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An jedem freien Tage war Donat Zurbriggen jetzt unterwegs. Die Leute vom Fach wurden aufmerksam. Die Führer begegneten ihm zuweilen an diesem und jenem Berg. Er sprach nicht, wenn sie ihn nicht anredeten. Er war hier geradeso wortkarg wie auf Taglohn. Aber wenn dort seine Nebenarbeiter nach und nach Respekt vor ihm bekommen, weil er an einem Tage mehr auf die Seite brachte als jeder von ihnen, und wenn die Sägereibesitzer ihm den Lohn erhöhten, nur damit sie den ausgezeichneten Arbeiter nicht verlieren mußten, so sperrten hier die Führer Maul und Augen auf: Sackerlot, das war ja ein Teufelskerl, der kletterte und stieg und wußte bald im Gebirg Bescheid, als sei das immer sein Beruf gewesen.
Das hat er von seinem Alten, erklärten sich die Führer sein Genie. Dann hieß es, eine solche Katzengewandtheit, eine solche Kunst, sich an die steilste Wand anzukleben, eine solche Kraft, sich hinaufzuziehen, wo nur noch ein Finger und eine Zehe sich ankrallen konnten, habe selbst Arnold Zurbriggen nicht besessen.
Monate gingen vorbei. Ganz spät im Herbst, als einer der bekanntesten Aufdenmattener Führer noch eine Partie auf das Ewigschneehorn zu führen hatte, nahm er Donat als Träger mit.
Im darauffolgenden Sommer holten andere ihn als Begleiter. Niemand fragte mehr nach seiner Vergangenheit. Seine jetzige Tüchtigkeit war unbestritten.
Die Zeit kam, da Donat mit dem Vater als Fachmann von den Besteigungen sprach, die er mitmachte. Wie vordem Gallus.
Die Zeit kam, da die Sägereibesitzer klagten: »Der Donat steckt mehr im Gebirg als bei unsern Brettern.«
Die Zeit kam, da Anschi erkannte, des Gallus' Welt sei ganz die Welt Donats geworden, und da sie anfing, ihn zuweilen daran zu erinnern, was sie mit ihrem Mann Gallus erlebt hatte.
Im Winter bestand Donat sein Führerexamen und erhielt sein Patent.
Zu Ostern kam Anna Stettler in die Sekundarschule.
Im darauffolgenden Sommer stand Donats Name auf der Liste der Führer von Aufdenmatten. Nun verlor die Säge endgültig ihren besten Arbeiter.
An einem Schlechtwettersonntag dieses Sommers begab sich im Hause des Zurbriggen-Arnold folgendes: Donat, Anschi und Anna kamen bei Regen und Sturm aus der Kirche. Daheim angekommen, stellten sie ihre Schirme im Flur ins Gestell und schüttelten die nassen Mäntel aus, ehe sie sie an den Haken hängten. Donat trat als erster auf die Schwelle der Wohnstube. Hier aber legte er den Zeigefinger auf den Mund und forderte die andern auf, leise zu tun.
Am Tisch saß Zurbriggen in seinem Ohrenstuhl und war trotz der Morgenstunde schon wieder eingeschlafen. Die geliebte Pfeife lag erloschen und kalt auf der Decke, die er über die Knie gezogen hatte. Er erwachte aber vom Empfinden, daß er nicht mehr allein in der Stube sei. Eine Weile brauchte er, um sich zu finden. Dann sagte er: »Das geschieht mir jetzt öfter, daß ich auf einmal nicht mehr da bin.«
Anschi, die seine Bestürzung bemerkte, wollte ihn beruhigen: »Ihr meint das nur so, Vater. Das ist, weil Ihr in letzter Zeit zu wenig an die Luft gekommen seid.«
Er aber schüttelte ärgerlich den Kopf und erwiderte: »Rede mir nichts aus! Ich weiß, was ich weiß.«
»Vater«, mahnte Anschi noch einmal.
Da legte er seine Hand auf die ihre und hob sich in seinem Stuhl. Seine eingesunkenen Augen belebten sich, und ihr Blick gewann etwas von der früheren Schärfe und Kühnheit zurück. »Es ist sonderbar«, sagte er. »Mir ist jetzt hie und da, als ob ich wieder Beine hätte und steigen könnte, hinauf, immer höher hinauf, bis wo man meint, in den Himmel hineingreifen oder ins Fegefeuer hinabspringen zu können. Das ist wohl ein Zeichen.«
Dann griff er nach der Pfeife. Mit unsicheren, klobigen Fingern begann er sie zu stopfen. Und dann murmelte er: »Es ist ja jetzt auch ein anderer Zurbriggen da.«
Aber noch ehe die Pfeife brannte, duselte er schon wieder.
Vor der Tür draußen sagte Anschi zum Bruder: »Der Vater wird es nicht mehr lange machen.«
Er nickte und stieg nach seiner Kammer hinauf, der gleichen, die er in seiner Jugend und seit seiner Rückkehr innegehabt. Dort fiel sein Blick in den kleinen Wandspiegel. Wie gänzlich er sich verändert hatte, dachte er und setzte sich auf sein Bett, Und hörte den Vater noch einmal sagen: »Es ist jetzt ein anderer Zurbriggen da.« Und nun stieg alles, was in den Jahren seit seiner Heimkehr geschehen war, noch einmal vor ihm auf. Nur auf einen Tag hatte er anfänglich zu kommen beabsichtigt und war geblieben und geblieben, mehr geschoben als aus eigenem Willen, mehr aus irgendeinem inneren Instinkt als aus irgendeinem Plan. Eine Weile hatte er dann versucht, blind und taub an den Menschen vorbeizugehen. Aber ihres Tuschelns und heimlichen Fingerzeigens war er doch innegeblieben. Bis sich auch das allmählich verloren hatte. Aber dann hatte er die Wege in die Höhe gefunden, über Häuser und Wälder und Menschen hinaus. Und auf den Gipfeln, in der Todeinsamkeit, nichts als Sonne und Frost und sirrenden Wind um sich und nichts über sich als blauen Himmel, da hatte er sich selbst wiedergefunden. Die Qual des Ausgestoßenseins war von ihm abgefallen und die andere Qual des Schuldbewußtseins leichter geworden. Er hatte Mut bekommen, die Menschen wieder anzusehen. Und er hatte gefühlt: Du bist doch noch einer! Eines Tages hatte er wieder gelernt mit Leuten zu reden. Eines andern hatte er entdeckt, daß man an ihm noch etwas gut fand. Vertrauen war zeitweise wieder gewachsen, von einem Menschen zu ihm und von ihm zu einem Menschen. Dann war aus dem planlosen Herumirren in den Bergen das planmäßige Steigen und Wandern, der Beruf geworden. Und heute war der verunglückte Direktor Donat fast vergessen und der Bergführer Donat galt etwas! Wunderlich, wunderlich, wie das sich alles gemacht! Und wie ihm der Vater und Anschi und die Anna und dieses stille, kleine Haus am Dorfeingang Helfer gewesen! –
Die große Wende in Donats neuem Leben brachte die Stunde, da der Polterer Allmendinger ihn zu sich rief. Allmendinger, der Wirt und Großrat, jetzt noch mehr als früher der erste Mann im Tal, beschied ihn durch einen Hausdiener zu sich, gleich wie er, Donat selbst, als er noch das Hotel geleitet, jeweilen nach den Führern geschickt. In dem wohlbekannten Kontor, in dem er selbst einige Jahre gehaust, fand die Unterredung statt. Allmendinger, den er lange nicht zu Gesicht bekommen, erschien ihm gealtert. Es war, als hätten Alter und überwundene Sorgen, vielleicht sogar die Tatsache, daß er jetzt nicht mehr der reiche Mann zu scheinen brauchte, sondern es wirklich war, ihm eine ruhigere und würdigere Haltung gegeben. Er bot ihm einen Stuhl, versicherte sich, daß die Tür zum Nebenraum wohl geschlossen war, und begann dann das Gespräch mit den Worten: »Einmal muß man sich aussprechen, wenn man sonst nicht umeinander herumkommt.«
Donat war nicht leichten Herzens gekommen. Er war innerlich noch zu sehr im Bann seines Schuldbewußtseins. Er hatte schärfer als je zuvor sich erinnert, daß er diesen Mann einmal angelogen und so weit gegangen war, in seine Verwandtschaft zu treten.
»Ihr habt keinerlei Anlaß, Euch um mich zu kümmern«, lehnte er ab.
»Das ist schneller gesagt als getan, du Unband«, erwiderte Allmendinger mit einem Rückfall in sein Poltern. Dann fuhr er fort: »Einmal hast du mir auf die Beine geholfen.«
Donat wollte unterbrechen, aber der andere wehrte ab und bestätigte: »Ja, ja, auf die Beine geholfen.« Dann sprach er weiter: »Viel Bedenken freilich hast du nie gehabt. Aber nur wer das Äußerste wagt, bringt das Schwerste zustande. Das hast du jetzt wieder gezeigt. Es kann sich nicht mancher rühmen, daß er sich aus einem Fetzen von einem Leben wieder einen Sonntagsanzug zurechtgeschneidert hat. Du hast das fertiggebracht! Du warst einmal ein guter Mann für das Hotel Ewigschneehorn, aber du bist jetzt ein besserer für den Berg selber. Darum habe ich dich rufen lassen. Das erste Hotel von Aufdenmatten kann ohne den ersten Bergführer im Tal nicht mehr auskommen.«
Donat war es, als flöge ein Fenster auf und fahre der Wind herein, der hoch oben um die Gipfel pfiff. Jetzt war er nicht mehr ein schwerbedrückter Mann, jetzt war er nur noch der Führer, der auf dem ungangbarsten Berg Bescheid wußte; und er stand da, ein kleiner, strammer Kerl auf seinen genagelten Schuhen. »Wie ist das mit dem Geld der Frau Schelbert?« fragte er plötzlich.
»Was meinst du?« wollte der andere wissen.
»Wie geht es mit den Zinszahlungen?«
»Seit zwei Jahren zahle ich nicht nur Zins, sondern regelmäßig auch Kapital zurück.«
»Und es geht glatt?«
»Glatt!«
Eine Pause trat ein. Allmendinger schaute von seiner ganzen zweistöckigen Höhe auf Donat hinunter. Dann fuhr er fort: »Respekt! Respekt vor dir! Und, siehst du, das hat man gespürt, daß du kein rechter Gauner bist. Darum bist du auch wieder zu Ehren gekommen.«
Noch immer dachte Donat, daß es eigentlich wenig Zweck habe, ihn wegen all dieser Dinge rufen zu lassen.
Aber der Zweistöckige sprach weiter: »Ich muß jetzt wissen, ob du – ob ich auf dich zählen kann, wie mein Vater vor Jahren auf deinen Vater gezählt hat. Wen man dem anvertraut hat von seinen Gästen, der war versorgt.«
Donat erwiderte kühl: »Ich habe das Patent. Wer mich ruft, zu dem muß ich auch kommen, wenn ich frei bin.«
Allmendinger streckte ihm die Hand hin und sagte, das sei, was er wissen müsse. Er erwarte in der nächsten Woche eine Schar von Alpenklubisten. Er, Donat, möge sich bereithalten. Dann, von Donats Zurückhaltung nicht beschwert, fragte er lachend: »Hast du gehört, daß die Rosmarie nächsten Monat den künftigen Ewigschneehornwirt auf die Welt bringen wird?«
»Ich lasse ihr Glück wünschen«, erwiderte Donat trocken. Aber dabei dachte er mit einer Art Herzlichkeit an die Rosmarie und wie sie auch ihm einst nachgehüpft war.
»Vielleicht hätte sie lieber einen andern Vater für das Kind gehabt«, scherzte Allmendinger anzüglich. Er hielt nicht eben viel von seinem Schwiegersohn.
Donat achtete nicht mehr auf die Worte. Er war schon im Begriff zu gehen. Der Boden brannte ihm irgendwie unter den Füßen. Als er sich aber verabschiedet hatte und das Kontor verließ, sah er im Flurhintergrund eine Frau stehen. Er glaubte Rosmarie zu erkennen. Vielleicht trieb sie die liebe Neugier, vielleicht sogar eine leise Anhänglichkeit! Der Gedanke bewegte ihn seltsam und setzte ihn mehr wie alles in die Zeit zurück, da er hier gewohnt und gewirkt hatte. Vielleicht geschah es auch deshalb, daß er, als er die Hotelhalle durchschritt, meinte, Ursula Dülberg müsse die Treppe herabgestiegen kommen, im hellen Blond ihres Haares, in der Anmut der Gestalt.
Alles das verflog. Schon draußen vor dem Hause wußte sein Herz nichts mehr von den beiden Frauen. Da strich ihm wieder der freie, starke Wind ums Gesicht. Und die Gegenwart faßte ihn wieder an.
Er schritt dorfaus. Manchmal klang ihm ein kurzer Gruß eines Vorübergehenden ins Ohr, den er ebenso flüchtig erwiderte. Schon aber beschäftigte ihn die neue Aufgabe, die Allmendinger ihm für die nächste Woche in Aussicht gestellt. Ein neuer Donat Zurbriggen ging seines Weges. Die Vergangenheit hatte keine Macht mehr über ihn.
Als er heimkam, fand er Anschi und Anna in der Küche. Das Bügelbrett war wieder einmal über zwei Stühle gelegt. Anschi handhabte das Eisen und Anna nahm Wäsche aus einem Korb und streckte sie. Fensterlicht lag auf Anschis hellem, gelbem Scheitel; man sah die weißen Fäden nicht, die doch schon zahlreich wuchsen. Wie sonderbar, daß wir Geschwister sind! dachte Donat wie schon oft, sie so hell und hoch und ich so dunkel und wenig groß! Dann fiel sein Blick auf Anna. Auch sie wuchs! Schlank stieg das Bein aus dem groben Schuhwerk. Die Arme rundeten sich. Anmutig erhob sich der Hals aus den kaum mehr kindlichen Schultern. Er grüßte. »Tag, ihr zwei.«
»Tag«, gaben sie einstimmig zurück.
Er erzählte von seinem Besuch bei Allmendinger und den Aussichten der nächsten Woche.
Anschi scherzte: »Es hat den Anschein, als könnte bald niemand mehr ohne dich auskommen, Herr Bruder.« Dann wurde ihr Gesicht ernst, wie Gallus, ihr Mann, es oft gesehen, und sie fügte hinzu: »Das werden wohl wieder Wagehälse sein, die du führen sollst. Das wird wieder schwere Tage geben.«
Anna aber ließ ihre Wäsche und stand mit weiten, erschreckten Augen da. »Mußt du denn immer gehen?« fragte sie mit jäher Heftigkeit.
Es ging Donat durch und durch. »Freilich muß ich«, antwortete er und lachte sie dankbar an.
Da erzählte sie stockend: »Ich bin am Sonntag auf dem Friedhof gewesen . – – – Da liegen so viele –« Aber das Weinen kam ihr. Sie lief davon.
»Sie weint«, sagte Donat ganz benommen und erstaunt.
»Deinetwegen«, erwiderte Anschi. Dabei gingen ihre Gedanken einen seltsamen Weg. Unmögliches blitzte auf. Und versank wieder.
Donat, als sei er dem Kinde noch eine Antwort schuldig, sagte: »Es kann keiner für sein Blut.«
Anschi stand am Tisch. Ihr Blick ging ins Leere. »Das hat Gallus auch gedacht und gesagt«, murmelte sie.
Und er erwiderte gequält: »Versteh doch, Anschi!«
Anschi sagte: »Ich habe mir immer Mühe gegeben.«
Da ließ der Wunsch, ihr alles zu erklären, sie zu überzeugen, ihn zur Wurzel des seelischen Dranges hinabfinden, der ihn, wie einst den Gallus Stettler, erfüllte. Er sagte: »Man kann es nicht ändern, es ist der einfache Trieb hinauf, der jeden lebendigen Menschen bewegt und stößt. Irgendwie muß er in die Höhe.«
Anschis Blick flog weiter und weiter. Das war immer so gewesen, wenn sie es mit sich selbst schwer gehabt.
Donat fuhr fort: »Ich habe es einmal anders versucht. Jetzt versuche ich es so.« Und dann, erregter: »Irgendwo über die Welt! Und über einen selber hinaus! Es ist halt doch, daß man etwas sucht, was schöner und freier als die alltägliche Erde ist.«
Anschi kehrte mit Blick und Gedanken zu ihm zurück. Ihr Gesicht hatte jetzt wieder seine klare und heitere Ruhe. »So habe ich es immer gesehen«, sagte sie, »auch bei ihm, meinem Gallus.«
Dann fiel ihnen die Anna wieder ein.
»Wo ist sie denn hingelaufen?« fragte Donat.
Anschi lächelte. »Geh nur in ihre Kammer hinauf. Da wird sie wohl sitzen und noch immer nasse Augen haben.«
»Aber nein«, bestritt Donat mit ungläubiger Freude.
Anschi, ernster, entgegnete: »Ihr verdient es alle nicht, daß wir uns so zu Herzen nehmen, was euch angeht.«
Donat schwieg. Die Gedanken gehorchten ihm nicht mehr recht. Etwas trieb ihm das Blut zu Kopf. Seit er im Zuchthaus gesessen, war Anna, das Kind, der erste Mensch, den er gewonnen hatte. Er fiel in Versuchung, wirklich in die Kammer hinaufzueilen und sie herunterzuholen, das liebe, dumme, junge Ding. Dann aber ließ er es doch, von irgend etwas zurückgehalten. Ihm war aber lange nicht mehr so froh zumute gewesen. Und zuletzt suchte seine Freude noch einmal nach Worten. Dann sagte er: »Schön ist es schon, daß ich euch habe, den Vater und dich – und – und Anna!«
Anschi nahm ihre Arbeit wieder auf. »Je wirrer es in der Welt zugeht, um so mehr müssen die zusammenhalten, die zusammengehören«, antwortete sie. Dann legte sie die Säume eines Tuches zusammen, genau Linie auf Linie, und fuhr mit dem Eisen darüber. Nachher lag es so glatt und sauber da, wie ihre tapferen, zuversichtlichen Worte.
Der kleine Vorfall mit Anna blieb nicht ohne Folgen. Anschi beobachtete ihr Kind. Auch Donat blieb nicht blind. Zurbriggen sogar wunderte sich.
Anna kam aus der Schule und erzählte: »Wißt ihr, was man von Donat sagt?«
Anschi war zuerst betroffen; die Zeit, da man von Donat übel gesprochen, war noch nicht allzulang vorbei.
Aber Anna fuhr fort: »Man erzählt, so einen Kletterer habe es noch keinen gegeben. Von dem werde man bald in der ganzen Welt erzählen.« Dabei hatte sie heiße Wangen, und in den Augen leuchtete es.
Und Donat kam vom Gebirge heim.
Anna lief ihm in den Flur entgegen, nahm ihm Seil und Pickel ab und rückte ihm in der Stube den Stuhl zurecht, als sei sie seine Magd. Begann er dann von seiner Wanderung zu berichten, stand sie schlank und ein wenig aufgeschossen an der Wand und hing an jedem Wort, das von seinem Munde kam. Und sie staunte in sein Gesicht: die Wetterbräune der Haut verbarg nicht den scharfen Schnitt der Züge. Wie eine weiße Tafel schimmerte die gescheite Stirn. Sie hatte dieses Gesicht auswendig gelernt, lange bevor es die andern errieten. Anschi, die Donat ebenfalls zuhörte, merkte es jetzt, und ebensowenig übersah es Zurbriggen, der hüstelnd und nicht ganz beisammen in seinem Stuhl kauerte.
Zurbriggen blinzelte schlau. So hatte er immer die heimliche Tücke der Berge belauert. Am Abend sprach er mit Anschi.
Im Dorf läutete die Totenglocke. Ihre kurztönige Klage wimmerte ums Haus. »Sie läuten ins End«, begann Zurbriggen.
»Der Luise, der alten Hausiererin«, bestätigte Anschi.
»Nächste Woche werden sie mir läuten«, prophezeite Zurbriggen kurz und bestimmt.
»Redet nicht so, Vater«, zürnte Anschi.
»Ich sage nur, was ich weiß«, beharrte der Alte auf seiner Behauptung. Dabei warf er einen Blick nach seinem Steigzeug, dem Pickel, dem Seil und dem Hut, die unter dem eingerahmten Führerdiplom an der Wand hingen, als brauchte er sie für seine letzte Reise.
Anschi stutzte jetzt. Der Arzt war schon mehrmals beim Vater gewesen. Er hatte gesagt, der Husten gefalle ihm nicht.
»Warum soll ich nicht auch wieder einmal vom Platze kommen und wissen, wie es in der andern Welt aussieht«, scherzte Zurbriggen.
»Es wird dort auch wieder harte Stühle haben, Vater«, entgegnete Anschi wehmütig.
Da machte Zurbriggen wieder seine kleinen, schlauen Augen. »Sei dem, wie ihm wolle, ihr drei müßt es dann hier allein machen«, fuhr er fort. »Dann gebt mir halt auf das Kind acht.«
»Warum?« erschrak Anschi.
»Damit sie sich nicht in einen vergafft.«
Anschis Gesicht erhellte sich. »Das hat sie vielleicht schon getan«, erwiderte sie, selbst noch über die Wahrscheinlichkeit dessen nachdenkend, was sie sagte.
»Dann schicke sie bald in irgendeine Klosterschule«, riet der Alte.
Anschis Gesicht verlor seinen heiteren Ausdruck nicht.
Ein paar Sekunden schwiegen beide.
»Wäre das so schlimm, Vater?« fragte dann Anschi.
Zurbriggen machte eine unwirsche Bewegung. »Narretei«, zankte er. »So nah verwandtes Blut!«
Aber Anschis Miene blieb noch immer froh und hell. Und mit der Gelassenheit und Sicherheit, mit der sie nun seit Jahren im Hause waltete, entgegnete sie: »Das wird alles nichts helfen, Vater. Es ist etwas im Menschen, was ein anderer nicht anrühren darf.«
Zurbriggen horchte auf. Er wurde nicht sogleich fertig mit dem, was die Tochter gesagt hatte. Kopfschüttelnd saß er da und bewegte die Lippen, als kaute er an etwas herum. Aber er wunderte sich jetzt mehr über Anschi als über die Enkelin. Einen Willen hatte die, einen freudigen Willen!
Da hörte draußen das Glockenläuten auf, und es wurde sehr still. Und in der Stube war es fast dunkel. Den Alten schläferte. Er hüstelte und nickte.
Anschi drehte das Licht auf. Dann sagte sie laut: »Wehrt Euch, Vater! Es ist noch zu früh zum Schlafen.«