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Einundzwanzigstes Kapitel

Die Tür war ins Schloß gefallen. Donat bot der Frau einen Stuhl. Sein Herz war von einer leisen Freude durchwärmt, als sei etwas von seinem alten Arbeitskameraden Beaudrier zu ihm zurückgekommen. Nur die Nachbarschaft der zwei Jungen im Nebenraum störte ihn.

»Sie haben uns lange umsonst gesucht«, begann Frau Schelbert das Gespräch. Dann mit leiserer und bewegter Stimme fragte sie: »Sie haben Charles Beaudrier gekannt?«

Donat war es, als könne er nicht rasch genug zur Sache kommen. »Ich hätte Ihnen Ihr Erbteil zu übergeben gehabt, wie Sie wohl schon wissen«, gestand er hastig. Dann schien ihm, als sei Frau Adrienne wichtiger, vom Menschen, als vom Erblasser Beaudrier zu hören, denn sie fragte: »Was hat er Ihnen von mir erzählt?«

Er entgegnete: »Er sprach viel von Ihnen. Sie waren wohl der eigentliche Inhalt seines Lebens«, und das, was zwischen den beiden Menschen geschwebt hatte, war ihm eigentümlich gegenwärtig.

In Frau Adriennes gute Augen traten Tränen, die sie still fortwischte. »Es geht im Leben immer anders als man denkt«, klagte sie.

Aber jetzt erinnerten sich beide, daß sie nicht zusammengekommen waren, um Erinnerungen auszutauschen, sondern daß etwas sehr Gegenwärtiges sie beschäftigte.

Donat sprang wieder mitten in diese Sache hinein. »Sie haben ein beträchtliches Kapital zugut, Frau Schelbert«, stellte er in hastiger Rede fest. »Ich hielt es längere Zeit zu Ihrer Verfügung. Dann – es ergab sich Gelegenheit – Sie waren nicht aufzufinden – habe ich das Geld für mich verwendet. Es steckt jetzt in den hiesigen Betrieben, und ich kann es in den nächsten Jahren nicht flüssig machen. Die Zinsen, ich werde versuchen, sie aufzubringen. Das Kapital – ich habe das Geld jetzt nicht mehr zur Hand. Sie müssen mir Zeit lassen.«

Frau Adrienne stutzte. Henry hatte ihr nicht umsonst Andeutungen gemacht. Zwar dieser Donat Zurbriggen sah nicht aus wie ein Schwindler. Aber man konnte sich in den Menschen täuschen!

»Sie – Sie wollen doch nicht sagen, daß ich über mein Eigentum nicht verfügen kann?« fragte sie erstaunt.

»Sie waren nicht zu finden«, wiederholte Donat und spürte zum erstenmal, daß er sich anklagte, indem er sich entschuldigte.

»Das ist doch nicht recht«, stotterte Frau Schelbert bestürzt.

»Wenn ich Zeit bekomme – – –«, gab Donat abermals zu bedenken.

»Ich kann das nicht allein entscheiden«, erklärte die hilflose, kleine Frau und blickte nach der Tür, hinter der Luc und Henry warteten.

Beider Stimmen waren lauter geworden. Aber es hätte dessen nicht bedurft. Die beiden im Nebenraum hatten mit aller Aufmerksamkeit gelauscht, und sie traten ein, ohne erst gerufen zu sein. Sie waren wie zwei losgekoppelte Jagdhunde, zum Bellen bereit, nur noch einen Augenblick unschlüssig schnuppernd.

»Er kann uns das Geld nicht geben«, berichtete ihnen Frau Adrienne kleinlaut. »Und wir brauchten es doch dringend.«

Um so eifriger nahm sich jetzt Luc der Sache an. Sie hatte schon allerlei Verwendungsmöglichkeiten für das in Aussicht stehende Vermögen erwogen. »Ich wüßte nicht, warum nicht«, fiel sie ein. »Es gibt ja Wege genug, dem Herrn Beine zu machen.«

Henry stand im Hintergrund. Er betrachtete Donat. Noch hatte er einen Rest der alten Kameradschaftlichkeit in sich, aber daneben überlegte er sich alles, was sich in den Jahren ihrer Bekanntschaft ereignet hatte. Der Meister Donat war sehr krumme Wege gegangen! dachte er. »Ich habe dir von Anfang an nicht recht getraut«, sagte er jetzt.

Donat wollte erwidern. Aber plötzlich schien ihm alles völlig nutzlos. Plötzlich stürzte vor seinen Blicken etwas ein. Die Gründe, mit denen er sich auszureden gedacht hatte, versagten. Er sah, daß er in der Tat an sich gedacht, über sich alles andere vergessen hatte! Er begann zwar wieder zu sprechen: »Ich kann Ihnen das nicht so recht erklären. Ich war ein junger Mensch, der nichts hatte und doch hinaufkommen wollte. Es schien alles natürlich. Ich wollte Sie nicht schädigen – ich –« Aber er fühlte, daß das alles nicht half.

Frau Schelbert senkte den Kopf. Donat tat ihr leid.

Henry jedoch, durch einen bedeutsamen Blick der hübschen Luc aufgestachelt, fragte mit erhobener Stimme: »Also kurz und klar: Bekommen die Damen ihr Geld oder nicht?«

»Nach und nach – in – – es gehört jetzt nicht mir –« wehrte sich Donat noch immer.

Da sprang Luc wie ein junges Pferd an der Leine.

»Wofür hält man uns eigentlich?« entrüstete sie sich. »Glaubt man, daß man uns nasführen kann! Wir werden uns wohl unser gutes Recht zu schaffen wissen.«

»Das werden wir«, bestätigte Henry, ein gut Teil protziger, als ihm zumut war, aber bemüht, seiner Flamme zulieb zu leben. Er hatte die Firmatafel eines Advokaten an der Hauptstraße gelesen. Einem solchen konnte man die Angelegenheit übergeben, mit der er selbst aus irgendeinem unklaren Gefühl nicht mehr als nötig zu tun haben wollte. Er wich auch schon rücklings nach der Tür. Ein merkwürdiges Gefühl von Respekt vor Donat zwickte ihn immer noch.

Luc schob ihren Arm in den seinen. Ihre spitze, kleine Nase stand wie ein Schnabel in die Luft, als wäre sie bereit, auf den Gegner loszupicken. »Das wäre noch, wenn man um sein eigenes Eigentum betteln müßte«, zankte sie, und schon zog sie Henry aus der Tür.

Frau Adrienne folgte den beiden langsam. Sie war stark unterm Pantoffel der Tochter, aber sie hatte die Schultern im Leben zu oft unter allerlei Last ducken müssen, so fehlte ihr auch jetzt die Siegesgewißheit der beiden andern.

Eine Tür stand offen. Vielleicht hatten die Abziehenden auch die Außentür nicht geschlossen. Donat war es, als scheide ihn nichts von der Straße, auf der die andern sich entfernten. Er hörte sie in Gedanken. Jetzt standen sie still und berieten. Jetzt traten sie bei Hilty, dem Fürsprecher, ein. Der Rücken war ihm kalt. Und die vorige Erregung war wie eingefroren. Aber seine Urteilskraft war klarer als je. Nur sah sie die Dinge ganz anders als früher. Was gleichsam ein schlauer Plan, ein Weg, der niemand schaden konnte, gewesen, war jetzt – Diebstahl. Ohne Zweifel und Markten. Und mit dem Aufstieg war es vorbei! Von nun an konnte er es halten wie die Mutter selig, wünschen, wünschen, daß er auch einer von denen wäre, die es besser haben! Derweil verhandelten die drei mit dem Anwalt! Und später – die Polizei – das Gericht – – –

Waren denn im Hause alle Fenster und Türen offen geblieben, und Wind sauste herein, und Wind sauste um seine Ohren, und Wind wühlte ihm im Haar? Donat grübelte und grübelte. Und nach einer Weile fragte er sich, wieviel Zeit ihm noch blieb. Und nach einer weiteren Weile hatte er das Bedürfnis, unbeachtet beiseite zu schleichen, heim zum Zurbriggenvater, dem Bergführer, und heim zu Anschi und dem kleinen Ding, dem Annelein. Nicht, um zu jammern oder gar, um sich zu verbergen. Nur, um sie alle noch einmal zu sehen.

Er stand und stand. Das Sausen ging noch immer. Und da öffnete sich die Tür zum zweitenmal, nur noch viel heimlicher. Und wieder äugte die Rosmarie durch den Spalt. Weil sie ihn aber allein sah, hüpfte sie herein, wie ein stelzbeiniger Vogel hüpft. Und gleich darauf hing sie ihm wieder am Halse und flüsterte, er solle gleich ins Eßzimmer hinüber kommen, der Vater sei zurück, auch die Mutter dort. Sie wüßten schon Bescheid und seien natürlich einverstanden.

Donat wachte auf. Er lächelte. Er nickte sogar vergnügt. Er gab Rosmarie den Kuß, zu dem sie ihm die Lippen bot. Und dabei dachte er, daß sie eigentlich ein ganz hübsches Mädchen sei. Aber das Sausen war noch im Hause oder in seinem Kopfe.

Er wußte nicht, wie er in die kleine Eßstube hinüberkam und wie er das durchlebte, was eigentlich in keiner Weise erstaunlich war: Der Großrat Allmendinger und seine Beschließmamsell von einer Frau machten ihm vergnügte, zutrauliche Mienen. Allmendinger kehrte den großen Mann heraus und sagte etwas gönnerhaft: »Du hast Glück, Donat Zurbriggen. Du machst deinen Weg in einem Alter, in dem andere erst anfangen.« Damit schüttelte er Donat väterlich die Hand und tat nicht dergleichen, als habe er einmal seine Geldhilfe dringend nötig gehabt. Die schüchterne Hand gab ihm auch die Frau. Man sprach, was man eben bei einer Verlobung spricht. Rosmarie hing ihm am Ärmel und sah aus, als müßte sie vor Freude darüber, daß sie einen Mann bekam, zerspringen. Donat selbst brauchte nicht viel zu tun und zu sagen. Die andern redeten genug. Sie wunderten sich nicht einmal, daß er ein wenig gedankenabwesend schien, oder schrieben es ihm als ein »In-seine-Geschäfte-Versunkensein« gut. Es ging die Rede von baldiger Hochzeit und davon, daß ein Hotelwirt eigentlich keine Aussteuer brauche. Dann bestellte Allmendinger ein festliches Nachtessen und verriet dem Kellner, den er damit betraute, lachend, warum es heute abend so hoch hergehe und Champagner auf den Tisch müsse. Und das Nachtessen wurde aufgetragen. Man stieß an. Man gratulierte dem Brautpaar. Angestellte klopften an die Tür und brachten ihren Glückwunsch an. Die Neuigkeit von der Verlobung gehe wie ein Lauffeuer durchs Haus, erzählten sie. Und Donat fühlte, wie er in aller Leute Mäulern war. Er hörte, wie andere Neuigkeiten sich mit der von seiner Verlobung mischten. Zischeln und Raunen hörte er, und das Echo, ein wirres, unklares Sausen, ging noch immer in seinem Ohr.

Eben stieß er wieder einmal mit Rosmarie an. Eben spitzte sie wieder die ungenügsamen, weil vordem noch nicht geküßten Lippen. Da meldete ein Page den Rechtsanwalt Hilty, der Donat dringend zu sprechen verlange.

Allmendinger, schon champagnerselig, grölte, was dem Mann einfalle, so spät noch zu kommen! Man lasse sich nicht stören! Der Mensch solle andern Morgens wiederkommen.

Aber Donat stand schon in der Tür. Sein Gesicht war fahl, und der Kopf fiel ihm auf die Brust. So ging er ohne ein Wort dem Boten nach. – – –

Eine Stunde später glich das Hotel Ewigschneehorn einem Bienenkorb. Alles lief durcheinander. Allmendinger fluchte herum. Frau Rosa versteckte sich in ihrer Schlafstube. Rosmarie lehnte in einer Ecke des Eßzimmers, wo noch die Reste der Festmahlzeit standen, und weinte zum Steinerbarmen. Die Nachricht durcheilte das Haus, daß der Landjäger des Ortes soeben den Direktor Donat Zurbriggen in Haft genommen habe.

Die Unterredung Donats mit dem Anwalt hatte nicht lange gedauert. Ihr Ergebnis hatte darin bestanden, daß dieser den bereits erwirkten Verhaftbefehl ohne Zögern hatte zur Ausführung bringen lassen, da Donat auch dem Vertreter der Schelberts die Unterschlagung des Geldes und die Unmöglichkeit, es zurückzugeben, eingestanden. Donat hatte der Polizei gegenüber den Wunsch geäußert, die Nacht noch im väterlichen Hause zubringen zu dürfen. Man hatte aber das armselige Arrestlokal des Ortes für die richtigere Schlafstätte angesehen und ihm nur für den nächsten Tag noch einen Besuch bei Vater und Schwester gestattet.

In der darauffolgenden Nacht saß auf der Pritsche der Arreststube ein stiller Mensch, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die hohlen Hände gelegt. An seinem Geiste gingen Gestalten um Gestalten vorbei: Redende, lästernde, jammernde Leute, die Angestelltenschaft des Hotels Ewigschneehorn, die Einwohnerschaft von Aufdenmatten, Allmendinger, der Polterer, und die zärtliche Rosmarie, Vater und Schwester im Hause am Dorfende, Ursula, die immer noch wie in Nebeln einer Ferne sichtbar blieb, und Charles Beaudrier. Die Gedanken an den alten Beaudrier waren seltsamer, fast kindischer Art. Was würde der Alte zur Ausführung seines Auftrags sagen? fragten sie und fragten, ob er sehr zornig sein würde. Rosmarie blieb fern und gleichgültig wie die Laterne, die draußen vor dem Arresthause brannte und ihren Schein durchs trübe Fenster warf. Zu Anschi und dem Vater zog es den Grübelnden, und doch hatte er Angst vor dem Wiedersehen mit ihnen. Ursula jedoch – die war wie in einer anderen Welt. Die war nie unerreichbarer gewesen als jetzt.

Unterdessen verlebte Aufdenmatten die Nacht nach seiner Art. Allmendinger war zuerst stutzig gewesen, wie ein Stier, den man mit einem Beil vor die Stirne geschlagen. Und als er dann genug herumgeflucht hatte, behauptete er, es sei ihm nie wohl gewesen um Donat. Er habe immer geahnt, daß da etwas nicht stimme. Wenn die verdammten Weiber nicht gewesen wären, würde er nie daran gedacht haben, den Zurbriggen in seine Familie aufzunehmen. Frau Rosa, die aus ihrem Winkel wieder hervorkroch, verteidigte sich, sie habe ja überhaupt nichts zu sagen! Und wer anders als ihr Mann und Großrat habe den fatalen Menschen ins Haus geholt! Rosmarie machte anfänglich Miene, zu ihrem neugebackenen Bräutigam zu halten. Die Aussicht, eine alte Jungfer werden zu müssen, schreckte sie. Und Donat war ein ansehnlicher Mann. Sie liebte ihn, soweit ihr enges, eitles Herz das zustandebrachte, und als sie sich ausgeweint hatte, stellte sie sich einen Augenblick, als ob sie dem Verhafteten nachstelzen wollte. Als sie jedoch gewahr wurde, wie ungünstig für Donat die öffentliche Meinung war, da hängte auch sie das Mäntelchen nach dem Winde und fing bald an, vor Leuten, die sie bemitleideten, sich zu bekreuzigen: Jesses, was sei der Zurbriggen für ein durchtriebener Schelm! Die Angestellten des Hotels revoltierten: Der Direktor! Der Mann, dem man nie genug habe arbeiten können! Recht geschehe dem, der alle an der Nase herumgeführt! Und die Straße, in die die Kunde von dem, was geschehen, hinauslief: Wo zwei sich begegneten, blieben sie stehen: »Hast du schon gehört?« Wo einer auf einer Hausschwelle stand, trat ein anderer hinzu: »Weißt du schon das Neueste?« Wo ein Weib mit dem Oberkörper aus dem Fenster hing, stand in der Straße ein anderes still, bereit, das Ereignis des Abends mit ihm zu besprechen. Ein Dieb war er, der Direktor Donat! Und hatte ein solches Wesen machen können in der Gemeinde! Der Ammann berief den Rat zu einer Nachtsitzung. Da steckten die gleichen Männer, die eben noch Donat, dem Beglücker Aufdenmattens, die politische Führung angetragen, die Köpfe zusammen und ließen keinen guten Faden an ihm. Man fand jetzt heraus, sein Fall könne sehr wohl zum Schaden der ganzen Talschaft ausschlagen. Donat habe Aufdenmatten in die Schulden hineingeritten. Allen seinen Plänen habe, wie ihm selbst, etwas Abenteuerliches angehaftet. Alle fielen von ihm ab. Und in einem Zimmer ihrer Pension saßen die drei Urheber allen Lärms, Frau Adrienne, ihre Tochter und Henry, auch beieinander. Nur Luc, der Zänkischen, war wohl. Henry ließ sich von ihr leiten, ohne ganz mit sich zufrieden zu sein. Frau Adrienne hing den Kopf und war mehr ängstlich als glücklich.

Nur zwei Menschen erfuhren von all dem an diesem Abend noch nichts. Die wohnten zu sehr für sich allein in ihrem Dorfendhause. Die standen auch in der Frühe des andern Morgens noch arglos aus ihren Betten auf. Anschi half dem Vater in seinen Stuhl, und Anschi nahm die hellhaarige Anna aus den Federn, die einen Mund wie eine junge Blüte und blaue Augen wie ihre Mutter hatte, und nun schon gehen und lachen und plaudern und jauchzen konnte.

Anschi summte dabei vor sich hin, das Herz erfüllt von frohem Erstaunen darüber, wie das Kind gedieh und wie sie in dem und jenem Zug und immer wieder in einem neuen seinen Vater, den Gallus, erkennen konnte. Was für ein Mann warst du, Gallus Stettler, dachte Anschi, daß du dich in dein Kind gleichsam hineingegossen hast, daß ich meine, du schaust mich an, wenn Anna mich anschaut, und daß ich sicher immer meinen werde, du sprechest, wenn ich ihre reif und laut gewordene Stimme vernehme.

Zu dieser blonden, aus dem Ebenmaß ihrer Empfindungen heraus heiteren Frau trat an diesem Morgen, ihr an Wuchs nachstehend, dunkel und mit düsteren Augen, Donat. Sie war gerade beschäftigt, den Flurboden zu kehren, und hatte die Haustür weit geöffnet. Die harsche Luft des hellen Wintermorgens strömte herein. Anschi hatte nicht auf die Straße geachtet, die hier außen ohnehin wenig begangen war. Sie bemerkte auch, im Flurhintergrunde hantierend, nicht, daß zwei Männer vor die Tür traten: der Bruder Donat, in einen Überzieher gehüllt, sonderbar hager, als habe er plötzlich an Gewicht verloren, und, in seiner abgetragenen Uniform, der Ortspolizist Andreas mit dem rotgrauen Bart und dem gutmütigen Gesicht.

Aber Donat überschritt jetzt die Schwelle und zog die Tür zu. Der Polizeimann blieb draußen stehen.

Anschis Gesicht leuchtete auf wie immer, wenn Donat kam, und sie machte Miene, ihm die Stubentür aufzutun.

Aber Donat wehrte ab und sagte leise: »Ich möchte zuerst mit dir allein sprechen.«

Erst jetzt fiel ihr auf, wie zerstört er aussah und wie er mit den Augen den ihrigen nicht standhielt.

Sie trat mit ihm in die gegenüberliegende Küche.

»Hast du den Andreas gesehen?« fragte er sie da.

Und als sie ihn verwirrt ansah, fügte er hinzu: »Er wartet auf mich.«

Sie wußte nicht, was sie aus ihm und seinen Worten machen sollte, fühlte nur, daß wieder einmal ein Lebensbesitz ins Wanken kam. Doch wie zu früheren Zeiten, wenn das Schicksal bergsturzgleich auf sie niedergebrochen war, blieb sie gelassen und horchte viel mehr in sich selbst hinab als auf die Erklärungen, die ihr von Donat kommen sollten. Sie kannte ihn doch! Und wenn er auch, solange er in der Welt draußen gewesen, selten von sich hatte hören lassen, so war sie doch ganz gewiß, daß er niemals ein schlechter Mensch sein konnte. Wenn er also irgend etwas angestellt haben sollte, was ihn mit dem Andreas, dem Landjäger, zusammenbrachte, schien ihr, das könnte nichts sein, was nicht mehr gutzumachen wäre. Höchstens konnte der Ehrgeizteufel, der ihn immer besessen, ihn vom rechten Wege abgerissen haben. Allein auch dann war doch gewiß ein Wiedergutmachen nicht ausgeschlossen. Und ihr Bruder blieb er immer noch!

»Hör' mich an, Schwester«, unterbrach hier Donat ihr Grübeln. Dann erzählte er ihr seine Geschichte und beschönigte nichts, wie er auch dem Vertreter der Adrienne Schelbert gegenüber nichts beschönigt hatte. Er schloß mit den Worten: »Ich habe es dir gesagt, als ich vor vielen Jahren in die Welt hinausgegangen bin, – ich habe die Mutter in mir, und irgendwie muß ich in die Höhe. – Ich bin dabei nicht auf dem geraden Weg geblieben, auch euch, dem Vater und dir gegenüber nicht. Wenn ich eine genügend lange Zeit gehabt hätte, würde ich es erreicht, würde ich das Geld wieder herausgewirtschaftet haben, aber freilich, es war nicht mein Geld, und ich maß es mir für lange zu. So scheine und bin ich ein Erbschleicher! Und die es sagen, haben nicht unrecht.«

»Man wird nicht vergessen, was du aus Aufdenmatten gemacht und daß du dem Allmendinger aus dem Sumpf geholfen hast«, wendete Anschi ein.

Donats bleiches Gesicht verzog sich schmerzlich. Dann antwortete er auf die ruhige Zwischenbemerkung der Schwester: »Der Großrat wollte mir den Dank abstatten. Beinahe hätte ich euch heute eine Braut gebracht.« Und nun berichtete er noch, was zwischen Rosmarie und ihm geschehen.

Anschi erschrak. »Ist dir das Mädchen lieb?« fragte sie.

Wieder zuckte um Donats Lippen ein schmerzlicher Spott. »Lieb?« entgegnete er. »Lieb hab ich nur das gehabt, was ich erreichen wollte, irgendein Ziel, an dem ich einmal ankommen wollte. Die Rosmarie – mein Trost – die Mutter hat den Vater auch nicht aus Liebe genommen.«

Anschis Augen wurden dunkel vor Ernst. »Das habe ich an der Mutter nicht verstanden und verstehe es nicht an dir. Das muß in euch wie eine Krankheit sein, das Hinauf- und Hinaufwollen, das nicht an das ›Wie‹ Denken, nur an das ›Wohin‹.«

»Du willst also auch nichts von mir wissen?« fragte Donat.

Aber die Anschi lächelte fast, und sie stand vor ihm, schön und heiter und ruhig, und sagte: »Das glaubst du ja selbst nicht. Wir drei sind nicht nur für die guten Tage verwandt.«

»Aber nicht für die Schande«, erwiderte Donat. Jetzt hielt etwas sein Herz in einer glühenden Zange. Dann aber sprach er weiter: »Draußen wartet der Landjäger. Ein anderer als der alte Andreas würde mich längst herausgeklopft haben. Und Gaffer genug werden wohl auch schon bei ihm stehen. Aber dem Vater will ich noch Rede stehen und – der Andreas weiß schon – im Vorbeigehen der Mutter noch ›Behüt Gott‹ sagen.«

»Auf dem Friedhof?« fragte Anschi in Gedanken versunken. Als aber Donat Miene machte, nach der Stube und zu Zurbriggen hinüberzugehen, hieß sie ihn warten, sie wolle selbst zuerst mit dem Vater reden.


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