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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Anschi rief Donat in die Wohnstube.

Zurbriggen saß in seinem Stuhl. Der zum vielen Stillsitzen Verurteilte war etwas fett geworden: aber er besaß noch die alte Zähigkeit, und es schien, als ob die Jahre ihm nichts anhätten.

Die kleine Anna hockte neben ihm auf einem Schemel. Mit ihrem scheinigen Haar und den Augen, die ein von innen leuchtendes Licht hatten, glich sie ganz der Mutter. Das Kind war mit Donat noch nicht recht heimisch. Es hatte ihn nicht oft genug gesehen und staunte ihn jetzt ein wenig fremd an.

Etwas Fremdes, Unvertrautes lag auch in dem Blick, mit dem Zurbriggen den Sohn musterte. »Das hast jetzt davon«, sprach er ihn an.

»Was meint Ihr?« fragte Donat gequält.

»Das hast du von deinem Hochmut«, murrte Zurbriggen weiter. »Du kannst deiner Mutter dafür danken.« In ihm stritten noch Überraschung und Ärger über das, was Anschi ihm berichtet hatte. Er hatte eigentlich an dem Aufstieg Donats keinen äußerlichen Anteil genommen, ihn ob seiner Fixigkeit zeitweise ein wenig angestaunt, aber immer mit Mißtrauen das Kind der Elise, seiner Frau, in ihm gesehen. Und dieser Frau galt jetzt sein Groll mehr als ihm selbst. Was Donat betraf, so regte sich ihm gegenüber vielleicht mehr als bisher sein Blut. Auch war es auf ihn nicht ohne Eindruck geblieben, daß vorhin Anschi sich für den Bruder gewehrt hatte. Etwas wie Zorn darüber, daß nicht ihm, dem Vater, allein das Recht verblieb, diese Sache auszutragen, kam ihn auch an. Er war versucht, seine Krücken zu nehmen und zu dem Landjäger vor der Tür hinauszuhinken: »Scher dich zum Teufel, Andreas. Mit meinem Buben werde ich schon allein fertig.« Aber weil er das Nutzlose eines solchen Vorgehens wohl einsah, würgte er an weiteren Worten. Mühsam brachte er endlich den Satz heraus: »Was du dir eingebrockt hast, mußt du nun auslöffeln. Was nachher kommt, wissen wir nicht.«

»Ich schon«, erwiderte Donat. »Dann muß es halt noch einmal in die Welt hinausgehen.« Er wunderte sich nicht, daß der Vater ihm eigentlich keine weiteren Vorwürfe machte. Während er das von dem Wieder-in-die-Welt-Hinausgehen sprach, hatte er noch immer die seltsame und feste Überzeugung, daß er in diesem kleinen Vaterhaus eine von nichts und niemand auszureißende Wurzel behalte. Dunkel lag die nächste Zukunft mit Gericht und Strafe vor ihm. Schärfer als bisher empfand er seine Schuld. Er sah Frau Adrienne Schelbert vor sich, und in Gedanken an sie, die eigentlich kaum sich ihm feindlich gezeigt, drückte ihn das Unrecht, das er ihr angetan, wie noch nie. Eindeutig erschien ihm auch die Tatsache, daß er, geblendet von Eigennutz und Ehrgeiz, Beaudriers Vertrauen getäuscht hatte. Aber es war ihm, daß nichts Künftiges werde seinen Anfang nehmen können, ohne daß er hier bei Vater und Schwester noch einmal eingetreten. Dann fuhr er fort: »Was kommt, muß durchgefochten sein. Vielleicht, wenn alles gut geht, kommt einmal niemand an mir zu Schaden. Wenn ihr könnt, so behaltet mich in gutem Andenken.«

Zurbriggen nahm die zitterige Hand aus der Rocktasche, in der sie steckte, und gab sie dem Sohne. Es war keine zustimmende, sondern immer noch eine zögernde Gebärde, aber wenn er auch Donats Hand gleichsam nur mit zwei Fingern hielt, so zögerte er doch auch wieder, sie freizugeben, und in diesem unmerklichen Hinausschieben des Abschieds lag ausgedrückt, wie sehr er doch auch mit diesem seiner beiden Kinder verknüpft war.

Anschi, die neben ihrem Kinde gesessen, erhob sich jetzt und nahm die kleine Anna auf den Arm.

»Wohin?« fragte Zurbriggen.

»Donat will noch auf den Friedhof«, antwortete Anschi und wickelte das Kind so gründlich in ein Wolltuch, daß nur die kleinen blauen Leuchten der Augen daraus hervorschimmerten.

Zurbriggen arbeitete sich auch auf die Füße, als wolle er Donat das Geleit geben; aber als dieser ohne sich umzusehen die Stube verließ, ließ auch er sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen. Jetzt erst schlug ihm wieder wie ein Blitz ins Gehirn, daß vor seinem Hause der Landjäger stand. Die Schande, die über sein Haus gekommen war, fiel über ihn. Er ächzte. Aber in sich hineinfluchend, grub er die unvermeidliche Pfeife aus der Tasche und begann sie zu stopfen.

Inzwischen trat Andreas, der Landjäger, ein wenig beiseite, als Donat und Anschi mit dem Kinde auf dem Arm herauskamen.

Anschi drehte sich nach ihm um und sagte: »Ihr könnt wohl ein Stücklein zurückbleiben, bis wir im Friedhof gewesen sind. Durchbrennen tut Euch niemand.«

Er stutzte und wußte nicht recht, was er sollte. Aber die blonde Frau schien ihrer Sache so sicher, und die Anschi Stettler genoß in Aufdenmatten ein solches Ansehen, daß er eben nach ihrer Weisung tat. Unterdessen hatten sich an der Straße auch die Gaffer vermehrt. Kinder liefen hinter dem Geschwisterpaar und ebenso hinter dem Landjäger her. Dem Andreas wurde schwül zumut. Er hatte wohl etwa einen Vagabunden, auch einen Trunkenbold hinter Schloß und Riegel zu bringen gehabt, noch nie aber einen bisher angesehenen Bürger der Gemeinde abgeführt. Er warf manchmal hilflose Blicke um sich und versuchte mit halblauten Drohungen allzufreche Neugierige hinwegzuschrecken, als müsse er sich für seinen Häftling wehren.

Die Geschwister schritten ihrer Wege. Wohl hatten auch sie das Aufsehen bemerkt, das ihretwegen entstand. Aber all diese Leute blieben ihnen innerlich sonderbar fern. Anschi trug die kleine Anna, die aus ihrem Tuchkäfig mit luftigen Äuglein auf jeden Vorübergehenden schaute. Sie selbst schritt aufrecht und leicht dahin, und manchmal sprach sie zu Donat, als sei ein Tag wie ein anderer, vom hohen Schnee, der Aufdenmatten bedeckte, vom Spiel der Wolken, die vor einem blauen Himmel wie weißer Rauch durcheinanderquollen, und davon, daß irgendwo Sonne sei, weit in der Höhe, und daß sie heute wohl noch einmal sichtbar werden möge. Sie tat das alles bewußt und indem sie sich selbst mächtig zusammennahm, um dem Bruder eine Stütze zu sein. Donat war es, als führe sie ihn kameradschaftlich an der Hand. Aber auch auf die Gaffer übte ihre Sicherheit einen seltsamen Eindruck aus und machte sie kleinlaut, so daß mehr als einer ein wenig beschämt beiseite schlich.

Bald nachher standen die Geschwister unter dem Torbogen des Friedhofes. Der Landjäger war noch ein gutes Stück Weges zurück. Anschi sprach jetzt nicht mehr. Sie mußten im Schnee erst einen Weg treten, um ans Grab der Frau Elise Zurbriggen zu kommen. So stapfte Donat voraus. Anschi hinterdrein. Sie fanden die Tafel und konnten den Namen der Mutter noch lesen, obwohl die ursprünglich vergoldeten Buchstaben jetzt leer und blind waren. Donat fragte sich, was er hier eigentlich suche, und fühlte, daß er aus irgendeinem inneren Zwang blindlings den Weg gemacht. Fast gedankenlos sprach er zu Anschi: »Das letztemal war Sommer, als wir hier waren.«

Sie nickte, dachte an den Gegensatz von heute und damals, und Donat tat ihr sehr leid.

»Das war anders in jenen Tagen«, fuhr er fort, halb und halb zu sich selber sprechend. Und jetzt steigerte sich der Drang, der ihn hergeführt, zur Bewußtheit. Jetzt spürte er wieder wie damals den Geist der Mutter, der für sein Gefühl diese Stätte umschwebte. Er sprach weiter: »Jetzt könnte ich ihr sagen, wie es ist, wenn man ein Herr geworden ist.« Sein Mund verzog sich in schmerzlichem Spott, und er fügte hinzu: »Wahrscheinlich würde sie verstehen, wie ich in alles das hineingekommen bin.«

»Ich verstehe dich auch«, sagte Anschi still.

Die kleine Anna muckste nicht. Sie sah befremdet den Onkel an, der da, die Schuhe weiß vom Pulverschnee, stand und auf eine Tafel starrte.

»Damals wußte ich, was ich wollte. Jetzt weiß ich es nicht mehr«, murmelte Donat, und plötzlich kniete er wieder im Schnee wie damals und beugte sich über das Grab. Dabei spürte er gerade wie vor vielen Jahren stärker und stärker die seltsame Restgegenwart eines Menschen, der zu ihm gehört hatte, und hielt, ohne zu sprechen, Zwiesprache mit ihm: Das ist Narrheit, Mutter, das mit dem Hinaufwollen. Und ohne daß er es wußte, war ein Vorwurf darin gegen sie um der Erbschaft willen, die er von ihr in sich trug.

Anschi berührte mit der Hand seine Schulter. »Komm jetzt! Das hilft nichts!«

Er stand sogleich auf und sah sie mit seinen dunkeln Augen an. Dann gab er ihr die Hand. »Ade«, sagte er. »Ich sehe euch dann noch einmal, wenn es auch vielleicht lange dauert.«

Anschi sprach sich noch etwas vom Herzen, was sie drückte: »Tu alles, was an dir liegt, daß die Frau, die Frau des Beaudrier, später wieder zu dem kommt, was ihr gehört.«

»Was ich kann«, versprach Donat. Und noch einmal und fast ungeduldig: »Was ich kann.« Aber er wußte bei allem guten Willen nicht, wie er es anstellen sollte.

»Ich komme erst später nach«, beschied ihn Anschi, als er sich zum Gehen anschickte.

Er verstand wohl, daß sie nicht sehen wollte, wie der Landjäger ihn abführte.

Sie aber streckte ihm die kleine Anna entgegen.

Er legte die Hand um den Kopf des Kindes, von dessen Gesichtlein die Mutter das Tuch zurückgeschoben hatte. Seine Lippen trafen auf eine winterkalte Wange und dann auf einen unbeholfen dem seinen sich bietenden keuschen kleinen Mund. Ein nie erlebtes Gefühl durchrieselte ihn. Er vermochte die Erinnerung daran nachher nie mehr auszulöschen. Immer und immer und Jahre und Jahre behielt er ein kleines Heimweh nach dem Kinde im Herzen.

»Wünsch dem Onkel Glück«, hieß Anschi ihr Töchterchen.

Das war noch immer nicht recht heimisch mit Donat. Es sprach nicht. Aber sein verlegenes Gesichtlein hellte sich auf, und weil die Mutter es offenbar wünschte, lächelte es lustig mit den blauen Augen.

Donat machte sich jetzt auf den Weg.

Anschi verweilte, das Kind auf dem Arm. Sie dachte an den Landjäger draußen am Tor und an die andern, die auf das klägliche Schauspiel warteten. Sie sah in Gedanken Donat hinaustreten und zum Arrest schreiten. Sie erlebte, noch immer am Grabe zögernd, ein Stück der Zukunft: Abreise des Bruders nach dem Hauptort, Gerichtsverhandlung, Strafe.

Als sie nach geraumer Zeit den Friedhof verließ und sich mit dem Kinde nach Hause wandte, war die Straße leer. Donat hatte seinen Weg angetreten. – –

Wochen des Schimpfens und Lästerns folgten. Wirtshäuser und Zeitungen waren voll davon. Eine größere Frechheit war, so schrieb und redete man, noch nie dagewesen, als die, mit der der Direktor des Hotels Ewigschneehorn die arme Witwe Schelbert um ihre Erbschaft gebracht und sich selbst emporgeholfen. Der Bericht über die Gerichtsverhandlungen war kurz. Donat hatte ein volles Geständnis abgelegt. Es wurde indessen ermittelt, daß das Hotel Ewigschneehorn die Einlage, die Donat gemacht, kaum zu verzinsen vermöge, und daß ein schlechtes Jahr wohl geeignet sein könnte, sie zu gefährden.

In der Folge erkannte man zwar in der Talschaft, daß die verschiedenen Anlagen, die Donat zur Hebung des Kurortes Aufdenmatten geschaffen, ihren Zweck voll erfüllten und der Allgemeinheit immer mehr zugute kamen. Dennoch entrüstete sich diese immer wieder darüber, daß so viel Unternehmungsgeist und Erfolg im Dienste der Öffentlichkeit mit so viel Gewissenlosigkeit gepaart gewesen. Man genoß weiter behaglich die Vorteile, die man Donat Zurbriggen, der beinahe Ammann geworden, zu verdanken hatte. An ihm selbst aber ließ man keinen guten Faden. Seine Niedertracht war in aller Munde. Henry Krebs und Luc Schelbert rückten ins allgemeine Interesse, während Frau Adrienne sich mehr im Hintergrund hielt. Die Leute von Aufdenmatten wollten dartun, daß nur ein ganz abgefeimter Spitzbube sie so hätte hereinlegen können, und zogen deshalb besonders scharf gegen Donat los. Die temperamentvolle Luc half ihnen weidlich, während es dem, Donat immer noch innerlich ein wenig verbundenen Henry des Hasses und Schmähens fast zuviel wurde.

Henry fand aber im Dorf nicht die erwartete Beschäftigung. Er war deshalb froh, daß es dem Flackerflämmlein Luc da oben auch bald zu wenig Wind hatte. Als bald darauf zwischen Allmendinger und Frau Schelbert ein Abkommen zustande kam, das ihr die Verzinsung ihres Vermögens einigermaßen sicherte, beeilte sich der hübsche Henry mit seiner inzwischen zur Braut beförderten Liebsten und deren Mutter wieder nach der französischen Hafenstadt zurückzukehren, aus der sie hergekommen.

Ein paar Wochen später verurteilte das Gericht, das sich nur mit der Tatsache der Erbunterschlagung zu befassen hatte, Donat Zurbriggen in einem Anfall ungewohnter Strenge zu einer Arbeitshausstrafe von drei Jahren. In diesen Tagen las man in Aufdenmatten die Zeitungen, die die Gerichtsverhandlungen schilderten, noch mit Spannung. Aber wie es so geht: Als die Sensationslust befriedigt und Donat aus einem Bösewicht ein armer Sträfling geworden war, verwandelte sich die Feindseligkeit einzelner in Mitleid. Da und dort begann man sich seiner Tüchtigkeit und seiner Verdienste zu erinnern. Dann pflügte die Zeit allmählich den Acker des Übelwollens um und abermals um, bis da und dort wieder das Pflänzlein Teilnahme hervorsproß. Am deutlichsten wendete sich diese dem alten Führer Zurbriggen mit Tochter und Enkelin zu. Es war, als sei ihre Rechtlichkeit durch Donats Fehltritt erst ins helle Licht gerückt worden. Man begegnete ihnen im Orte mit besonderer Rücksicht, zuweilen mit einer scheuen Hochachtung. Anschi und ihr Vater kamen freilich wenig unter die Leute. Anna, das Kind, allein, das bald zur Schule ging, wurde täglich im Dorfe gesehen.

Vater und Tochter trugen den Kummer um Donat und sein Geschick ein jedes nach seiner Art. Wie sie während der Jahre seiner früheren Abwesenheit nicht von ihm gehört hatten, so erfuhren sie auch jetzt nicht von ihm. Und wie sie früher seiner selten Erwähnung getan, so sprachen sie auch jetzt kaum von ihm. Und doch wußte jedes vom andern, wie oft es mit seinen Gedanken bei dem Verurteilten war. Zurbriggen unterhielt sich mit seiner Pfeife. Während er qualmte und sog und stocherte, entfuhr ihm manchmal ein: »Teufelsbub!« Dabei dachte er an den Sohn, wie er einen fast eisernen Willen zum Emporkommen gehabt und dem toten Aufdenmatten neues Leben und neuen Verdienst geschaffen. Heimliche Bewunderung mischte sich mit nagendem Ärger über die der Familie widerfahrene Schmach. Aber am Grunde all seiner Empfindungen lag so etwas wie ein Heimweh nach dem verlorenen Sohn, wie er es früher nie empfunden. Anders Anschi. Sie hatte immer am Bruder gehangen. Wenn sie ihn auch anfänglich nicht recht verstanden und ihm das Unrecht, das er der armen Frau Schelbert zugefügt, im Grunde und trotzdem sie es ihm nie gezeigt, lange nicht recht hatte verzeihen können, so waren ihre Gedanken eigentlich doch immer bei Donat. Es verging kein Tag, ohne daß sie den in einsamer Haft Befindlichen mit einem Wunsch oder einem Zukunftsplan besuchte. Von Zeit zu Zeit sandte sie ihm Nahrungsmittel. Zuweilen legte sie ihm ein Buch bei, und einmal war es eines, das ihrem Manne gehört hatte und von berühmten Bergsteigern und ihren Gipfeln handelte. Es war ihr, als könne sie damit dem Eingeschlossenen ein Stück Natur, ein wenig von der klaren, starken Luft der Berge in die Zelle tragen. Sie empfand seine Haft als einen Schatten, der sich wieder heben mußte, und sie erwartete nachher ein um so helleres Licht, das über dem Leben des Bruders liegen werde. Auch sie war immer wieder seines rastlosen Vorwärtsstrebens und seiner Erfolge eingedenk. Wie sehr er aber der einzige war, der neben Gallus, dem Vater und ihrem Kinde in ihrem Leben Bedeutung hatte, das bewies vielleicht am ehesten die Tatsache, daß sie der kleinen Anna, wie man den Kindern Märchen erzählt, von Donat sprach, dem Donat, der einmal wiederkommen werde und einer sei, der noch einmal etwas Besonderes werden würde.

Die Szene auf dem Friedhof, da die Mutter und sie von Donat Abschied genommen, hatte im Gedächtnis der kleinen Anna Wurzel gefaßt, und sie brachte der Erzählung Anschis ein waches Verständnis entgegen. Bald begann sie die Geschichte von Donat zu lieben und wollte oft vor dem Schlafengehen sie noch hören, wie sie auch nicht satt werden konnte, zu lauschen, wenn Anschi von Gallus, dem Vater und Führer, erzählte und sagte, seinesgleichen werde es nicht mehr geben. –

Donat Zurbriggen trug unterdessen seine Strafe. Sein bisheriges Leben hatte ihn weit in die Welt geführt. Nun wanderte er über nähere, aber vielleicht noch viel wirrere Wege, die seiner eigenen Seele. Seinem Aufstieg war ein so plötzlicher Absturz gefolgt, daß er eine Weile wie betäubt in einer Tiefe lag. Allmählich dämmerte ihm dann das Bewußtsein wieder. Er sah das Ziel, dem er zugestrebt. Und es war unerreichbar geworden. Aber auch sein Ehrgeiz war erlahmt. Er begriff jetzt manchmal nicht mehr, daß er unter seinem Stachel aufwärts und aufwärts gehastet war. Das Endziel hatte an Wert und Lockung eingebüßt, es schien ihm jetzt, als sei es aller Mühe und Unruhe, aller Angst und Gewissensnot nicht wert gewesen. Er fühlte, daß er ein zweites Mal diesen Weg nicht gehen würde. In diesen Stunden der Erschlaffung suchten Charles Beaudrier und seine stille Geliebte ihn heim. Ein jähes Schuldbewußtsein raubte ihm den Schlaf und trieb ihn unter Tag oft rastlos in seiner Zelle auf und ab. Auch die Mitteilung des Strafanstaltsdirektors, daß der durch ihn verursachte Schade infolge des Abkommens zwischen Allmendinger und Frau Schelbert doch einigermaßen gutgemacht sei, brachte ihm noch keine Erleichterung. Da begann die körperliche Arbeit, zu der die Sträflinge angehalten wurden, ihn von seinen Grübeleien abzulenken, und, von ihr für Stunden erlöst, begann er sich ihr mit Leidenschaft hinzugeben. Er sägte und spaltete Holz. Er handhabte auf dem Felde Spaten und Schaufel. Er wandte sich der Schreinerei zu und lernte den Hobel und das Holzmaß führen. Dabei blieb er ein Alleingänger. Vor den Mitgefangenen empfand er eine tiefe Scheu. Sie waren zum Teil rohe, zum Teil scheue, scheele Gesellen, und er war froh, daß er während der Arbeitszeit nicht mit ihnen zu sprechen brauchte und nach dieser in seine Einzelzelle zurückkehren durfte. Hier aber in der Stille, beim Licht der Nachtlampe, empfing er in Gedanken andere und willkommenere Gäste. Da kam Anschi, die zuweilen schrieb, Anschi, die vom Vater und von der kleinen Anna erzählte, Anschi, die Nahrungsmittel und Bücher schickte. Der Krüppel Zurbriggen klapperte auf seinen Krücken durch die Zelle. Das Annelein lächelte ihn an, dessen Wachsen die Mutter in ihren Briefen schilderte. Manchmal spürte er noch auf seiner Lippe eine leise Berührung wie vom kühlen, keuschen Kelch einer Blume und erinnerte sich des unbeholfenen Kusses, mit dem das Kind von ihm Abschied genommen. Wurde ihm dabei das Herz warm, so fuhr es über dieses Herz zu anderer Zeit plötzlich wie ein würziger, rauher, ungestümer Wind. Das war, wenn er in Gallus Stettlers Bergbuch las, auch etwa wenn er in Anschis Briefen ein Wort der Erinnerung an Stettlers und des Vaters Führerfahrten fand. Ein neuer, noch unbewußter Trieb fuhr ihm ins Blut. Er hatte weniger mit seinem Kopf und dessen Grübeln und Planen als mit seinen Muskeln zu tun, diesen Muskeln, denen er früher wenig abgefordert hatte, die aber jetzt bei der vielen körperlichen Betätigung sich spannten und hart wurden. Sein schlanker, biegsamer Körper verlor ein wenig das Herrenhafte, Weiche, vielleicht das Zierliche und Gezierte, das für den Hoteldirektor eben recht gewesen. Etwas Zähes, Sehniges trat an seine Stelle. Der Körper begehrte ein ihm bisher verwehrt gewesenes Recht. Als Donat aber zu spüren begann, wie jener sich stählte, erwachte in ihm manchmal die Freude, wenn er Lasten mit nie gewohnter Leichtigkeit zu heben und ohne zu ermüden stundenlang sein Werkzeug zu führen vermochte. Einmal, da er einen Blick in den kleinen Spiegel mit dem verblichenen Goldrahmen warf, der an der Wand hing, schaute ihm ein anderes Gesicht als sonst entgegen. Die hohe, gerade Stirn, über der das schwarze Haar sich dichter lockte, und die schmalen Backen waren gebräunt, und die Augen, in denen viel Unruhe und viel Hunger nach allerlei Dingen gewesen, schauten jetzt nachdenklich und wie erfüllt von einer inneren Weisheit daraus hervor. Oft stieg er in seiner Zelle auf einen Stuhl und riß das hochgelegene vergitterte Fenster auf. Dann quoll ihm der Nachtwind kalt und heftig entgegen, zog über ihn hin und schien nach der Tür zu suchen, durch die er wieder hinausbrausen konnte. Draußen in der Nacht, kaum erkennbar, wie winzige Schußwölkchen, die wieder zerfließen, standen kleine Sternhaufen im abgründig dunkeln Himmel. Dieser aber weckte in ihm das Gefühl an ferne, ragende, wuchtige, unerschütterliche Berge, die irgendwo denselben schwarzen Himmel trugen und über denen dieselben kleinen ängstlichen Sterne schimmerten. Und plötzlich wußte er um Alpenrosen, die in Geröllhalden, Gentianen, die auf Sumpfwiesen wuchsen. Es war ihm, als sei in der weiten Nacht ein Rauschen stürzender Wasser, als klänge in einer unglaublich fernen Höhe das dumpfe Donnern einer Lawine. Steine kollerten unter den Füßen fliehender Gemsen, und aus steinigen Mulden und über Moränen klangen die Pfiffe der Murmeltiere. So deutlich wurde ihm das Wesen der Bergnacht, daß er ganz benommen die Hand von der Holzrahme des Fensters nahm und sie betrachtete, weil ihm war, sie habe auf dem Granit eines Felsens geruht.

Nach und nach merkte Donat, daß seine Arbeitsstunden im Freien, die Berührung mit dem Boden, den er umgrub, mit der Tanne, die er zersägte, ihn der Natur näher und näher brachten, daß diese gleichsam etwas von seinem Innersten einsog, daß aber mehr als seine unmittelbare Umgebung ihm das Wesen seines Heimattals aufging. Und nun ging allmählich alle Wanderlust, aller Drang in die Weite und alles, was früher Hunger nach Höherkommen gewesen, in einem Heimweh nach Aufdenmatten unter, aber nicht nach dem Ort der Fremden, des Vergnügens, des Herrentums, sondern nach Waldpfaden und Ziegensteigen, nach Wegen, die keine mehr waren, aber weit über allen Niederungen unter Gletschern und Felsen endeten. Er faßte sich an die Stirn. Was fuhr da in ihn hinein? Oder was wachte da spät und jäh in ihm auf? Wurde in ihm, der ein Kind seiner lebensunzufriedenen Mutter gewesen, auf einmal der Vater und des Vaters Blut und Art lebendig?

Er warf sich auf sein hartes Bett, grub den Kopf in seine wühlenden Hände und litt; denn es schien ihm, als sei ihm gerade der eine Weg, die Rückkehr an den Ort, wo er schuldig geworden, verschlossen. Ihm blieb doch nur die Flucht in eine neue und ferne Welt, wo man ihn nicht kannte, und der Versuch, dort sein Leben neu aufzubauen. Aber diese Flucht freute ihn nicht, und Wille und Mut zu neuen Versuchen fehlten ihm.


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