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In jenem Jahr wohnten wir, glaub ich, bei Bella; nein, nicht bei Bella, wir wohnten wohl schon bei Tantchen Katie; nun, es kann doch bei Bella gewesen sein; ich weiß es nicht mehr; wir sind oft umgezogen, und es ist so lange her; die Dinge geraten durcheinander, wenn ich mich genau zu erinnern versuche. Wenn mein Daddy auftrat, war er stets auf dem Sprung und konnte keine Minute stillhalten; manchmal spielte er in New York, dann wieder ging er mit Mrs. Mansfields Theatertruppe auf Tournee und blieb monatelang fort.
Jedenfalls, an jenem Abend traten wir nach der Vorstellung hinaus auf die Straße und bogen dann gleich in den Broadway ein. Wir waren beide so glückselig erregt, daß wir geradezu sprangen und tanzten, denn es war eine ganz herrliche Nacht. Es war eine von den ersten schönen Frühlingsnächten, die Luft war kühl, zart und weich, der Himmel war wie fliederfarbner Samt und glitzerte von großen Sternen. Die Straße vorm Theater war voll von Hansomcabs und Droschken, von Privatchaisen und Viktoriakutschen; unausgesetzt fuhren die Wagen vor und Leute stiegen ein.
Lauter gutaussehende Männer, lauter schöne Frauen, und jedermann schien so glücklich vergnügt wie wir, und es war, als wäre mit dem Frühling auf Erden eine neue Welt mit neuen Menschen erstanden. Alles Häßliche und Dumpfe, alles Saure und Rauhe war weg; die Straßen blitzten und funkelten von Leben. Ich sah das alles, ich spürte, daß ich ein Teil dieses Lebens sei, ich wollte das alles besitzen, und da war etwas, das ich so sehr auszusagen begehrte, daß mir die Kehle davon schmerzte, und doch vermochte ich's nicht, weil mir die Worte dazu fehlten. Und weil mir sonst nichts zu sagen einfiel, packte ich plötzlich meinen Vater am Arm, und, so närrisch es klang, ich rief aus: »Oh, im April sein, nun da England drin in ist!«
»Ja!« rief er. »Und Paris und Neapel und Dresden und Rom! Oh, in Budapest sein!« rief Daddy. »Nun, da dort April ist und Reif auf dem Kürbis liegt und wie Donner der Tag hereinrollt in die Nacht, die mich bedecket!«
Er schien wieder jung geworden zu sein, ganz wie damals, als ich ein kleines Mädchen war und an die Tür seines Studierzimmers zu pochen pflegte, worauf er mit seiner wundervollen Schauspielerstimme rief: »Tritt ein, Tochter der Einsamkeit, in diese Hausung des Unheils!«
Seine Augen funkelten, er warf den Kopf zurück und lachte sein wildes, glückliches Lachen.
Ich glaub', es war im Jahr vor seinem Tode, ich war damals achtzehn, ich war eine Schönheit, ich war wie Pfirsiche und Rahm.
Ich pflegte ihn, wenn er auftrat, im Theater abzuholen; wir gingen dann essen. Ei, das war ein Mann nach deinem Herzen! Das Allerbeste war grade gut genug für ihn. In New York war's damals sehr nett; es gab so angenehme Lokale. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber damals war noch nicht alles so voller Radau und Verwirrung, und manchmal kommt's mir wie eine andre Welt vor. Also, man konnte zu White, zu Martin oder ins Delmonico gehn, es gab dutzendweis gute Lokale. Eines hieß Mock, ich bin nie dortgewesen, aber es gehört zu den ersten Dingen, derer ich mich aus meiner Kindheit erinnere. Ich hörte, wie Daddy nachts heimkam und sagte, er wäre bei Mock gewesen. Ich horchte nämlich am Gitter der Heißluftröhre in meinem Zimmer, und da konnte ich hören, wie er und die andern Schauspieler sich mit meiner Mutter unterhielten. Das war ungeheuer aufregend. Manchmal sprachen sie nur von Mock. »So, Ihr seid zu Mock gegangen?« pflegte Mama etwa zu sagen. »Oh, ja«, sagte Daddy dann, »ich bin zu Mock gegangen.« »Und was hast Du gegessen und getrunken?« fragte meine Mutter. »Oh, ein paar Austern, ein Glas Bier und einen Teller Mockturtelsuppe«, sagte mein Vater.
Wir gingen beinah jede Nacht nach der Vorstellung zu White, wo wir mit zwei Priestern zusammensaßen, die mit Daddy befreundet waren, dem Pater Dolan und dem Pater Christopher O'Rourke. Der Pater Dolan war ein Hüne von einem Mann, er hatte die blausten Augen, die mir je vorgekommen sind, und der Pater Christopher O'Rourke war ein kleines Männchen mit einem schwärzlichen, fettigen Gesicht. Das ganze Gesicht war voll schwarzer Hautflecken, es war eins von den sonderbarsten Gesichtern, die mir je vorgekommen sind, aber es war auch etwas Starkes und Süßes in diesem Gesicht. Pater Dolan hatte ein feines, hochgemutes Wesen, er war sehr gütig und sehr munter, hatte einen glänzenden Verstand und sagte seine Meinung frei und offen heraus. Er liebte das Theater, kannte viele Schauspieler, und viele von den Schauspielern gingen zu ihm in die Kirche. Meinen Vater liebte er. Er war ein großer Gelehrter. Seinen Shakespeare konnte er beinah auswendig. Er und Daddy pflegten einander im Scherz zu prüfen, um zu sehn, wer die meisten Verse kenne. Soviel ich weiß, hat ihn Daddy nur einmal reinlegen können, und zwar mit dieser Zeile aus dem »Lear« ›Der Fürst der Hölle ist ein Ehrenmann‹. Vater Dolan hatte behauptet, der Vers stünde in »Wie es Euch gefällt.«
Wie gern diese Priester aßen und tranken! Hatte aber einer von den beiden am nächsten Morgen Messe zu lesen, dann mußten wir uns beeilen, weil man nach Mitternacht nicht essen und trinken kann, wenn man am nächsten Morgen Messe liest. Deswegen nahmen diese beiden beim Hinsetzen sofort ihre Taschenuhren heraus und legten sie vor sich hin auf den Tisch. Pater Christopher O'Rourke trank nur Bier. Sobald er Platz genommen hatte, kam auch schon ein Kellner und brachte sechs Glas Bier, die der Pater gleich austrank. Hatte aber, wenn es Mitternacht geworden war, einer von den Priestern ein Bier vor sich auf dem Tisch, dann blieb das Bier stehen; ganz gleich, was es war, Punkt zwölf Uhr nachts hörten sie zu essen und zu trinken auf, wenn sie am nächsten Morgen Messe zu lesen hatten.
Pater Christopher O'Rourke aß und trank eine Stunde lang, als gälte es sein Leben. Er war sehr kurzsichtig, seine Brillengläser waren sehr dick, und von Zeit zu Zeit nahm er die Taschenuhr vom Tisch, hielt sie sich unter die Nase und lugte und linste das Zifferblatt an. Weil er es so eilig hatte, um vor Mitternacht fertig zu werden, dachte er, den andern am Tisch ginge es genau so; er hatte Angst, jemand von uns könne nicht satt werden, und so redete er einem ständig zu, man solle sich mit dem Essen beeilen. Pater Dolan aß ebenfalls sehr gern, aber er redete auch sehr gern, und manchmal kam er in ein Gespräch mit Daddy und vergaß zu essen. Pater Christopher O'Rourke geriet dann beinah außer sich, er stieß den Pater Dolan an, deutete auf seine Uhr, machte ein ganz verzweifeltes Gesicht und murmelte mit unheilverkündender Stimme: »Es wird zu spät! Zu spät! Es ist schon gleich zwölf!«
»Je nun!« sagte Pater Dolan. »Dann werd' ich eben zu spät sein.« Er war ein Hüne von einem Mann, hatte aber so ein komisches, kleines Stimmchen; er sprach mit einem leisen Gluckern, und die Worte klangen wie von sehr weit her; er sprach ein bißchen im Singsang, so, wie die Iren sprechen, so, als würden die Worte klingend auf und ab geschaukelt. »Deinesgleichen, Christoph«, sagte Pater Dolan, »ist mir noch nie begegnet. Ein Mann, der immer an seinen Bauch denkt! Haben die großen Heiligen der Kirche ihre Zeit damit verbracht, sich mit Speis und Trank vollzustopfen und vollzuschlürfen, oder mit Meditation, Gebet und in der Abtötung des Fleisches? Hast Du nie von der Sünde der Gefräßigkeit gehört?«
»Freilich«, sagte Pater Christopher O'Rourke, »das schon. Aber ich hab' auch von der argen Sünde mutwilliger Vergeudung gehört. Schäm Dich, Dan Dolan, Deines Geredes von den großen Heiligen der Kirche! Es gibt keinen einzigen Heiligen, der einen Mann deshalb gepriesen hätte, weil er zukommen ließ, was der Herr vor ihn gesetzt hatte. Meinst Du vielleicht, ich könnte hier sitzen und mitansehen, wie gute Speise zukommt, solang's allenthalben auf Erden Leute gibt, die heut abend nichts zu essen hatten?«
»Nun«, sagte Pater Dolan, »ich hab' mich durchgelesen durch die meisten Schriften der Kirchengelehrten und auch durch ein gut Teil der verdammniswürdigen Irrlehren der Ungläubigen, ich hab' die Argumente durchgeackert von Thomas von Aquin bis zu Spinoza, und in meinen jungen Jahren war ich selber imstand, ein Haar zu spalten und es einem rüstigen Gegner vor Augen zu halten, aber mein Lebtag ist mir kein Einwand begegnet, der Deinen überträfe. Vor ihm sähe Aristoteles aus wie der Dorfblödel des Wordsworth. Wenn Du beweisen kannst, daß Du mit Deiner Schlemmerei die Armen allenthalben auf Erden fütterst, dann, Christopher, gibt's für mich nichts, was über Deine Verstandeskräfte geht. Dann könntest Du dem Papst beweisen, daß Darwin ein Jesuit war, und es würde Dir geglaubt werden.«
Also, wie gesagt, wenn er ins Restaurant kam. zog Pater Christopher O'Rourke die Uhr heraus und legte sie auf den Tisch, – aber das erste, was Daddy dann tat, war, daß er zwei oder drei Flaschen Champagner bestellte. Im Restaurant wußten sie schon, daß wir kämen, und die Flaschen standen in einem großen, silbernen Kübel bereit. Dann nahm Daddy das Menü in die Hand, eine große, breite Karte, auf der von oben bis unten alle die köstlichen Sachen verzeichnet standen, die es zu essen gab. Daddy runzelte die Stirn herunter, blickte ernst drein, räusperte sich und sprach zu Pater Dolan: »Wohlan, Dan, wonach gelüstet's den kirchenfürstlichen Gaumen?«
An jenem Abend gingen wir nach der Vorstellung zu White, wo uns die beiden Priester bereits erwarteten. Und ein paar Minuten später kam Mr. Gates herein. Mr. Gates ist noch am Leben. Erst vor ein paar Tagen sah ich ihn auf der Straße; er ist nun ein sehr alter Mann. Er war mit einer der schönsten Frauen von der Welt verheiratet, sie ist bei einem Automobilunfall verbrannt, und der arme Mann mußte es mit ansehn. Ist das nicht gräßlich? Also, schon bei seinem Eintreten konnte man merken, daß Mr. Gates an diesem Abend furchtbar aufgeregt war. Auch er war so ein großer, starker, schwerer Mann, und seine alten Pausbacken bebten, als er auf den Tisch zukam.
»Guter Gott!« sagte Daddy. »Da kommt der Bunny und hat den ganzen Kopf voll Dampf.«
Übers halbe Lokal hinweg fing Mr. Gates an, mit Daddy zu reden, und die Leute unterbrachen ihre Gespräche und ihr Essen und starrten Mr. Gates an.
»Joe! Joe!« rief er. Er hatte so eine komische Stimme, sie klang heiser, es war so eine neblige Whiskystimme, ich glaub', Mr. Gates trank ziemlich viel. »Weißt Du, was ich getan hab', Joe? Ich hab' mir so ein mechanisches Fuhrwerk gekauft. Komm! Du mußt gleich mit mir spazieren fahren!«
»Nein, warte! Warte! Warte!« sagte Daddy und hielt abwehrend die Hand hoch, ganz wie ein Schauspieler. »Nicht so schnell, Bunny! Setz Dich erst her zu uns, und iß 'was, und erzähl' uns von dem neuen Fuhrwerk! Wann hast Du denn die Verzweiflungstat getan?«
»Ei heute«, wisperte Mr. Gates heiser. »Glaubst Du, daß es richtig war, Joe?«
Er sah uns reihum an, er machte ein erschrockenes Gesicht, die alten Augen quollen ihm schier aus dem Kopf. Wir mußten über ihn lachen. Pater Dolan lachte so sehr, daß er sich verschluckte und hustete, und Daddy mußte ihm auf den Rücken klopfen.
Mr. Gates war furchtbar nett: – groß und dick, dabei aber ein schöner Mensch; es war so etwas Zartes an ihm; wenn er etwas sagen wollte, ging immer ein Zucken um seinen Mund. Ganz wie bei einem Hasen. Daher wohl sein Spitzname ›Bunny‹; alle seine Freunde nannten ihn so.
Also, Daddy sagte: »Setz Dich, und iß was, und dann wollen wir weiter sehen.«
Mr. Gates sagte: »Hörmal, Joe, ich hab' den Mechaniker draußen im Wagen, und ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll.«
»Willst Du damit sagen, daß Du ihn für ständig in Dienst genommen hast?« fragte Daddy.
»Ja«, sagte Mr. Gates, »und verdammt will ich sein, wenn mich das nicht verlegen macht. Ich weiß nicht, wie ich mich da verhalten soll. Welche gesellschaftliche Stellung hat er denn?«
»Pflegt er sich zu waschen?« fragte Daddy.
»Nein«, sagte Mr. Gates und sah den Pater Dolan an, »ich glaub', er benutzt Weihwasser.«
»Oh, Mr. Gates!« sagte ich. »Wie schrecklich, so etwas zu sagen! Dazu zu Pater Dolan!«
Aber Pater Dolan, ganz wie ich's von ihm erwartet hatte, lachte einfach. Er war ja ebenfalls so ein großer, fetter Kerl und furchtbar nett. Auch Pater Christopher O'Rourke lachte, ich glaub' aber nicht, daß ihm die Bemerkung wirklich gefiel.
»Ich will somit gesagt haben«, erklärte Mr. Gates, »daß ich einfach nicht weiß, wie man so einen Mann behandelt. Steht er über mir? Unter mir? Oder was –?«
»Mir kommt's vor«, sagte Daddy, »als hättest Du ihn Dir auferlegt. Ich glaub', Bunny, da hast Du Dir einen schwarzen Elefanten aufgebürdet.«
Daddy war wirklich wundervoll, jeder Mensch hatte ihn gern. Da machte sich Mr. Gates diese Gedanken über seinen Chauffeur; nun, heutzutag freilich kommt einem das sehr komisch vor, daß er nicht wußte, ob er den Chauffeur mit der Familie am Tisch essen lassen und ihn als seinesgleichen behandeln solle. Mr. Gates war feinfühlig; er war zwar groß und fett, aber ein sehr empfindsamer und vornehmer Mann.
»Bunny«, sagte Daddy, »mir scheint, da hast Du ein sauberes Problem auf dem Gebiet der Gesellschaftsetikette vor Dir. Lad den Mann doch ein, hereinzukommen. Dann wissen wir wenigstens, wie er aussieht.«
Mr. Gates ging also hinaus, um den Chauffeur hereinzuholen, und kam gleich darauf mit ihm zurück. Der Chauffeur war ein furchtbar netter, junger Kerl mit einem Schnurrbärtchen. Er trug ein Sportjackett und eine flache Schirmmütze, und alle Welt starrte ihn an, denn einer machte den andern auf ihn aufmerksam, und das machte den Chauffeur sehr verlegen. Daddy verstand wundervoll, mit Leuten umzugehn. Er sagte: »Nehmen Sie Platz, junger Mann, wenn wir in einer Maschine herumfahren, gehört sich's, daß wir erst mal dem Fahrer zu futtern geben.«
Der junge Mann setzte sich zu uns, und wir aßen eine herrliche Mahlzeit. Bei White gab es große, saftige Schnitzel, in Butter zubereitet, Beefsteaks, drei Zentimeter dick, die wunderbarsten Austern und überhaupt alles Eßbare, wie es das Meer bietet.
Ich erinnere mich noch, daß wir, obschon es ziemlich spät in der Saison war, mit Austern anfingen und Champagner dazu tranken. Ich glaub' nicht, daß der junge Mann das Trinken gewohnt war, Daddy schenkte ihm ständig ein, und da hatte er schnell einen Schwips weg. Er war schrecklich komisch, denn er redete unausgesetzt von seiner Verantwortung.
»Eine furchtbare Verantwortung, wenn einem Menschenleben anvertraut sind«, erklärte er, und Daddy schenkte ihm nochmals das Glas voll.
»Alles verloren, wenn man im kritischen Augenblick zaudert«, fuhr der junge Mann fort.
»Ein wahrer Wort ward nie gesagt«, meinte Daddy und schenkte ihm wieder das Glas voll.
»Klaren Kopf und stete Hand muß der Mann haben«, behauptete der junge Mensch.
»Da haben Sie recht«, sagte Daddy. »Und das da wird Sie so stet machen, daß Sie sich am Ende wie gelähmt vorkommen werden.«
Mr. Gates und Pater Dolan lachten, daß ihnen die Tränen über die Wangen rollten. Ach, damals waren wir immer so lustig, und damals war auch an allem etwas so Unschuldiges!
Als wir dann aufbrachen, war ich wirklich ziemlich nervös, weil der arme Junge kaum noch grad auf den Beinen stehn konnte und ich nicht wußte, was nun weiter werden sollte. Daddy war in einer tollglücklichen Laune und gebärdete sich wild, die Lichter in seinen Augen tanzten wie Teufel, und er warf den Kopf zurück und lachte, daß es durchs ganze Lokal schallte.
Pater Christopher O'Rourke hatte am nächsten Morgen Messe zu lesen, und so verabschiedete er sich. Pater Dolan aber kam mit. Wir gingen hinaus auf die Straße, Daddy und Mr. Gates nahmen den jungen Mann in die Mitte, und draußen wies mir Mr. Gates den Platz vorn neben dem Fahrer an. Mein Gott! War ich stolz! Und Daddy, Mr. Gates und Pater Dolan setzten sich hinten 'rein. Wie sie das fertig brachten, weiß ich nicht, ich denk' mir, Daddy hat sich auf Pater Dolans Schoß gesetzt, – o ja, ich weiß es, genau das tat er.
Viele Leute aus dem Lokal, meistens Schauspieler, waren uns auf die Straße hinaus gefolgt, und unter lauten Begeisterungsrufen fuhren wir ab. Die Schauspieler sahen uns nach, als wir in die fliederfarbne Dunkelheit hineinfuhren, und ich entsinne mich genau daran, daß ich zurückblickte und ihre lächelnden und unnatürlichen Gesichter sah, helle Masken mit einsamen, geisterhaften Augen. Sie riefen dem Daddy komische Sachen nach, einer fragte ihn, ob er ihm eine letzte Botschaft anzuvertrauen hätte, und De Wolfe Hopper war dabei, und er tat so, als wäre er ein Pferd, und er wieherte und versuchte, einen Laternenpfahl hinaufzuklettern. Oh, es war aufregend!
Mr. Gates fragte: »Wohin die Fahrt, Joe?«
Und Daddy sagte: »Nach San Francisco und zum Goldnen Horn! Und zwar ohne Aufenthalt und Verzug!«
Und dann fragte Daddy den jungen Chauffeur: »Wie schnell kann die Maschine denn fahren, Sohn?«
Und der junge Mensch sagte: »Sie macht mühelos dreißig Kilometer die Stunde.«
»Bergab, meinen Sie wohl«, sagte Daddy, um ihn aufzuziehen, und wir fuhren davon, und – Mein Gott! War das aufregend! Mir kam's wie geflogen vor! Ich nehme an, daß der Chauffeur dreißig Kilometer die Stunde fuhr, aber das war so, wie wenn man heut hundertundsechzig Kilometer fährt, und wir kamen an einem berittnen Schutzmann vorbei, dessen Gaul scheute und durchgehn wollte, und – Mein Gott! Wie wütend der Schutzmann war! Er galoppierte hinter uns her und schrie, wir sollten halten, und Daddy lachte, als wäre er von Sinnen, und rief: »Fahr zu, Sohn! Fahr zu! Auf der ganzen Welt gibt's kein Pferd, das uns einholen kann!«
Aber der Chauffeur kriegte es doch mit der Angst zu tun und bremste, der Schutzmann kam hoch zu Roß heran und sagte, was uns denn einfiele, und was wir uns denn einbildeten, und er hätte gute Lust, uns alle zu verhaften wegen nächtlicher Ruhestörung mit »dem Ding da«. Er nannte den Wagen nicht anders als »das Ding da«, und zwar in einem sehr verächtlichen Ton, und das ärgerte mich sehr, denn der Wagen kam mir ungeheuer schön vor; er war lackiert, ein dunkles, schweres Weinrot, und sah appetitlich genug zum Hineinbeißen aus, und so brachte es mich in Wut, daß der Schutzmann so geringschätzig von »dem Ding da« sprach.
Ich weiß nicht, warum mich das so in Wut brachte, aber mich dünkt jetzt, der Grund war wohl der, daß mir der Wagen überhaupt nicht wie ein Ding erschien. Es ist schwer zu sagen, warum es mir so ging; es war eben so, als wäre der Wagen ein fremdes, schönes, lebendiges Geschöpf, das wir zuvor nicht gekannt hatten, und das nun da wäre, um unser Dasein fröhlicher, wärmer und wunderbarer zu machen. Ich glaub', den meisten Menschen ist es so gegangen mit den ersten Automobilen ... Irgendwie schien jedes Automobil von allen andern verschieden zu sein, schien es einen eignen Namen, ein Leben für sich und eine besondre Persönlichkeit zu besitzen. Gewiß, ich weiß, diese Wagen würden heutzutag plump und komisch und altmodisch wirken, damals aber war das ganz anders. Wir hatten nie zuvor um Automobile gewußt oder Automobile gesehen, wir hatten höchstens geträumt oder gehört, daß es so etwas geben könne, und nun fuhren wir in einem Automobil, und das ganze Erlebnis kam mir einfach unglaublich vor und doch glorreich wirklich und seltsam, eben so, wie es einem am Anfang mit jeder schönen Sache geht. Dieser Wagen war so vollkommen zauberhaft für mich, als wäre er gerade aus einer andern Welt, vom Planeten Mars, gekommen, und trotzdem: – beim ersten Anblick erschien er mir sofort wie etwas schon immer Gekanntes, schien er mir zu diesem Tag, dieser Stunde, diesem Jahr zu gehören, zu den geisterhaften Gesichtern der Schauspieler und zu all den Schlagern, die wir in jenem Jahr sangen, zu den Sachen, die wir sagten und taten, zu irgend etwas Eigenartigem, Unschuldigem, Verlornem, Langhergewesnem.
Ich kann mich genau dran erinnern, wie der alte Wagen aussah, so genau, daß ich ihn mit geschloßnen Augen hinzeichnen könnte. Ich kann mich gut an das tiefe Weinrot erinnern, an die großen, blankgeputzten, messinggefaßten Vorderlampen, an die Schlagtür, die in den bauchig-runden, rückwärtigen Sitzraum ging, und an den wunderbaren und aufregenden Geruch –, den kräftigen, wohltuenden Ledergeruch der tiefen Polster und den starken, warmen Geruch von Benzin, Öl und Schmierfett, der allen Dingen auf Erden damals eine Lebendigkeit verlieh, die einem ekstatisch erschauern machte. Diese Gerüche schienen beladen mit wunderbaren Versprechungen, unbekannten Seltsamkeiten, die wahrwerden sollten, mit einem Etwas, das der Nacht zugehörte und dem Mysterium und der Lebenslust, dem Rausch aus fliederfarbner Dunkelheit, ganz so, wie die Düfte der Blumen, die Gerüche von Laub, Gras und Erde dazugehörten.
Deswegen also, nehm' ich an, brachte es mich so auf, daß der Schutzmann von dem Wagen als »dem Ding da« sprach; damals aber kannte ich freilich diesen Grund noch nicht. Es sah aus, als wolle der Mann uns tatsächlich verhaften, aber da stand Daddy, der auf Pater Dolans Schoß gesessen hatte, auf, und als der Schutzmann den Pater Dolan sah, war er natürlich gleich sehr nett zu uns. Und Mr. Gates redete ihm ein wenig zu und gab ihm etwas Geld, und Daddy machte ein paar Späße mit ihm, die ihn zum Lachen brachten, und dann zeigte ihm Daddy sein Polizeiabzeichen, fragte ihn, ob er den Big Jake Dietz vom Polizeihauptquartier kenne, und sagte ihm, er sei einer von Jakes besten Freunden, und ich war sehr stolz zu sehen, wie milde der Schutzmann da wurde.
Er riet uns, in den Central Park zu fahren. Dort, sagte er, könnten wir seinetwegen ganz nach unserm verdammten Wohlgefallen herumfahren; er aber würde sich nie in »so ein Ding« setzen, es könne jeden Augenblick explodieren, und – was wäre dann mit uns? Daddy sagte darauf, er hoffe, dann kämen wir alle in den Himmel, und was mehr wäre, wir hätten unsern eignen Seelsorger dabei, so gäbe es wohl keine Anstände bei den Einlaßförmlichkeiten, und das belustigte uns sehr, wir lachten, und der Schutzmann lachte auch, und dann fing er an, mit seinem Reitpferd dickzutun, und – Mein Gott! Ein Staatsgaul war es schon! – und der Mann sagte auch, er begehre sein Lebtag weiter nichts als ein Pferd, denn so weit brächten es die Erfinder doch nicht, daß man mit so »einem Ding da« schneller vorwärts käme als mit einem Pferd. Der arme Kerl! Ich frag' mich, was er wohl heutzutag dazu sagt.
Daddy zog ihn ein bißchen auf und sagte, der Tag käme, an dem man in den Zoo gehn müsse, um ein Pferd zu sehn, und der Polizist sagte, nein, vielmehr müsse man dann in einen Trödelladen gehn, um »so ein Ding da« zu sehn, und Daddy sagte: »Unser Fehler, wenn wir Anachronismen sind.« Und der Schutzmann sagte, nun, in solchen Sachen wisse er keinen Bescheid, aber er wünsche uns Glück und hoffe, daß wir alle heil heimkämen.
Damit ritt er davon, und wir fuhren in den Central Park, wir fuhren mit aller möglichen Geschwindigkeit, und als wir gerade einen Hügel hinanfuhren, sah es wahrhaftig so aus, als solle der Schutzmann rechtbehalten, denn der Wagen blieb einfach stecken und wollte nicht weiter. Der junge Chauffeur wurde wild und regte sich auf, er hatte getrunken und dem Wagen wohl zuviel zugemutet; jedenfalls, als wir vor uns auf halber Steigung ein Hansomcab gesehn hatten, hatte er gerufen: »Geben Sie acht, wie wir die überholen!« Gerade dann, als wir auf gleicher Höhe mit den Leuten in der zweirädrigen Kutsche waren und überholen wollten, fing der Motor an zu keuchen und zu pusten und stand still. Nun, da konnten wir die Fahrgäste im Hansomcab lachen hören, und einer rief etwas zurück über Schildkröte und Hase, und ich war empört und gedemütigt, und unser Fahrer tat mir so leid, und Daddy sagte: »Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen, Sohn! Vielleicht, daß Schnellsein nicht immer zum Laufen hilft, aber der Tag des Hasen wird auch einmal tagen.«
Der junge Mensch aber war so niedergeschlagen, daß er kein Wort hervorbrachte. Er stieg aus und ging ein paarmal langsam um den Wagen herum, und schließlich fand er Worte und fing an, uns zu erklären, wieso es geschehen wäre und daß so etwas in hundert Jahren nicht nochmal vorkommen könnte. Nun ja, es war eben so gekommen, ei freilich, da sehen Sie ja, wieso es so kommen mußte, und wir freilich verstanden kein Wort von der ganzen Erklärung, aber der junge Kerl tat uns so leid, daß wir ihm ohne weiteres rechtgaben. Dann begann er, am Motor herumzustochern, hier drehte er 'was herum, dort bog er etwas bei, und schließlich ging er an die Kurbel und schleuderte an, daß ich Angst kriegte, er könne sich den Arm auskugeln. Dann kroch er auf dem Rücken unter den Wagen und hämmerte drunten irgendwo herum, und das half auch nichts. Und so kam er wieder zum Vorschein, stand auf, murmelte etwas und ging wieder langsam um den Wagen herum. Schließlich gab er es auf und erklärte, er befürchte, wir müßten aussteigen und eine Droschke nehmen, falls wir anders als zu Fuß heimkommen wollten. Wir stiegen also aus, und der Mechaniker war so beschämt und so außer sich darüber, daß sein Wagen sich so benommen hatte, daß er ihn anpackte und ihn schüttelte wie ein unartiges Kind. Aber das half auch nichts.
Er versuchte es ein letztes Mal, packte die Kurbel und warf den Motor an wie ein Verrückter; er legte sich ins Zeug, bis er vollends erschöpft war. Und als auch das nichts half, rief er plötzlich aus: »Oh, das verdammte Ding!«, trat den Wagen mit aller Kraft in die Gummireifen und brach dann überm Kühler zusammen, schluchzend, als bräche ihm das Herz. Und ich weiß nicht, ob das was half, ich weiß auch nicht, wie es kam, aber auf einmal fing der Motor an zu röcheln und zu prusten, und da waren wir also wieder fahrtbereit, der junge Mensch mit einem von Ohr zu Ohr klaffenden Grinsen übers ganze Gesicht.
Und so fuhren wir auf den Hügel und auf der andern Seite hinab, und nun war es wirklich wie geflogen, es war wie Schweben und Gleiten durch die Luft, oder so, als hätte man auf einmal Flügel an sich entdeckt, von denen man zuvor nichts gewußt hatte. Es war auch wie etwas schon immer Gekanntes, wie etwas Traumgefundnes, wie ein wahrgewordner Traum, es war wie Traumflug, und – richtig! – ganz wie etwas Traumerwartetes geschah es, daß wir um eine Kurve gesaust kamen und dasselbe Hansomcab vor uns sahen, das wir zuvor auf halbem Hügel zu überholen gedacht hatten. Und im Augenblick, als ich es wiedersah, wußte ich, daß die Wiederbegegnung unvermeidlich war. Sie schien zwar zu schön, um wahr zu sein, – und doch war ich die ganze Zeit fest überzeugt gewesen, daß es genau so kommen müsse. Und so ging's uns allen, wir warfen die Köpfe zurück und lachten schallend heraus und schrien und winkten den Leuten in der Kutsche zu, und als wir an ihnen vorbeisausten, war es, als stünden sie festangewurzelt auf dem Erdboden, und beim Vorbeifahren wandte sich Daddy und rief zu den Leuten zurück: »Tröstet Euch, Freunde! Stehen und warten ist auch zu was nütz!«
Wir ließen sie schnell hinter uns und verloren sie bald, und nun war ringsum nichts mehr außer der Nacht, den brennenden Sternen und der fliederfarbnen Dunkelheit, und – Mein Gott! Es war schön! Es war Anfang Mai, die Knospen waren am Platzen, das Laub am Ausdringen, und Busch und Baum sahen so zartfiedrig aus, und ein feiner, kleiner Sichelmond stand am Himmel, und die Luft war so kühl und lieblich mit dem Geruch von jungem Laub und neuem Gras und von Blumen, und es war, als hörte man es schießen und sprießen, und mir war zumut, als hätt' ich nie so 'was Schönes erlebt, und als ich meinen Vater anblickte, standen ihm Tränen in den Augen, und er rief aus: »Herrlichkeit! O Herrlichkeit! Herrlichkeit!« Und dann begann er mit seiner großartigen Stimme: »Welch ein Werk ist der Mensch! Wie edel sein Verstand, wie unendlich seine Fähigkeiten! Wie behend und bewundernswert seine Gestalt und seine Bewegungen! Wie sehr er Engeln gleicht in seinem Handeln, wie sehr einem Gotte in seinem Denken!«
Und diese Worte waren so schön und ihre Musik so groß, daß sie mir irgendwie zum Weinen nahegingen, und als er zu Ende gekommen war, rief er abermals: »Herrlichkeit!«, und ich sah seine wilde, schöne Stirn in der Dunkelheit, und ich hob die Augen zum Himmel, und da standen die tragischen, großmächtigen Sterne, und auf seinem Haupte lag es wie ein Schicksalsschatten, und plötzlich blickte ich ihn an und wußte, er würde sterben.
Und er rief: »Herrlichkeit! Herrlichkeit!«, und wir fuhren die ganze Nacht Runde um Runde im Park herum, und dann ward es Tag, und die Vögel fingen zu singen an. Und der Vogelsang barst ins erste Licht, und auf einmal hörte ich jeden Laut, den der Vogelsang machte. Er kam mir vor wie eine immergehörte Musik, er kam mir vor wie eine immergekannte Musik aus Tönen, von denen ich nie noch gesprochen hatte, und klar und hell hörte ich von jedem Ton die Musik, und von jedem Ton die Musik war die: – zuerst hob sie sich und flog über mich hin wie ein Schuß, und dann hörte ich die scharfen, schnellen, knappen Laute, die der Vogelsang machte. Und nun waren die Laute wie glattes Geträuf und wie Körner aus hellem Gold, und nun kam mit spitzigem Gezwitscher und hurtig flatterndem Schwirren das honigblütige Vogelgeschrei. Und nun sang der Vogelbaum mit lauter Lauten in der strahlenden Luft; das Geschrumm und die Lerchenschwingen und das zungenkirre Trillern stiegen empor. Und nun erhoben sich die kleinen, hirnlosen Schreie mit fließenden, flüssiggewordnen Lautungen, mit zittrig hinschmelzendem Flirren, pflaumbauchiger Glätte, süßer Lichtigkeit. Und nun hörte ich das hurtige Kwiet-kwiet-kwiet-kwiet-kwiet gewöhnlicher Vögel und dann ihr Pwie-pwie-pwie. Andre aber hatten dünnmetallische Zungen, und ihr Geschrei klang wie scharfes Stichelgezirp und wie unheimlich raspelndes, schrillzänkisches Gekrächz in harschen, von weither kommenden Rufen. Solcherart war das Vogelgeschrei. Alle Vögel, die's gibt, erwachten im dichten Baumgebüsch des Parks, und darüberhin ging ein Geschwirr von verborgenen Schwingen, und das fremde, verlorne Vogelgeschrei war nun im vollen Lichte im Park, und die Schreie vermischten sich zu süßer Verwirrung. »Süß ist der Morgenhauch, süß der Anbruch des Tags mit dem Zauber der frühesten Vögel.« Ja, ganz so war's, und die Sonne ging auf, und es war wie der Erde erster Tag, und das war im Jahr vor seinem Tode, und ich glaub', wir wohnten damals bei Bella, es kann aber auch sein, daß wir im alten Hotel abgestiegen oder schon bei Tantchen Katie untergekommen waren, wir zogen oft um und wohnten in vielen Wohnungen, es scheint so lange her zu sein, daß es sich mir verwirrt beim Drandenken, und ich kann mich nicht mehr erinnern.