlich würde er sie finden. Wenn sie fortgezogen oder gar gestorben sein sollte, so würde die Tochter noch da sein oder man am Orte zum mindesten wissen, wo sie hingekommen! So war die Zeit nahe, da er des Paketes in seinem Koffer, dieses Gegenstandes, der einen quälte gleich einem Dorn im Fleisch, ledig werden würde! Sonderbar! Sonderbar – würde es ihm sein, dieses viele Geld nicht mehr bei sich zu haben, nicht mehr – oft war ihm gewesen, er sei selbst ein hablicher Mann, weil er soviel Vermögen zu hüten hatte!

Donat drückte die glatte, hohe Stirn an die kalte Scheibe. Dann spann er seine Gedanken weiter: Was für ein Ort mochte dieses Neuendorf sein? Wie sollte er seinen Entdeckungsgang in Szene setzen, wie die Wohnung der Schelbert erfragen?

Schon litt es ihn nicht mehr auf seinem Platze. Er stand auf, wußte nicht, was er wollte, und hob dann über Henrys Kopf hinweg schon den Koffer aus dem Netz.

Henry erwachte davon. »Was gibt es denn?« fragte er verwirrt.

»Ich werde bald aussteigen«, entgegnete Donat.

»Wozu denn?« wollte der andere wissen.

Donat machte ein verschlossenes Gesicht. Er war niemand Rechenschaft schuldig, trotzte er wieder bei sich selbst. Dann sagte er mit einiger Lustigkeit: »Fahre du ruhig weiter. Wir sehen uns wie ausgemacht in Straßburg wieder. Ich werde dich dort am Bahnhof treffen noch vor Nacht.«

Henrys Augen glitzerten argwöhnisch. »Warum sagst du es mir nicht ins Gesicht, wenn du mich los sein willst?« fragte er halb beleidigt, halb wehleidig.

»Ich sage ja, daß ich dich wieder treffe«, verteidigte sich Donat. Seine Heimlichkeiten drückten ihn selbst.

Henry schaute zum Fenster hinaus. Vielleicht hatte Donat irgendein Mädchen dort, wo er haltmachen wollte, überlegte er. Dann wuchs sein Mißtrauen. Ein Hintenherum war Donat einewegs! Das mit dem Beaudrier war auch nicht sauber! Vielleicht hatte dieses heimliche Aussteigen damit zu tun! Und er hatte wieder Lust, den Detektiv zu spielen und ihm unbemerkt nachzusteigen. Er sagte aber nur: »Du bist ein sonderbarer Heiliger, Zurbriggen.«

Donat zuckte unwirsch die Achseln.

Unterdessen pfiff der Zug und hielt. Ehe Henry noch zu einem Entschluß gekommen, was er tun sollte, stieg Donat aus. Er grüßte den andern, hatte aber Mühe, seinem forschenden Blick standzuhalten. Bemüht, irgendwie ihn zu beschwichtigen, lächelte er ihm zu und winkte mit der Hand. Aber es war ihm nicht wohl dabei. Dann stand er vor dem kleinen Bahnhof, betrachtete die Tafel mit dem Stationsnamen, den schwarzen, harten, schneeüberpulverten Boden und hörte, wie in seinem Rücken der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Er duckte sich unwillkürlich, als könnte aus dem Zug noch ein Anruf kommen oder gar der Kamerad doch noch herausspringen. Erst als Henrys Wagen vorbei war, sah er auf und verstohlen ihm nach. Henry stand am Fenster und machte ein verstimmtes Gesicht. Fort also! seufzte Donat auf. Und mit immer leichter werdendem Herzen blickte er den Schienen entlang, von denen der abfahrende Zug eine immer längere Strecke frei werden ließ.

Der dienstmachende Stationsbeamte musterte verwundert den unentschlossenen Fremden.

Als Donat das bemerkte, sprach er ihn an und fragte, ob am Ort eine Frau Schelbert wohne.

Der Beamte antwortete, seines Wissens sei das nicht der Fall, riet ihm aber, da er selbst erst seit einem halben Jahre hier bedienstet sei, sich ins Dorf zu begeben und bei Post oder Gemeindekanzlei nähere Erkundigungen einzuziehen.

Die wenigen Leute, die gleich Donat auf der Station den Zug verlassen hatten, waren noch sichtbar, wie sie auf schnurgerader Straße feldein schritten. Donat betrachtete seinen Handkoffer. Sollte er ihn in der Gepäckabgabe lassen, da das Dorf so weit ablag? Im nächsten Augenblick schwang er sich ihn auf die Schulter. Er mochte sich nicht von ihm trennen. Während er ihn im Gehen neben seinem Kopfe festhielt, war ihm, es brenne ihn durch das Leder des Koffers und seine eigenen Kleider hindurch etwas, war ihm, als enthielte das Gepäckstück nur dieses eine: das Vermächtnis des Beaudrier. Von einer seltsamen Erregung geschüttelt, schritt er fürbaß. Die Leute, die vor ihm waren, entschwanden dann seinem Blick. Aber über dem Saum der winterlichen Erde tauchte einen Augenblick eine Kirchturmspitze auf. Auf sie hielt Donat zu.

Der Koffer war schwer und die Straße holperig; Donat wurde warm, obgleich ein kalter Nordwind über die Ebene fuhr. Weithin dehnte sich dieses ebene Land und mündete in grauer Ferne mit dem Nebelhimmel zusammen. Unendliche Stille herrschte. Weder Mensch noch Tier war mehr sichtbar. Dann erreichte Donat ein schwarzes Gehölz, und hinter ihm kam plötzlich das Dorf zum Vorschein. Er huckte seinen Koffer fester auf. Aber die Schritte begannen ihn zu reuen. Er wußte nicht warum. Fast befiel ihn eine Lust, umzukehren. Doch er merkte nicht, daß diese Lust Angst davor war, bald das Paket aus seinem Koffer nehmen und abgeben zu müssen.

Unsicher und unlustig betrat er die Ortschaft und schlenderte den bäuerlichen Häusern entlang. Drüben verließ die Straße das Dorf und lief schnurgerade weiter ins Land, wie sie schnurgerade den Bahnhof verlassen hatte. Leute begegneten ihm jetzt wieder und betrachteten ihn mit neugierigen Blicken. Einzelne wandten sich nach ihm um, wenn er vorüber war. Auch aus Fenstern und Türen sah er Gaffer spähen und die Hälse recken.

An einem Steinhause war eine Tafel befestigt, die besagte, daß sich hier die Gemeindekanzlei befinde. Donat trat ein. Im Kontor, das gleich neben der Haustür sich befand, empfing ihn, hinter einem Schalterfenster sitzend, ein alter, buckliger Schreiber. Der machte ein jäh gespanntes Gesicht, als er den Namen der Adrienne Schelbert nannte. Er wollte wissen, ob er ein Verwandter sei. Dutzende von weiteren Fragen lauerten ihm aus den flinken, kleinen Augen. Aber Donat blieb wortkarg. Er habe einen Gruß zu bestellen, sagte er. Dann erfuhr er, daß Adrienne Schelbert mit ihrer Tochter vor einem Jahre nach England verzogen und ihre gegenwärtige Adresse hierorts unbekannt sei.

»Schade«, sagte Donat. Und auf einmal war ihm wieder leicht. Er wußte nachher gar nicht, wie es kam, daß er schon wieder die Straße zurückschritt, die er eben gekommen. Er sah auch weder Häuser noch Menschen, noch nachher die Felder mehr. Mochten jene sich wundern, daß er, kaum angekommen, schon wieder davonzog! Er trug seinen Koffer und den Kopf voller einander jagender Gedanken. Er spürte seine Last, nicht weil sie schwer war, sondern weil sie das Paket des Beaudrier barg. Manchmal war es fast, als trüge er einzig dieses Paket. Und manchmal empfand er, als sei es ihm heute noch einmal und gültiger überbunden worden. Und wieder manchmal fühlte er fast etwas wie Eigentumsrecht. Charles' Bild tauchte ihm auf, und er fragte sich, was er sagen würde, wenn er jetzt wüßte, wie bisher seine Sache verlaufen. Traf es sich aber nicht glücklich, daß er ausgerechnet auch nach England fuhr? Tat er damit nicht alles, was Charles von ihm erwartet hatte? Wenn er aber die Schelbert auch dort nicht fand? Dann mußte er wohl Louis Meister, den Prinzipal verständigen. Er hatte das Erbe übernommen! Oder blieb ihm, Donat, sein Auftrag noch weiter überlassen? Er spann und spann an seinen Gedanken. Und sie flogen auch in die Zukunft, über den Kanal, nach London, der Riesenstadt. Leicht würde das Suchen dort erst recht nicht sein! Er machte Pläne um Pläne. Und immer noch blieb er erleichtert und froh, weil noch sein Weg nicht zum Ziel geführt. –

Donat Zurbriggen wußte nie, wie er wieder an den kleinen Landbahnhof und in einen andern Zug gekommen, wie er Straßburg erreicht und im Wartesaal wie verabredet Henry Krebs gefunden hatte. Er hatte noch das Geräusch schlagender Eisenräder im Ohr, als der Anblick des auf einer Wartesaalbank eingeschlafenen Henry ihn selbst aus seinen Gedanken wachrüttelte. Er war erstaunt, ihn zu finden, hatte eher erwartet, dem Reisekameraden möchte seine Gesellschaft leid geworden und er selbst ihm davon und vorangefahren sein. Er ärgerte sich zuerst. Dann aber rührte ihn wieder die Treue des andern, und wieder war es ihm nicht unlieb, die Reise in ein Neues und Unbekanntes nicht allein machen zu müssen. Er warf seinen Koffer neben Henrys Sitz zu Boden.

Das Geräusch schreckte diesen auf und, zu Bewußtsein gekommen, lachte er ihn etwas hinterhältig an und fragte: »Kommst du doch?«

»Ich habe es versprochen«, antwortete Donat.

»Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, heute nacht allein weiterfahren zu müssen«, sagte Henry.

»Dann hättest du aber nicht mehr lange schlafen dürfen«, spottete Donat.

In einer halben Stunde ging der Zug nach Calais. Sie konnten sich also gleich aufmachen, das Gleis zu suchen, auf dem sie einsteigen mußten.

Donat, mit seinem Koffer, schritt voran. Henry, noch benommen, lief hinterdrein. Erst auf dem neuen Bahnsteig kam ihr Gespräch wieder in Fluß.

»Hast du deine Geschäfte besorgt?« fragte Henry.

»Nicht wie ich wollte«, wich Donat aus, obwohl er fühlte, daß er dem andern eine ausführlichere Erklärung schuldig wäre.

Henry, ärgerlich über die ewige Geheimnistuerei, schmälte: »Du mußt ja verdammt wichtige Angelegenheiten haben.«

»Habe ich auch«, murrte Donat.

»Eine Frau kann es nicht sein«, vermutete Henry, sonst würdest du mehr Zeit versäumt haben.«

Darauf schwieg Donat hartnäckig.

So blieb eine Unstimmigkeit zwischen ihnen, die die Einfahrt ihres Zuges, die Nachtreise und die Ankunft in London am nächsten Tage nicht aus der Welt schaffte, obwohl sie unterwegs die paar Worte wechselten, die die Reisegemeinschaft erforderte. Sie verlor sich aber scheinbar in der nächsten Zeit, während sie gemeinsam in einer Herberge in Finsbury Square wohnten und die Stellenvermittlungsgeschäfte absuchten. Die Riesenstadt gab ihnen dann ein Gefühl der Verlorenheit und machte sie wieder zu leidlichen, manchmal sogar guten Kameraden.

Nach einigen Tagen wurden sie beide durch Zufall im Station-Hotel am Victoria-Bahnhof eingestellt, Donath ins Empfangskontor, Henry als Kellner.

Eine neue Zeit brach für Donat Zurbriggen an. Er bewohnte ein eigenes kleines Zimmer, auch wieder unterm Dach des mächtigen Gebäudes; aber vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein hielt ihn sein Amt im Erdgeschoß in einem dunklen, ewig von elektrischem Licht erhellten Nebenraum der Empfangsstelle fest. Da saß er über mächtigen Kontrollbüchern und trug Hunderte von Namen ankommender und wieder abreisender Gäste ein, fertigte Gepäckadressen aus, kontrollierte Gutscheine und besorgte viele andere geistlose, mechanische Arbeit, wie ein Sekretariatslehrling sie zu erledigen bekommt. Am langen Anmeldetisch, der ein gutes Stück ab von seinem eigenen Platz stand und wo der Direktor, der Empfangsbeamte, der erste Sekretär und andere Gasthofsstabgrößen amteten, trieb das wirre, hastige, wildstromähnliche Menschenhinundher vorbei. Donat bekam selten ein Gesicht zu sehen. Wie auf laufenden Treppen befestigte Puppen schoben sich die Gäste vorüber. Selbst seine nächsten Vorgesetzten und seine Mitarbeiter behielten für ihn etwas Wesenloses, Maschinenhaftes. Sie schoben ihm Zettel, Briefe, Kofferadressen und andere Drucksachen hin. Er kopierte, schrieb, rechnete vom Morgen zum Abend.

Wochen vergingen, bis er seine nächste Umgebung auch nur dem Namen nach kannte. Er kam sich oft vor wie ein elektrischer Knopf, auf den jeder nach Belieben drückte und der in dem Riesengebäude eine Unmenge gleich bedeutungsloser Genossen hatte; aber als er sich erst an den Wirrwarr und die Rastlosigkeit dieses Alltags gewöhnt hatte, hielt er die Augen offen, luchste den Vorgesetzten ihre Pflichten und die Art, wie sie sie erfüllten, ab und lernte in kurzer Zeit mehr vom Betriebe, als die andern wußten. Der Ehrgeiz brannte in ihm und stachelte ihn an. Zuweilen wollte ihm scheinen, er sei auf dem Aufstieg begriffen; aber die Ungeduld wischte die flüchtige Befriedigung hinweg. Es ging langsam, redete er sich ein. Wie sollte je aus dem untersten Kontorgehilfen ein Leiter, vielleicht ein Betriebseigentümer werden? In seiner Dachkammer bestand er harte innere Kämpfe und wurde zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her geworfen. Sah er keine Tür aus seiner jetzigen Bedeutungslosigkeit heraus, so befiel ihn wieder die Empfindung, wie allein er in der Welt war, und es war ihm dann nicht unlieb, wenn Henry zu einem kleinen Gespräch bei ihm eintrat. Im Betriebe sahen sie einander kaum, wurden nur dann und wann wie Fremde aneinander vorbeigespült. Aber wenn sie oben, Zigaretten rauchend, beisammensaßen, umgab sie etwas von einem Daheim, so unwohnlich und spärlich eingerichtet auch diese Stube sein mochte. Sie hatten nun schon so lange nebeneinander gelebt, daß sie sich miteinander verbunden fühlten. Keiner von beiden hatte wichtige andere Bekanntschaften gemacht. Jeder fand im andern einen gewissen Halt. Die unwillkürliche Zuneigung, die sie von Anfang an füreinander empfunden, steigerte sich. Donat hatte weiter Gefallen an Henrys hübschem Äußern, seinem leichten Sinn und seinem flinken, geschickten Wesen, während dieser, ohne es sich zu gestehen, Donats Zielbewußtheit und Intelligenz bewunderte, sich ihm aber auch aus einer Art unbestimmter Hoffnung anschloß, daß er selbst aus dem sichern Emporkommen des Kameraden nur Vorteil ziehen werde.

Die seltsame Hemmung, die nach Beaudriers Tod zwischen sie gefallen und auf ihrer Herreise sich verstärkt hatte, war freilich jedem von ihnen trotz des scheinbar herzlichen Einvernehmens geblieben. Und es kam ein Tag, an dem ein Gespräch sie beide plötzlich wieder aus ihrem Gleichmut warf.

Die Beine übereinandergeschlagen, saßen sie Zigaretten rauchend in Donats Zimmer und handelten davon, daß dieser am Vortage zum erstenmal beauftragt worden war, den Empfangsdienst in der Halle zu besorgen. Beglückt, in seiner Stellung einen Fortschritt gemacht zu haben, seufzte Donat auf: »Endlich bin ich einmal meinem Schreibkäfig entronnen!«

»Das wundert mich nicht«, entgegnete Henry. »Du weißt, was du willst, und erreichst, was du dir vornimmst. Ich wollte, ich hätte deinen Ehrgeiz.«

»Dennoch werde ich grau werden, bis ich an ein Ziel komme«, klagte Donat.

»Sei nicht so unbescheiden«, tadelte Henry. »Erst gestern haben die beiden Direktoren deine Anstelligkeit gerühmt. Wenn einer, so wirst du es hier vorwärtsbringen.«

»Glaubst du?« fuhr Donat mit rascher Freude fragend auf.

Da lehnte sich Henry in seinen Stuhl zurück und sah ihm gerade ins Gesicht. »Ich habe noch keinen solchen Streber wie dich gesehen«, sagte er. »Du gehst aufs Ganze. Was du mit den Dokumenten ...«

Er vollendete nicht; denn Donat war von seinem Stuhl aufgefahren und stand bleich vor Zorn da.

»Was redest du da!« stieß er heraus, im ersten Augenblick gewillt, abzuleugnen, was der andere doch niemals genau wissen konnte.

Henry stutzte. Er war seiner Sache nicht sicher. Er hatte damals Beaudrier und Donat über den Banknoten und Schriftstücken überrascht, und was ihn befremdete, war, daß von diesen in dem Nachlaß des alten Kellners nie mehr die Rede gewesen. Auch andere kleine Beobachtungen hatten ihn nachdenklich gemacht. So stach ihn noch immer die Neugier, was Donats Flucht aus dem Zug und sein Besuch in einem fremden Dorf zu bedeuten gehabt; aber alles das reichte nicht hin, ihn völlig zu überzeugen, es könnte im Falle Beaudrier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Und sein Ärger über den Mangel an Vertrauen Donats ihm gegenüber war noch immer größer als sein Verdacht.

»Nichts für ungut«, beschwichtigte er jetzt. »Ich weiß nur, daß Charles dich in seine Ersparnisse eingeweiht hat. Das Weitere bleibt schließlich deine Sache.«

Donat war noch immer unsicher, was er tun sollte. Möglichkeiten durchblitzten sein Gehirn. Sollte er Henry doch ins Vertrauen ziehen? fragte er sich wieder einmal. Noch mit sich selbst im unklaren, sagte er mit halber Stimme: »Herr Louis Meister hat die Verwaltung des Nachlasses übernommen. Was willst du noch?« –

Henry lenkte ein: »Ich meinte nur so. Es war mir, als sei da noch etwas gewesen.«

Und wieder sah Donat eine Möglichkeit, nicht reden zu müssen. »Man muß nicht meinen«, warf er hin.

Henry wollte es nicht mit ihm verderben. »Mich geht es ja auch weiter nichts an«, gab er zu.

Da war wieder das Türlein zum Entwischen. »So rede nicht von Dingen, über die du nicht Bescheid weißt«, predigte Donat.

Eine Pause fiel dann ein. Donats Zigarette war zu Ende. Henry bot ihm eine neue. Auf der bequemen Brücke des Gehenlassens fanden sie sich, während Donat an Henrys Zigarette die seine entzündete. Sie begannen wieder von Menschen und Dingen im Hotel zu sprechen. Sie vermieden alles, was zu neuen Erörterungen hätte führen können.

Aber als Henry sich später entfernte und Donat sich zu Bett begeben hatte, lag dieser noch lange wach und dachte nach: Was war geschehen? Warum drückte ihn Henrys Verdacht? Hatte er nicht ein gutes Gewissen? Und plötzlich faßte er den Entschluß, die Suche nach Frau Adrienne Schelbert, die er sich doch vorgenommen, unverzüglich in die Hand zu nehmen. Er beruhigte sich selbst damit. Zuletzt blieb nichts in ihm zurück als die alte Neugier: Was wußte Henry? Wieviel hatte er damals erspäht?


 << zurück weiter >>