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Tod, der stolze Bruder

Das Antlitz der Nacht, das Herz der Dunkelheit, das Zünglein der Flamme – alles, was unterm Schicksalsgesetz der Nacht west, wirkt und sich regt, hatte ich kennengelernt. Ich war der Nacht Kind, einer von ihren zahlreichen Söhnen, und ich wußte um alles, was die Herzen derer bewegt, die die Nacht lieben. Solchen Leuten war ich an tausend Orten begegnet, und nichts, was sie je taten oder sagten, war mir fremd, und schon als Junge, als ich Zeitungsausträger an einem Morgenblatt war, hatte ich sie auf Kleinstadtstraßen erlebt, diese sonderbare und einsame Gesellschaft der nächtlichen Streuner. Manchmal waren sie allein, manchmal zu zweit oder zu dritt, und immer gingen sie in den Mittwachen der Nacht auf dem leeren Pflaster öder Straßen, hielten sie inne vor den gräßlich wächsernen Schaufenster-Puppen der Kleiderläden, blieben sie im harten, grellen Licht der zwiebelbündligen Laternen stehn, strichen sie an hundert verdunkelten Läden vorbei, traten sie schließlich in irgendein kleines Lokal, um Schnute, Lipp' und fahle Wang' in die fleckige Tiefe eines Kaffeekumpens zu stecken und in aller Ruhe zu quasseln und zu klöhnen, oder aber die graue Asche der Zeit stumpfsinnig-schweigsam verrinnen zu lassen.

Traumhaft fremd kamen mir diese Leute, kamen mir ihre Gesichter, kam mir ihr rastloses Streunen, das mir damals selbstverständlich vorgekommen war und keine Fragen ausgelöst hatte, nun ins Gedächtnis zurück. Was hatten sie wohl gewollt, was zu finden gehofft, als sie an tausend Türen und Toren in jenen öden, kleinen, winterlichen Städtchen vorüberstrichen?

Ihr Hoffen, ihr wilder Glaube, das dunkle Lied, das die Nacht in ihnen sang, jenes Etwas, das im Dunkel lebte und webte, während die Menschen schliefen, das heimlich, frohlockend und sieghaft überall im ganzen Lande geschah, – das alles stand mir im Herzen geschrieben. Nicht in der Reinheit und Süße des ersten Morgenglanzes und all seiner kühnen und eindringlichen Offenbarungsglorie, nicht im tätig-tüchtigen, schlichten Licht des Vormittags, nicht im Mittag der Maisfelder, wenn die Halmschäfte stumm stehen, noch auch um drei Uhr nachmittags im schläfernden Gesumm und Grillengestichel auf den Fluren oder im sonderbar zaubrischen Gold und Grün des lyrisch wilden Waldlands, selbst nicht auf Fluren, die stumm des Tages letzte Hitze und Heftigkeit ausatmend in die unergründliche Tiefe und brütende Stille der Dämmrung sanken, – so tapfer und herrlich diese Stunden und Stimmungen auch gewesen waren, sie waren es nicht, in denen ich das Mysterium, die Größe und die unsterbliche Schönheit Amerikas erfühlt und gefunden hatte.

Ich hatte das dunkle Land im Herzen der Nacht, der dunklen, stolzen, geheimnisvollen Nacht gefunden; das unermeßliche und einsame Land lebte für mich im Gehirn der Nacht. Dann sah ich es vor mir hingebreitet mit seinen Ebnen, Strömen und Gebirgen, in seiner ganzen dunklen und unsterblichen Schönheit, seiner ganzen Weite und ungeheuren Entfaltungsfreudigkeit, seiner ganzen Einsamkeit, Wüstheit und Schreckhaftigkeit, seiner maßlosen und erlesnen Fruchtbarkeit, und mein Herz ward eins mit den Herzen aller, die die fremde, wilde Musik dieser Ebnen, Ströme und Gebirge vernahmen, und erfüllt von unbekannten Harmonien und tausend wilden und geheimen Zungen, die frohlockend und furchtbar von der wilden Erde, von Triumph und Entdeckung, die fremd und bitter wahrsagend von Liebe und Tod redeten und sangen.

Denn da lebte etwas im nächtigen Lande, da wogte etwas Dunkles flutend durch die Herzen der Menschen. Wild, seltsam, mit seinem Jubel über die unermeßliche, schlafende Erde hinschwellend, hatte es in tausend Nachtwachen zu mir gesprochen, und alles, was seine dunklen und geheimen Zungen gesagt hatten, stand mir im Herzen geschrieben. Mit der rhythmischen Gehaltenheit mächtiger Fittiche war es über mir aufgerauscht, im rasenden Geheul des Winterwinds war es mit dämonisch-ekstatischem Geschrei über mich hinweggesaust wie Kugeln, aus den dumpfweichen Himmeln der Schneeluft war es mit leiser Benommenheit in dunkel andrängenden, wildfreudigen Vorahnungen über mich gekommen, und dunkel, wild und heimlich hatte es überm stillen Lande gebrütet und überm erschütternden, dynamischen Schweigen der Weltstadt gehangen, verstummt zwar in den Millionen Schlafzellen, aber immerdar nächtig bebend im fernen, mächtigen Murmellaut der Zeit.

Durch mein Wissen und Leben gehörte ich mit unzweifelhafter Gewißheit zur großen Gesellschaft derer, die bei Nacht leben, um das Mysterium der Nacht wissen und die Nacht lieben. Alles, was diese Leute freut, plagt und erregt, freute, plagte und erregte auch mich. Mit allem, was nachts auf Erden geschieht, hatte ich Bekanntschaft gemacht, und schließlich auch nachts jene drei Gefährten kennengelernt, mit denen ich meines Lebens besten Teil zubrachte, – den stolzen Tod und dessen Geschwister, die strenge Einsamkeit und den großen Schlaf. Nachts in aller Schlafstille der Erde hatte ich als ihr Freund mit der Einsamkeit gelebt, gearbeitet und geschafft, und tausendmal hatte ich in Schlafgesichter geblickt und die dunklen Schlafrosse anrücken hören. Und in dunklen Mittwachen der Nacht hatte ich meinen Bruder und meinen Vater sterben sehen und die Gestalt des stolzen Todes beim Eintreten erkannt und geliebt.

 

Dreimal bereits hatte ich das Antlitz des Tods in der Weltstadt gesehn, und nun in jenem Frühling sollte ich es noch einmal sehen. Eines Nachts – es war eine kaleidoskopische Nacht von Wahnsinn, Trunkenheit und Wut, wie ich sie damals oft durchlebte, eine Nacht, in der ich auf der großen Straße der Dunkelheit von Licht zu Licht, von Mitternacht bis zum Morgen, herumlief, – sah ich einen Mann in der New-Yorker Untergrundbahn sterben.

Der Mann starb so ruhig, daß wir Zuschauer es zunächst gar nicht wahrhaben wollten, daß er tot war, so ruhig, daß sein Tod nur ein augenblickliches und stilles Aufhören der Lebensbewegung war und so friedlich und natürlich eintrat, daß wir alle mit faszinierten, ungläubigen Augen hinstarrten und das Antlitz des Todes zwar gleich mit jenem furchtbaren Erkenntnisschauder erkannten, der uns sagte, wir hätten den Tod schon von jeher gekannt, aber doch in unsrer Bestürztheit und Verängstigung nicht zugeben wollten, daß es der Tod war, den wir da miterlebten. Und obschon ich den Großstadttod schon dreimal furchtbar und gewalthaft hatte kommen sehen, war es gerade dieser stille Tod, der sich mir endgültig ins Gedächtnis prägte mit einem Schrecken, einer Majestät und einer Größe, die die drei andern Todesfälle nicht gehabt hatten.

Der erste dieser Todesfälle, der nun bereits vier Jahre zurücklag, hatte sich im April meines ersten New-Yorker Jahres ereignet, und zwar an einer Straßenecke im schmierig-trüben, überschwärmten Upper-East-Side-District, und in der Art, wie er sich zutrug, war etwas Erbarmungsloses, Zufälliges und Gleichgültiges, etwas, das bei weitem furchtbarer war, als es berechnete und absichtliche Grausamkeit je sein kann, etwas, das jäh und gräßlich durch die glänzende Luft, durch all die Freudigkeit und den Zauber der Jahreszeit hindurch und in die Menschen hineinfuhr und allen Frohsinn, alle Hoffnung in den Herzen derer, die den Tod miterlebten, auslöschte.

Ich kam eine dieser trüben Querstraßen im oberen East-Side-District entlang, – eine Straße, in der noch allenthalben mit ihren unschönen, kantigen Schauseiten jene alten Braunsandsteinhäuser stehn, die einst zweifellos Heime wohlhäbiger Leute waren, nun aber vom Rost, Ruß und Schmutz vieler Jahre geschwärzt sind. Im ganzen Viertel brodelte und trubelte es von heftigem, unordentlichem Leben, dem Auf- und Abschwall eines Stroms von dunkelhäutigen, dunkeläugigen Menschen fremder Zunge, eines Stroms von Zahl- und Namenlosen, deren Gehaben jene verflüssigte, flutgezeitenartige, schwarmhafte Gelöstheit hatte, die den Völkern dunklen Bluts und dunkler Rasse eignet, so, daß das hager-genaue, einzelgängerische und strenge Gebahren, wie es Menschen nordischer Art auszeichnet, wie etwas Einsames, Kleines, kläglich und doch großartig auf sich selbst Gestelltes beim Anprall dieser dunklen Gezeitenwoge augenblicklich zerschellt, denn augenblicklich offenbart er sich, der zahl- und alterslose Menschenschwarm der Erde, in seinem ganzen, bodenlosen Grauen, und er sucht einen später im Traum heim, selbst wenn man nur ein halbes Dutzend dieser dunklen Gesichter auf einer Straße gesehen hat.

Dort, wo die beschwärmte Querstraße auf eine jener großen, schmutzigen Hauptverkehrsadern trifft, die New York der Länge nach durchziehen, vom Hochbahnstrang verdunkelt und stets vom heftig-wüsten Hochbahnverkehr belärmt, so, daß nicht nur das durch das rostige Gerüst aus Eisenpfeilern und -streben fallende Licht, sondern auch aller Verkehr auf den Bürgersteigen und dem Fahrdamm einem harsch und gehetzt, bedrückt und gewaltsam, bestürzt und verworren vorkommt, – dort, an so einer Ecke kam der Mensch ums Leben. Er war Italiener, ein Mann in mittleren Jahren, und besaß so einen windigen Restaurationskarren, für den er dort am Rinnstein einen Standplatz hatte. Was er feilbot, eine schäbige Auswahl, waren allerlei Zigaretten, Zuckerzeug und in Flaschen abgefüllte, alkoholfreie Getränke; ferner Orangeade, aus einer großen, fettig aussehenden, in einen verdällerten Zapfbehälter aus weißem Emaille gestürzten Flasche; schließlich verschiedne Gerichte, vor allem Würstchen und Spaghetti, die in ein paar Töpfen auf einem kleinen Petroleumherd ständig warm gehalten wurden.

Gerade als ich die diesem Verkaufsstand gegenüberliegende Straßenecke erreichte, ereignete sich der Unfall. Nach Norden und Süden, unter der Hochbahnanlage hin, brüllte der Fahrverkehr. Im gleichen Augenblick kam ein ungeheurer gedeckter Lastkraftwagen – eins von diesen mächtigen und schwerfälligen Fahrzeugen, die an große Lokomotiven erinnern, die die kleineren Maschinen auf dem Fahrdamm geradezu zu verschlingen und die Straßenbreite vollständig einzunehmen scheinen, so, daß man sich immer wieder über die Genauigkeit und Gewandtheit der Chauffeure wundert, die sie fahren können – unter der Hochbahnanlage herangedonnert. Um einen bedeutend kleineren Lastwagen zu überholen, bog das riesige Fahrzeug aus und fuhr vor, im Vorbeifahren streifte es an und versetzte dem kleinen Lastwagen einen Stoß von so furchtbarer Wucht, daß dieser krachend zur Seite – über den Rinnstein auf den Bürgersteig, auf den Restaurationskarren zu – geschleudert wurde. Der Karren wurde vollständig zertrümmert, der Lastwagen überschlug sich über ihn hin und blieb, ein eingedrücktes Wrack aus zerschmettertem Glas und verbognem Stahl, ein Stück weiter weg liegen.

Durch ein Wunder des Zufalls kam der Lastkraftfahrer heil davon, aber der kleine italienische Händler wurde so schwer verletzt, daß er überhaupt nicht mehr zu erkennen war. Als der Lastwagen auf ihn hereinkrachte, schoß ihm jäh eine hellrote Blutfontäne aus dem Kopf, – unglaublich, daß so ein kleiner Mann solche Springbrunnen Blutes im Körper haben konnte, – und binnen weniger Minuten, ehe noch der Ambulanzwagen eintraf, starb der Mann dort auf dem Bürgersteig.

Lärmende Menschen mit dunklen Gesichtern, eine ganze Menge, scharten sich sofort um den Sterbenden, und Polizisten, eine erstaunliche Anzahl, waren sofort zur Stelle. Sie drängten die aufgeregten Leute ab, schoben und schubsten sie zurück, fluchten und wurden handgreiflich, drohten mit dem Knüttel und befahlen barsch:

»Weitergehn, da! Keinen Auflauf machen! Weitergehn soll'n Se! Hab'n Se verstanden?!« ... »Wo woll'n Sie denn hin?!« fauchte einer plötzlich, packte einen Mann an den Rockaufschlägen, hob ihn hoch und schnickte ihn in die Menge zurück, als wäre er ein Stück Kot ... »Weitergehn, da! Weitergehn! Keinen Auflauf machen! Schaun Se, daß Se weiterkommen, verstanden?!«

Andre Polizisten hatten derweil den Sterbenden vom Fahrdamm auf den Bürgersteig gehoben, sie bildeten einen Kreis um ihn, um den andrängenden Pöbel zurückzuhalten. Und dann traf der Ambulanzwagen ein. Der Mann aber war schon tot. Die Leiche wurde mitgenommen. Mit Stößen, Püffen, Drohungen, ganz so, als hätten sie eine Herde dumpfen, störrischen Viehs vor sich, trieben die Polizisten die Menge zurück, bis schließlich die ganze Unfallstelle von Neugierigen frei war.

Damit der Fahrdamm wieder für den unaufhörlich anbrausenden Verkehr freigegeben werden konnte, machten sich zwei Polizisten ans Reinemachen. Sie schleiften den zertrümmerten Restaurationskarren zum Rinnstein, lasen das Zubehör auf – Küsten und Kästchen, zerbrochnes Geschirr und zerscherbte Gläser, billige Eßbestecke und schließlich auch die blechernen Spaghettitöpfe – und warfen es auf den Trümmerhaufen. Spaghetti, Schädelsplitter und das Hirn des Toten lagen zu einem gräßlichen Blutfladen vermengt auf dem Asphalt. Einer von den Polizisten guckte sich den Fladen einen Augenblick an. Vorsichtig setzte er die Zehenspitze seines dicken Stiefels gegen die weiche Masse, so, als wolle er sie beiseite schieben, dann aber wandte er sich ab, sein rohes, rotes Gesicht verzog sich zu einer Fratze. »Jesus!« sagte er.

In diesem Augenblick kam aus einer düstern kleinen Schneiderwerkstatt ein kleiner Mann mit einem Eimer Wasser; ein Jude war es mit grauem Gesicht, großer Nase und fettigem, rückwärtswüchsigem Ringelhaar über einer zerquälten, fliehenden Stirn, und er lief schnell, vor Aufregung keuchend, mit komischen, o-beinigen Bewegungen über den Bürgersteig auf den Fahrdamm, goß das Wasser auf den blutigen Fladen und rannte dann ebenso schnell wieder in die Werkstatt zurück. Und dann kam aus einem andern Laden ein Mann mit einem Kübel Sägemehl, das er auf die blutbesudelte Straße streute, bis alle Lachen bedeckt waren. Schließlich war nichts mehr zu sehen außer dem Wrack des Lastwagens und dem Trümmerhaufen des Restaurationskarrens, zwei Polizisten, die, Notizbuch in der Hand, den Unfall besprachen, ein paar Leuten, die mit dumpfen, gebannten Augen ein paar Blutspritzer auf dem Bürgersteig anstierten, und kleinen Gruppen von Menschen, die an der Straßenecke standen und in leisen und erregten Tönen Unterhaltungen führten, die etwa so begannen: –

»Aber sicher hab ich's gesehn! Ich sag Ihnen doch, daß ich's gesehn hab! Zwei Minuten zuvor hab ich noch mit ihm gesprochen. Ich hab das Ganze mit angesehn, ich stand ja keine fünf Schritt weiter weg, als er getroffen wurde!« – worauf dann der blutige Augenblick lebhaft wieder heraufbeschworen und mit einem unersättlichen, zehrenden Hunger bis ins Kleinste erörtert wurde.

So war es, so erlebte ich zum erstenmal den Tod in der Großstadt. Später, als der Anblick von Blut und Hirn und des gräßlich zugerichteten Menschen meinem Gedächtnis fast entfallen war, erinnerte ich mich mit aller Lebhaftigkeit noch an die verdällerten, blutbesudelten Blechtöpfe, – ich sah sie deutlich auf dem Asphalt liegen, sah, wie der Polizist sie aufhob und auf den Trümmerhaufen warf, – und mich dünkte dann, diese trübseligen, leblosen Töpfe wären imstand, mit hohem Pathos die ganze Geschichte eines Lebens in mir aufzurufen, die Wärme und Güte und lächelnde Freundlichkeit jenes Mannes, den ich so oft an seinem Karrenstand gesehn hatte, und dazu auch das kläglich kleine Geschäftsunternehmen, in dem er kümmerlich dürftig, aber ständig hoffnungsvoll und redlich beflissen sein Bestes getan hatte, um hier, unterm Himmel der Fremde, im Herzen der ungeheuren, gleichgültigen Weltstadt, für all seine bittre Müh und geduldige Stetigkeit einen kleinen Lohn zu erringen, – bescheidnes, leuchtendes Ziel, – die Zuflucht, die ihm jene Sicherheit, Freiheit und Ruhe verhieß, um die sich alle Menschen auf Erden leidlich plagen.

Und der ungeheure Gleichmut, mit der die riesenhafte, furchtbare Weltstadt dieses kleine Dasein ausgelöscht und die leuchtende Luft und die Herrlichkeit des Tags mit Blut getränkt hatte, dazu die ungeheure und beiläufige Ironie des Zuschlags, – das große gedeckte Lastfahrzeug nämlich, das den kleineren Wagen aus der Bahn geschleudert und so den Italiener getötet hatte, war weitergedonnert und verschwunden, vielleicht ohne daß der Fahrer überhaupt gewahr geworden war, was sich zugetragen hatte, – das alles wurde in seiner Betrüblichkeit, seinem Pathos und seiner maßlosen Gleichgültigkeit in mir aufgerufen durch die Erinnerung an ein paar verdällerte Kochtöpfe. Und dies also war meine erste Begegnung mit dem Großstadttod.

 

Bei meiner zweiten Begegnung mit ihm war es Nacht und Winter, und er war ganz anders gekommen.

Etwa um die Mitte einer still- und bitterkalten Februarnacht, als der Mond kalt und grell im weißlichen Blauglast des Frosthimmels stand, hatte sich auf dem Bürgersteig einer jener verwirrenden, kantigen Straßen, die in der Nähe des Sheridan Square auf die Seventh Avenue stoßen, eine Gruppe fröstelnder Leute zusammengeschart. Die Leute standen vor einem unvollendeten Neubau, dessen Schauseite roh und leer im harschen, braunfahlen Licht ein paar Schritte hinter ihnen aufragte. Der Wachmann, der nachts auf den Neubau aufzupassen hatte, hatte sich in der Gosse in einem rostigen Ascheneimer ein Feuer angemacht, und dieses Feuer peitschte und loderte mit knatternden Flammen in der Frostluft, und von Zeit zu Zeit traten Leute aus der Gruppe nahe an es heran, um sich die Hände zu wärmen.

Auf dem eisigen Asphalt vor dem Neubau lag ein Mann. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, und neben ihm kniete ein Assistenzarzt vom Hospital, der die Tuben eines Stethoskops in den Ohren stecken hatte, und ging mit dem Instrument von einer Stelle zur andern über die mächtige, entblößte Brust des Liegenden. Ein Ambulanzwagen, dessen Motor leise und schwach, – ein wenig unheimlich – pochte, war am Rinnstein vorgefahren. Der Mann auf dem Asphalt war ungefähr vierzig; er hatte die schwerfällig wuchtige Gestalt und das rohzügige, kräftige Gesicht des berufsmäßigen Landstreichers. Es war, als hätte die ganze wüste Gewalttätigkeit von Wetter, Armut und körperlicher Entbehrung mit ehernem Stempel in langen Jahren der Wanderschaft diesem narbigen, knorrigen Gesicht ihre Wahrzeichen aufgeprägt, denn nun hatten die Züge dieses Manns eine gewissermaßen epische Brutalität, und was da geschrieben stand und deutlich zu lesen war, war eine Legende von einsam-machenden und furchtbaren Entfernungen, von stampfenden Rädern auf gleißenden Schienen, von Rost und Stahl und blutiger Rauferei, eine Legende von der wilden und wüsten Erde Amerikas.

Der Mann lag auf dem Rücken, still und fest wie ein Fels lag er da; die Augen hatte er geschlossen; das grobzügige, kräftige Gesicht war in der starr-stumpfen Gehaltenheit des Todes gen Himmel gerichtet. Er lebte noch, aber auf der einen Seite des Gesichts hatte er eine furchtbare, klaffende Wunde. Betrunken und beinahe blind von jenem billigen Alkohol, der ›Smoke‹ heißt, war er in den Neubau geraten, war über einen Stapel Eisenbalken gestürzt und hatte sich beim Sturz die Schläfe eingeschlagen. Das schwarze Gesicker aus der Wunde war ihm über die eine Gesichtshälfte gelaufen und hatte eine kleine Lache auf dem Asphalt gemacht; aber der Mann blutete nun kaum noch, denn in der Frostluft gerann das Blut schnell.

Der Schmutzfetzen von einem Hemd, das der Mann anhatte, war aufgerissen worden, und der mächtige Brustkasten schien mit der gleichen stumpf-starren Unbeweglichkeit herausgewölbt. Von einem Atemgang war nichts zu merken; der Mann lag da wie aus Fels gehauen, aber eine dumpfe, hitzige, ungesund wirkende Röte brannte noch auf dem breiten, schweren Gesicht, und noch zu Fäusten geballt lagen die Hände an den Seiten. Der alte Hut war ihm vom Kopf gefallen, man sah die große Glatze, und diese Glatze mit dem dünnen, fransigen Haarkranz war es, die abschließend endgültig und auf eine irgendwie furchtbare Art dem starken, rohen Gesicht dieses Menschen das Gepräge von Macht und Würde verlieh; es war etwas wie jener Ausdruck von Stärke, Anstand und Strenge auf den Gesichtern der Männer, die im Zirkus am Trapez die Schwerarbeit leisten, denn diese Männer haben ja gewöhnlich auch Glatzen.

Von den Leuten, die um den Mann herumstanden, zeigte niemand irgendeine Gemütsbewegung. Sie standen einfach da und sahen den Mann mit gespannter und dennoch gleichgültiger Neugier an, ganz so, als ob der Tod dieses Vagabunden für sie etwas Beiläufiges, Vorausgesagtes darstelle, das ihnen nun so natürlich vorkäme, daß sie weder Überraschung, noch Mitleid, noch Bedauern empfinden könnten. Ein Mann wandte sich an einen andern, der neben ihm stand, und versicherte diesem ruhig, aber bestimmt und leise grinsend:

»Na also, das ist immer das End vom Lied mit diesen Stromern. Über kurz oder lang kommen se alle auf so 'ne Weise um. Ist mir noch nie zu Ohren gekommen, daß es mal anders gewesen war.«

Derweilen ging der junge Arzt ruhig und bedachtsam, aber gleichgültig mit dem Stethoskop von einer Stelle zur andern über die Brust des Liegenden und horchte. Ein Polizist mit einem dunklen, schweren Gesicht, das blatternarbig, versorgt und brutal war, stand hinter dem Arzt. Der Polizist sah dem Auftritt ruhig zu, ließ leise seinen Knüttel schwingen und schob gemächlich ein Kaugummiknöllchen im Mund herum. Mehrere Männer, darunter der Nachtwachmann und der Zeitungsverkäufer von der nächsten Straßenecke, standen stumm da und starrten. Und schließlich waren da auch ein junger Mann und ein Mädchen. Die beiden waren gut angezogen, und etwas Unverschämtes, Nacktes, Häßliches in Rede und Gehaben zeichnete sie, nach Stand, Wohlstand und Bildungsgrad gesehn, vor den übrigen Zuschauern aus und besagte, daß sie etwas Besseres wären, also junge Leute, die auf ein College gegangen waren, oder Müßiggänger aus angesehnen New Yorker Familien oder etwa Maler, Schriftsteller oder Theaterkünstler aus dem Greenwich-Village-Viertel, – kurz, ›moderne Jugend der Nachkriegsgeneration.‹

Auch diese beiden sahen auf den Mann auf dem Asphalt herunter, sie betrachteten ihn mit jener Neugier, mit der man ein sterbendes Tier betrachtet, aber mit weniger Mitleid; sie lachten, schwatzten, witzelten miteinander mit einer so widerlichen und verächtlichen Hartherzigkeit, daß ich ihnen am liebsten in die Fresse gehauen hätte. Die beiden hatten zwar getrunken, aber betrunken waren sie nicht, und etwas Hartes und Häßliches brannte nackt in ihnen, und doch, – es war dies kein gezwungnes und beabsichtigtes, sondern einfach ein hartblickendes, in der Arroganz geschultes Wesen, eine trockne, falsche, eingebildete Art der Gebärdung, die da wie ein Lebensstil vorgetragen wurde. Die beiden hatten eine erstaunlich literaturmäßige Wirklichkeit, ganz so, als wären sie fix und fertig aus den Seiten eines Buchs herausgetreten, ganz so, als gehörten sie tatsächlich einer schnöden, auf Erden zuvor unbekannten Jugend an, einer neuen Rasse, einem harten, brachen, heillosen Geschlecht greller, dürrer Geschöpfe, die sich die für sie vollkommen unzeitgemäßen Organe verkehrter Gefühligkeit, die uralten Eingeweide, in denen sich von je des Menschen Mitleid, Kummer und wilder Freudenüberschwang regen, hätten herausnehmen lassen, Geschöpfe, die es störrisch vorzögen, eine mit Bitternis und Gehässigkeit geladne Luft zu atmen und sich fatalistisch spröde, anmaßend und stolz an die eigne Daseinsverlassenheit zu klammern.

Die Unterhaltung der beiden hatte etwas Heimliches, Süßtuerisches, Geziertes; sie stak voll von schnellen Anspielungen, wendigem Geschnackel und versteckten Feinheiten, deren Sinn einzig von diesen beiden Eingeweihten verstanden werden konnte, und außerdem war sie gespickt mit den Handelsmarken-Wörtern des rauh-schlichten Umgangstons, der damals bei Leuten dieser Art in Gunst stand, Bezeichnungen wie »toll«, »ganz groß«, »ei fein«, »schlichthin wunderbar.«

»Wo können wir noch hin?« fragte das Mädchen den jungen Mann. »Bei Louie wird zu sein. Er schließt, glaub ich, um zehn.«

Das Mädchen war hübsch, hatte eine gute Figur, aber Gesicht und Körper hatten weder Kurve noch Fülle. Körper, Herz und Seele, es war keine Reife an diesem Mädchen, es war ein Wesen mager an Brust, hart, unfruchtbar, selbstsüchtig.

»Wenn schon«, sagte der junge Mann. »Gehn wir eben nebenan zu Steve. Hat die ganze Nacht auf.« Sein Gesicht war dunkel und unverschämt, die Augen waren flüssig, der Mund war weich, schwach, verwöhnt, anmaßend und verderbt. Beim Lachen kamen Kullerbläschen in die Stimme, und das Lachen klang lose, höhnisch, auf üble Art selbstsicher.

»Ei fein!« sagte das Mädchen mit seiner nackten Stimme. »Würde mir Spaß machen, hinzugehn. Laß uns noch ein paar Leute auftreiben! Wer, meinst Du, war mit von der Partie? Ob Bob und Mary zu erreichen sind?«

»Bob vielleicht, Mary kaum«, sagte der junge Mann, sich geschickt unschuldig stellend.

»Nei-in! Was Du nicht sagst!« rief das Mädchen aus, gewandt das Nichtglaubenkönnen mimend. »Sie wird doch nicht etwa? Meinst Du? ...« Und hier wurden die Stimmen leise, begierig, schlau, die beiden lachten, und schließlich war der junge Mann wieder zu vernehmen, der, weiche Kullerbläschen in der Stimme, sagte:

»Oh, weiß nicht. Wieder so 'ne Sache. Soll in den besten Familien vorkommen, weißt Du.«

»Nein«, rief das Mädchen mit einem kleinen Quietschlachen des Nichtglaubenkönnens. »Weißt Du, das dann doch nicht! Dazu nach all dem, was sie über ihn gesagt hat! ... Ei, das ist ja schlichthin – unbezahlbar!« Und dann, ganz langsam, vor sich hingesagt: »Oh, das ist aber einfach ganz groß!« Und dann schnell ausgerufen: »Ich würde alles drum geben, wenn ich Bobs Gesicht sehn könnte, wenn er dahinter kommt!« Dann lachten und tuschelten die beiden verständnisinnig miteinander, und dann, nach einem kleinen, herausgestoßnen, ungläubigen Lachlaut, rief das Mädchen wieder aus:

»Zu schön, um wahr zu sein! Oh, weißt Du, das ist ja ganz wunderbar!« Und dann kam, ganz schnell, ungeduldig hinzugesetzt die Frage:

»Also wen können wir noch auftreiben? Wen sonst?«

»Weiß nicht«, sagte der junge Mann. »Schon ziemlich spät geworden. Weiß nicht, wen wir noch auftun könnten, es sei denn –« Der weiche, dunkle Mund begann zu lächeln, die Lachbläschen kullerten in der Kehle, als der junge Mann mit einem Nicken auf den Mann auf dem Asphalt deutete. »– es sei denn, Du fragst unsern Freund hier, ob er gern mitmachen möchte.«

»Oh, das war nun ganz groß!« rief das Mädchen mit einem beglückten kleinen Lachen und starrte einen Augenblick die stumme Gestalt auf dem Asphalt ernsthaft an. »Wär mir ungeheuer lieb!« versicherte das Mädchen. »Wär's nicht toll, wenn wir so jemand mitschleifen könnten?«

»Nun ja –« meinte der junge Mann unentschieden. Dann, als er auf den Mann auf dem Asphalt herunterblickte, wallte das weich- und feuchtflüssige Lachen wieder auf, und der junge Mann sagte sanft und schlau zu dem Mädchen: »Ich hasse es, Dich zu enttäuschen, aber mir scheint nicht, daß wir unsern Freund hier mitnehmen können. Sieht aus, als hätte er morgen früh ein großes Weh im Kopf.« Und wieder lächelte der dunkle Mund, wieder wallte das weiche Lachen aus der Kehle.

»Hör auf!« rief das Mädchen ein wenig kreischend aus. »Bist Du aber gemein!« mimte es vorwurfsvoll. »Ich finde ihn süß! Ich finde, es war schlichthin wunderbar, wenn man so jemand mal zu einer Partie mitnehmen könnte! Der Mann sieht doch toll aus«, fuhr das Mädchen fort und blickte neugierig herunter auf den Mann auf dem Asphalt. »Wirklich, toll, weißt Du.«

»Je nun, Du weißt ja, wie es ist«, sagte der junge Mann. »Er war ein großartiger Kerl, als er das Leben noch hatte.« Üppig wallte das Lachen aus der sanften Kehle. »Na, komm schon!« sagte der junge Mann. »Schaun wir, daß wir weiterkommen. Hab Dich 'n bißchen im Verdacht, Du möchtest mit ihm anbandeln.« Und lachend und miteinander redend, Nacktheit und Hoffart in den jungen Stimmen, gingen die beiden ihres Wegs.

Es dauerte nicht lang, da stand der Assistenzarzt auf, nahm die Stethoskopstöpsel aus den Ohren und sprach leise und ganz sachlich ein paar Worte mit dem Polizisten, der daraufhin etwas in sein Notizbuch kritzelte. Der Arzt ging die paar Schritte zum Rinnstein und stieg hinten in den Ambulanzwagen ein. Er setzte sich auf den einen Sitz, legte die Beine auf den andern, und sagte zu dem Fahrer: »Fertig, Mike, fahren wir!« Der Wagen fuhr glatt ab, glitt mit einem leisen Klingen der Warnschellen um die Ecke, war weg.

Der Polizist klappte nun sein Notizbuch zu und schob es in die Tasche. Er wandte sich plötzlich an uns, die wir herumstanden. Ein verdrossener Ausdruck lag auf seinem schweren, dunklen, übernächtigen Gesicht. Er spreitete die Arme aus, drängte uns ganz sachte zurück und sagte mit einer geduldig und müde klingenden Stimme: »Schon recht jetzt, Ihr Leute! Schaut, daß Ihr fortkommt! Also weitergehn! Der Fall ist erledigt.«

Und seinem müden und duldsamen Befehl Folge leistend, machten wir uns auf den Weg und gingen davon. Und auf dem Pflaster lag, auf dem Rücken ausgestreckt, der tote Mann, und das große, rohe Gesicht der Gewalt und Stärke war starr nach oben gerichtet, kahl, mit einer fürchterlichen Stille, einer bangemachenden Würde dem Antlitz des kalten und grellen Monds entgegengereckt.

Das war das zweitemal, daß ich den Tod in der Weltstadt miterlebte.

 

Das drittemal, als ich den Tod in der Weltstadt miterlebte, kam es so: –

An einem Maimorgen im vorigen Jahr ging ich die Fifth Avenue hinauf nach der oberen Stadt. Der Tag war herrlich und strahlte und funkelte, und das ungeheure und zarte Licht im weiten, blau-spröden Himmel war fest und beinah tastbar. Es schien zu atmen, sich zu wandeln, in einem schwärmenden Gewebe aus schillernder und kristallner Magie hin und her zu gehn, es spielte und blitzte auf den Spitzen der großen Turmhäuser, auf den grellen, aufschießenden Fronten der ungeheuren Bauten, auf der großen Menschenmenge, die unaufhörlich durcheinanderwebend auf der großen Straße dahinströmte, es spielte und blitzte mit lebhaften, tausendfältigen Glitzerspitzen aus Strahlen und Farben, ganz so, als schiene die Sonne auf einen See von Saphiren.

So weit das Auge reichte, die große Straße hinauf und hinab, wälzte sich die Menge dahin mit den trägen und doch sehnigen Windebewegungen eines ungeheuren, glänzend bunten Reptils. Sie schien zu rutschen, voranzukommen, im Volumen anzuschwellen, sich hier zu winden und dort reglos zu bleiben in einem riesenhaften, wogenden Rhythmus der zwar unendlich verworren und kaum zu fassen war, aber doch von irgendeiner zentralen Kraft in unverrückbaren Maßen gehalten die Bewegung des Ganzen voranzutragen schien. So sah der große Schwall dieses Menschenschwarms von weitem aus, aber wenn man nahe daran vorüberging, dann löste sich das Ganze auf in tausendmaltausend füllige, glänzende und lebhafte Bildchen und kleine Daseinsgeschichten, und diese Daseinsgeschichten schienen mir nun alle so natürlich und vertraut, daß mir war, als kenne ich alle diese Leute, als hielte ich den warmen und fühlbaren Gehalt ihres Wesens in meinen Händen und verstünde und besäße die Straße so, als hätte ich sie selber erschaffen.

Ein stattliches Auto, von einem Chauffeur in Livree gesteuert, glitt schnell an den Bürgersteig heran und hielt; der Türsteher von einem teuren Geschäft, gleichfalls in Livree, eilte dienstfertig-hastig herbei und riß den Schlag auf für irgendeine schöne Frau aus der reichen Oberschicht; die Frau stieg schnell aus, mit hurtig scharfen Bewegungen; sie hatte schlanke Fesseln, ihre kleinen Füße staken in feinen Schuhen; sie sprach mit schnittiger Stimme ein paar kurze Befehlsworte zu dem aufmerksamen Chauffeur, ging dann über den Bürgersteig auf den Laden zu; ein kalter, ungeduldiger Ausdruck lag auf dem lieblichen, aber harten Gesichtchen, und sie ging, den Oberkörper steif haltend, mit schüssigen Bewegungen aus den wohlbeschaffnen, aber gleichsam vom Schneider geformten Hüften. Für sie war diese große Angelegenheit von Verführung, Reiz und Beschmückung, für die sie lebte, – diese unaufhörliche Beschäftigung damit, wie sie ihre schönen Beine am vorteilhaftesten mit Schuhen und Strümpfen versähe, ihre gediegen wohlgeformten Hinterbäckchen aufs anziehendste zur Geltung brächte, wie sie sich den Teint malen, die Augenbrauen zupfen, die Löckchen brennen, sich parfümieren und maniküren ließe, so, daß sie wie eine exotische Blume und wie ein seltnes und kostbares Schmuckstück aussähe, – in der Tat eine so strenge Lebensaufgabe wie das Geldverdienen für ihren Gemahl, und so ein wichtiges Geschäft konnte sie freilich nicht einen Augenblick lang leicht nehmen oder gar lächelnd erledigen.

Und dann wieder kam ein Mädchen vorbei, ebenfalls lieblich, aber zärtlicher, schlichter, gutherziger, und dieses Mädchen kam geschlenkert, es war fröhlich anzusehen, irgend etwas Farbiges leuchtete an ihm, – ein roter oder blauer Schal oder ein keck-buntes Hütchen –, und das Haar war feingesponnen, und ein paar Strähnen wehten in der leichten Brise, und die Augen waren unergründlich und glühten von katzenhafter Kraft und Gesundheit, und die zarten Hüften wogten bei dem lang- und vollschrittigen Gang, und die festen Brüste waren im Rhythmus mit jedem Schritt, den das Mädchen machte, und ein ungewisses und zärtliches Lächeln spielte ihm um den Mund, als es vorbeiging.

Und überall strömten Männer und Frauen vorbei, Menschen mit dunklen Augen, dunklen Gesichtern, grauen Mienen, Menschen, die getrieben, hager, verhetzt und fiebrig aussahen, aber es war, als hätte das strahlende Licht, als hätte dieser holdverwandelnde Tag sie alle mit seinem Zauber berührt, so, als wären sie alle nun voll Hoffnung, Heiterkeit und Frohlaune, so, als tränken sie alle wie an einem inneren Quell begeisternder Lebenskraft den herrlichen Rauschtrank dieses Tags.

Auf dem Fahrdamm derweil sausten die glitzernden Maschinen unglaublich schnell vorbei, sie bohrten sich voran wie Wurfgeschosse, wie Kugelkäfer im Flug, und die mächtigen Polizisten mit ihren roten Gesichtern standen wie Türme mitten auf der Straße, und mit herrscherischen Gebärden ihrer wie Signalmaste gereckten Hände hießen sie die Wagen stoppen und starten, geboten sie Eile oder Halt.

Schließlich schienen sogar die warmen Gerüche der heißen Maschinerie wundervoll, der Geruch nach Öl, Benzin und abgenutztem Gummi, der vom bläulich-blanken Spiegel der wütig bewegten Straße aufstieg und sich vermischte mit dem warmen, erdigen und köstlichen Duft von Bäumen, Gras und Blumen aus dem nahegelegenen Park. Mir war zumute, als berste die ganze Straße unmittelbar ins Leben, ganz so, wie es an einem solchen Tag wohl jedem jungen Mann auf der Welt gegangen wäre. Anstatt mich hinzuschmettern und niederzudrücken mit ihrer grausamen und anmaßenden Grelle von Macht, Wohlstand und Zahl, bis ich wie ein namenloses Kleinstteilchen in ihr ertränke, schien die Straße mir nun ein herrlicher Fest- und Karnevalszug tastbaren Lebens zu sein, der große und lärmende Schaumarkt aller Welt, auf dem ich selber selbstsicher als eine der geehrtesten und sieghaftesten Gestalten einherginge.

In diesem Augenblick, als der Park ins Blickfeld rückte, als ich die Bäume in ihrem jungen, zaubrischen Grün sah und auf dem dem Park vorgelagerten Platz das ganze Spielen und Blitzen aus Bewegung, Farbe und Maschinerie überblicken konnte, blieb ich stehen und begann, mir mit besonderem Interesse die Arbeiter zu betrachten, die gerade gegenüber, auf der andern Seite der Straße, an einem Neubau, der dort errichtet ward, zu tun hatten. Was da entstand, war kein sehr großer, sehr hoher oder sehr breiter Bau; es war ein zehnstöckiges Haus, dessen stählernes Gebälk sich in der kristallnen Luft abhob mit einer so anmutigen und beinah spröden Feinheit, als hafte am Rohgerippe bereits leserlich die Eleganz und Geschmacksicherheit des vollendeten Bauwerks.

Ich wußte nämlich, dieses Haus würde für die Firma Stein & Rosen gebaut, und nun ging es mir wie dem Mann, der einst die Hand John L. Sullivans gedrückt hatte, – ich verspürte eine Regung aus Freude, Stolz und Vertrautheit, als ich den Neubau betrachtete. Die Schwester der Frau, die ich liebte, war Direktrice in diesem mächtigen Handelshaus, nach Befugnis zwar nur zweite, nach Talent und Kenntnis aber erste Leiterin des Unternehmens, und von den lustigen Lippen meiner Geliebten hatte ich gar oft vernommen, wie es täglich bei Stein & Rosen zuging. Sie erzählte von glitzernden Wallfahrten reicher Weiber, die ihren Staat bei dieser Firma erstanden, von Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Millionärsgattinnen, Filmstars und all den berühmten Kurtisanen, die kamen und bar bezahlten und das Lösegeld für einen König in Tausenddollarnoten für einen Chinchillapelzmantel auf den Tisch legten, und außerdem erzählte sie mir von den erstaunlichen Sachen, die diese legendären Geschöpfe dann sagten.

Durch die Portale dieses Tempels also würden bei Tag die reichsten Frauen und die größten Huren des Landes eintreten, und eine verbannte Prinzessin würde ihnen Unterkleider und eine verarmte Herzogin Parfüme verkaufen, und Mr. Rosen in Person würde die Ehre haben, sie zu begrüßen. Er würde die Kundinnen mit einer tiefen Verbeugung bewillkommnen, würde ihnen die große feste Hand zum Gruße reichen, würde mit seinen großen, perlschimmernden Zähnen lächeln und lächeln, während seine Augen wachsam über den ganzen Geschäftsraum hin und her gingen. Er würde gestreifte Hosen tragen und auf den schweren, dicken Teppichen auf und ab schreiten, und glänzend würde er sein und machtvoll wie ein wohlgenährter Bulle, und irgendwie auch wie jenes großartige Roß im Buche Hiob, das da im Tale stampfet und zum Laut der Trompeten »Ha! Ha!« saget.

Und den ganzen Tag lang würde man aus allen Abteilungen des Luxusladens nach der Schwester meiner Geliebten rufen, der Schwester, die selten sprach und kaum jemals lächelte. Ohne sie war einfach nicht auszukommen, sie wurde überall verlangt, die reichen Gattinnen fragten nach ihr, und die berühmten Kurtisanen pflegten zu sagen, sie müßten sie unbedingt sprechen. Und wenn die Schwester meiner Geliebten dann zu den berühmten Kurtisanen käme, dann sagten diese etwa: »Ich wünschte mit Ihnen zu sprechen, die andern wissen ja nichts. Sie sind die einzige, die mich versteht, die einzige, mit der ich reden kann«, und dann stellte es sich dennoch heraus, daß die berühmten Kurtisanen nicht mit der Schwester meiner Geliebten sprechen könnten, denn diese sprach ja nie. Aber jene wollten sie eben in der Nähe haben, wollten ihr etwas eingestehen, wollten ihre Worte in das Schweigen der anderen ergießen, denn es war so: – wenn die großen, stillen Augen der Schwester meiner Geliebten die Kundinnen bloß anblickten, da drängte es diese zu reden. Und die ›Rosen‹ lächelten derweil.

Und so, während der ungezählte Menschenschwarm der Erde an mir vorüberströmte, stand ich da und dachte an diese Dinge und an diese Leute. Ich dachte an den Mr. Rosen und an meine Geliebte und an deren Schwester und an tausend fremde und geheime Augenblicke aus unserem Leben. Ich dachte daran, wie des großen Cäsar Staub in den Mörtel eingehn könne, damit man eine Mauer bewirft, und daran, wie unsre Leben an jegliches andre Leben rühren, das je gelebt ward, und daran, wie in der Luft um uns jeder dunkle Augenblick, jedes verschollne Leben, jede verklungne Stimme und jeder verhallte Tritt einmal auf dem Pflaster geklungen hatte. – »Zu seltsam wär's betrachtet, also zu betrachten.« »Nein, meiner Treu, in keinem Punkt!« – Der Schritt, der da hallte, weckte den Widerhall aus dem Staub Italiens auf, und die ›Rosen‹ lächelten immer noch.

Und mir war, als wäre all das massenhafte und vielfältige Leben dieser großen Erde wie ein Jahrmarkt. Hier waren die Messehäuser, die Läden, Buden, Schenken und Luststätten, hier war der Ort, wo Menschen kauften, verkauften, Handel trieben, wo Menschen aßen, tranken, haßten, liebten und starben, hier waren die Millionen Moden zu sehn, die die Menschen für ewig hielten, hier war der uralte, immerdar-dauernde Jahrmarkt, und heut abend wird er menschenleer sein, öde und verlassen, und morgen wird er wieder beschwärmt sein, überlaufen von neuen Menschenmengen, und auf den tausendmaltausend Wandelgängen und Budengassen werden sie gehn mit ihren Gesichtern, die Leute, die geboren werden, altern, schlapp machen und sterben.

Sie hören nie den dunklen Flügelschlag aus den oberen Lüften, sie glauben, ihr Augenblick dauere auf immerdar, sie sind so gespannt, daß sie sich selber kaum wanken und altwerden sehn. Sie heben nie die Augen auf zu den todlosen Sternen über dem todlosen Jahrmarkt, sie hören nie die unverstummbare Stimme, die über ihnen in den Lüften raunt, die Stimme, die nie aufhört, gleichviel, was für Menschen leben oder sterben. Fern und entrückt ist die Stimme der Zeit, und doch sind alle die millionentönigen Stimmen des Lebens in dieses Raunen eingegangen, es zehrt vom Leben und lebt doch oberhalb des Lebens und von ihm getrennt, es zieht brütend um das Leben herum, so, wie ein Strom, der rings um den Jahrmarktsplatz flutet.

Und darum dünkte mich nun alles gut und wundervoll, als ich an diesem strahlenden Tag auf das karge, strängige Baugerüst blickte und wußte, diese Schienen aus straffem Stahl und jene flachen Platten aus modischem Limestone, mit denen bereits die Grundmauer des Gebäudes auf der Schauseite verschalt war und die in ihrer schlanken Eleganz irgendwie wie die Hüften der Frauen waren, die in diesem Gebäude geschmückt werden würden, wären wunderbarerweise aus dem sommerfädenfeinen Stoff von Pariser Kleidern gesponnen, aus den teuersten Parfümen der Welt destilliert, mit allen Listen des Manneshirns ersonnen und aus allem Zauber der Frauenhände geschaffen.

Denn darüber, jenseits und durch das Stahlgestäng hindurch und über dem Puls und Schwall des Lebens in der großen Straße, über dem funkelnden Auf und Ab, dem Hin- und Hergeschiebe des großen Jahrmarkts, da sah ich plötzlich als grelles Wahrbild das lustige, zarte, rosige, edelschöne Antlitz meiner Geliebten. Und das Wahrbild dieses einzigen Antlitzes schien der Freude eine Zunge, der ganzen Kraft und Glückseligkeit, die ich verspürte, Gewißheit zu verleihen, und das Antlitz war so, als stünde um sein kleines Rund wie Blütenblättchen an einer Blume all die Herrlichkeit und der Glanz und die Vielfalt des Lebens auf der Straße, und ein solches Gefühl der Sieghaftigkeit und des Glaubens wallte in mir auf, daß ich dachte, ich könne die Weltstadt essen und trinken und die Erde besitzen.

Als ich so dastand und den Arbeitern zusah, die am Neubau beschäftigt waren, die kleinen Gestalten beobachtete, die korkleicht mit Weberschiffchenbewegungen auf den Tragbalken hochoben in der kristallnen Luft hin- und herliefen, da, ganz plötzlich und mit jener mörderischen Gleichgültigkeit, mit der das Entsetzliche in Träumen eintritt, geschah es. Neun Stockwerke über dem Erdboden fing eine kleine Gestalt gewandt in einem Kübel die rotglühenden Stahlnieten auf, die eine andre Gestalt mit einer Zange aus der Esse griff und ihr zuwarf. Dieser Arbeiter, der Zuwerfer, hatte auf einen Augenblick eine Pause gemacht, um Atem zu schöpfen; er hatte sich, die Zange in der Hand, abgewandt und einem dritten Arbeiter, der ein Stockwerk tiefer auf dem Tragbalken stand, etwas zugerufen. Derweil hatte der erste Arbeiter, der Fänger, seinen Kübel abgestellt; dankbar für die Unterbrechung stand er aufrecht, eine Zigarette zwischen den Lippen; das kleine Zündholzflämmchen zuckte auf im Becher seiner braunen, hohlgehaltnen Hände. Der Zuwerfer dann, die Kehle noch laut vom Lachen, das irgendein unzüchtiger Satzfetzen, der gewiß nichts mit Stahl zu tun hatte, in ihm auslöste, wandte sich wieder an seine Esse, griff mit der Zange eine glühende Niete, und während ihm die Kehle noch vom Lachen schlabberte, warf er geschickt im gewohnten Bogen, geistesabwesend, beiläufig, den Feuernagel. Und sofort, in den Widerhall seines Gelächters hinein, brach sein Schrei und überbrachte dem saugenden Geschiebe fehlloser und genauer Maschinerie drunten auf der Straße die furchtbare Botschaft seines menschlichen Irrtums.

Sein Schrei war »Christus!«, und bei diesem Wort, das so selten um der Liebe oder des Mitleids willen ausgerufen wird, schnellten die entsetzten Augen des andern Arbeiters von dem Zündholz auf das Todesgeschoß, das auf ihn zusauste. Selbst in der Sechsfußspanne Leben, die dem Manne noch blieb, hatte sein Körper Zeit für mehrere Bewegungen. Er wandte sich halbseitwärts, ging in die Kniebeuge, so, als wolle er ins Leere springen, er zog die Schultern hoch, und die großen braunen Hände tappten in einer vergeblichen, unvollendeten Gebärde nach dem Kübel. Dann, halbgeduckt und starr, die Handflächen grotesk, furchtbar, gewissermaßen flehentlich nach außen gekehrt, mit einem Fuß grauenhaft in die dünne Luft tappend, stellte sich der Mann seinem Tod entgegen, bot er ihm die Stirn. Nachdem ihn die Niete getroffen hatte, hielt er noch einen Augenblick stand, starr und in gekauerter Stellung, eine groteske Figur, die mit einem plumpen Fuß vergeblich und gräßlich in der Luft herumfuchtelte, und der ein Strähn herben Rauchs schlängelnd aus dem Gürtel aufstieg. Dann fingen die schäbigen Arbeitskleider jäh Feuer, der Mann taumelte blindlings in die gräßliche Leere und stürzte ab, eine grelle, von einem einzigen Schrei entzündete Fackel.

So stürzte dieser üppige Schrei grellend durch die strahlende und lebendige Luft. Mir schien, der Schrei hätte das Leben prallgemacht, – ich hatte auf einen Augenblick das Gefühl, alles Leben ringsum wäre vollkommen still und reglos geworden bis auf diesen einzigen Schrei. Und vielleicht war es wirklich so. Bestimmt hatte alles Leben am Neubau aufgehört: – wo zuvor das Schlag- und Rattergetöse der Nietmaschinen gewesen war, das Gerassel der Winden und das Gehämmer der Zimmerleute, herrschte nun die Stille einer kataleptischen Trance.

Über der Straße, zart und schnittig in der Blauwetterhelle, schwangen zwei Tragbalken leis in der Umklammrung der Kette, aber alle Maschinerie war abgestoppt. Kauernd und starrend lehnte sich der Mann am Signal nach vorn, die Hand noch immer erhoben in einer Warnung, die dem Arbeitskameraden galt. Der Zuwerfer saß rittlings auf einem Tragbalken, er krallte sich mit gekrümmten Händen fest, sein Gesicht war nach vorn gereckt, sein Blick ging in die vollkommne Selbstvergessenheit des Entsetztseins. Der Körper des Getroffenen war wie ein grell-flammender, ölgetränkter Bausch Putzwolle auf die Holzeinfassung gefallen, die das Erdgeschoß des Neubaus vom Bürgersteig trennte, und nach dem Aufprall auf die Straße hinausgeschleudert worden.

Dann brach die Illusion erfrorner Stille, die scheinbar alles Leben in Bann gehalten hatte, jäh ab. Jene Menschenmenge, die sich in der Großstadt auf der Stelle selbst zu erschaffen scheint und wie eine Gorgonensaat jäh aus dem Boden schießt, drängte sich bereits dicht um den Platz, wo der Abgestürzte lag, und mehrere Polizisten waren dort, die fluchend und mit drohend erhobnen Fäusten den immer dichter werdenden Ring der Neugierigen zurückschoben, und diese Neugierigen erinnerten einen furchtbar an Schmeißfliegen, die über ein Aas oder etwas Süßes herfallen. Und all die blitzende Maschinerie auf dem Fahrdamm, – die gerade nun durch die Lichtsignale an der Straßenkreuzung angehalten worden war, – kam wieder in Bewegung.

Einen Augenblick drohte ein längerer Halt, eine Unterbrechung im unvermeidlichen Fluß der Fahrt, weil mehrere menschliche Einheiten in den vorderen Geschwadern, – Einheiten, die zu Augenzeugen des Unfalls geworden waren, – nun unter der heftigen Betäubung des Entsetzens nicht so regelrecht im Klick-klack arbeiten wollten, wie es gute Maschinerie tun sollte, – aber diese menschlichen Einheiten wurden gleichsam mit der Peitsche wieder in Tätigkeit gebracht, und zwar durch einen gewichtigen Verkehrspolizisten, der mitten auf dem Fahrdamm stand, seinen mächtigen Arm wie einen Flegel hin- und hersausen ließ und üppige Flüche in die Luft säte in einem Akzent, der verdickt klang, weil der Mann eine lange, affenartige Oberlippe hatte. Die Fahrtsignale also leuchteten wieder grün, der Lärm der Straße erwachte wieder, die Geschwader heißer Maschinerie krabbelten wieder voran und fuhren davon, ein Heer von Riesenkäfern, das ein Affe antrieb. Und von neuem begann das Getös der Nietmaschinen; hoch droben über der Straße in der blauen Luft drehte sich der lange Hals eines Hebekrans und ließ die ausgewichtete Stahllast an der Klammerkette ein- und niederschwingen.

Die Leiche war bereits in den Neubau hineingetragen worden, die Polizisten gingen wie Bullen auf die störrische Menge los und zerstreuten sie. In einem geschloßnen Auto saß eine junge Frau, hell vom harten Emaille weltstädtischer Eleganz, und starrte durch das Fenster, eine kleine behandschuhte Hand an die Scheibe geklammert, das Gesicht ganz erfüllt von manikürter Besorgnis. Und während sie hinausblickte, sagte sie in einem fort, halblaut und eintönig: »Schnell! Schnell! Schnell weg von hier!« Der Chauffeur vor ihr auf dem Führersitz war unentwegt bei der Sache. Er war aufgeregt, durfte es aber nicht zeigen. Vielleicht dachte er: »Ich muß sie schnellstens von dieser Stelle wegbringen. Jesus! Was wird der Herr sagen, wenn sie's ihm erzählt!? Kann mir keinen Vorwurf machen. Ich bin doch nicht dran schuld, wenn dem Mann da was passierte. Da muß der sich selber vorsehn. Man kann eben nie wissen, was passiert. Und dabei soll ich gleichzeitig an alles denken.«

Er wagte es und nahm eine Gelegenheit wahr. Glatt und schnell glitt er außen um drei andre Wagen herum und schlüpfte an den fluchenden Chauffeuren vorbei in die erste Reihe gerade im Augenblick, als die Signallichter wechselten. Die Lady lehnte sich, einen Ausdruck der Erleichterung auf dem Gesicht, ins Polster zurück. Dem Himmel sei Dank! Das war überstanden. George war so smart. Stets brachte er's fertig, die andern zu überflügeln, und man konnte wahrhaftig nie sagen, wie er es fertigbrachte. Diesmal war es ihm wieder wundervoll geglückt.

 

Ich lehnte mich gegen ein Gebäude. Ich verspürte eine Leere in mir, mir war schwindlig. Mir war, als hätte ich plötzlich nur noch zwei Dimensionen, – als gliche alles auf der Welt irgendwelchen aus Pappendeckel ausgeschnittnen Dingen ohne Dicke.

»Helle fällt durch die Luft.« Ja, Helle war jählings durch die Luft gefallen, und dazu der ganze markige Gehalt des Lebens. Das Lebendige war aus dem Leben, der Luft, den Leuten gegangen. Was mir blieb, war nur ein Gemälde aus Wärme und Farbe, das meine schaudernden Augen mit Verdruß und Unglauben wahrnahmen. Alles auf der Straße ging auf und ab. Mir schien plötzlich, alles wäre dünn, zweidimensional, ohne Körperlichkeit und Fülle. Die Straße, die Leute, die hohen, dünnen Gebäude, – das alles bestand nur noch aus Flächen, Linien und Winkeln. Die Straße hatte keine Kurven mehr; – das einzige Ding, das Kurve hatte, war jener eine, üppige Schrei gewesen.

Und gerade so, wie das mittägliche Licht aus dem Tage gewichen war, so mußte nun, vom zufälligen Entsetzen dieses Todesfalls getroffen, das Wahrbild vom Antlitz meiner Geliebten samt all dem ihr bekannten Leben, das es für mich heraufbeschworen hatte, eine Verwandlung ins Kummervolle und Unbeständige erfahren.

Dort nämlich, wo mir im Augenblick zuvor dieses strahlende, gute und liebe Antlitz erschienen war und mir magische Daseinssicherheit und die Wesenseinheit frohlockender Weltfreude bedeutet hatte, war nun die ganze Zauberwelt von Gesundheit und Leben durch diesen namenlosen Todesfall zerschmettert und im Strom des namenlosen Bluts dieses Verunglückten ertränkt worden, und ich vermochte es nun nicht mehr, das geliebte Antlitz so zu schauen, wie es im Mittag ausgesehn hatte.

Vielmehr war es so, daß das Blut und der Tod das ganze finstere Verderben in meinem Herzen aufgerufen hatten, und die grauenhafte Welt des Tods-im-Leben hatte sich augenblicklich-inständig in mir wieder erhoben mit all ihren tausend Phantomschatten von Irrsinn und Verzweiflung, und unerträglicherweise und auf eine Art, der ich nicht zu begegnen wußte, wie ein unergründliches Mysterium von Liebe und Tod, stand nun das bittre Rätsel dieses Antlitzes aus strahlendem Leben fest inmitten jener Todesschatten, um mich mit seinem unerforschlichen Mysterium in den Wahnsinn zu treiben.

Im Wahrbild von diesem Antlitz nämlich war all das Mitleid und all die wilde Reue der Liebe enthalten, die sterben muß und doch unsterblich ist, der Schönheit, die altern, vergehn und zu einer Handvoll trocknen Staubs zerfallen muß und dennoch höher steht als ein Stern und zeitlos ist wie ein Strom, – Schönheit, die nicht herabgemindert und verwinzigt werden konnte unter der ganzen blinden Entsetzlichkeit des Weltalls und höher war als die höchsten Türme, die der Mensch bauen kann, und dauerhafter als Stahl und Stein.

Und dann erwachten die Todesschemen und wogten um das Antlitz herum, und ich konnte meine Geliebte nun nur in der Sicherheit und Stete und Verfestigung einer ruchlosen und angemaßten Macht sehen, – einer Macht, gegen die kein Mann aufbegehren, die kein Mann niederzwingen und der gegenüber ich wie ein zur Raserei gebrachtes Tier nichts tun könne als anrennen und dann wie jener Verunglückte mit zerschmettertem Leib und verspritztem Hirn auf dem Pflaster liegen, oder aber grauenhaft rasend mich einem wütigen Tod entgegenwerfen unter den andern namenlosen, gesichtslosen Menschenschwarmatomen der Erde.

Ich sah meine Geliebte unantastbar sicher in einem unermeßlichen, verworrnen und verderbten Weltstadtleben, – einem vergifteten, verkehrten und brachen Leben, das sich in Glätte abspielte in den großen Gemächern der Nacht, das von der unheilvollen Sanftmut und der Eitelkeit des Hasses glänzte, in dem das Wort immer schön und höflich klang und der Blick stets alt und schlimm war vom Jubel einer schmutzigen Zustimmung. Es war dies eine Welt von verrückten Toten, eine in Verderbnissen eingeschloßne, hinter den Wällen unanständigen Reichtums mächtig verschanzte Welt, eine in den Tod verliebte und auf Untreue lüsterne Welt, eine Welt, so unverschämt in ihrer abgestandnen Sattheit und mit ihrem schreckhaften Gewicht von Zahl und Menge, daß sie an tausend Stellen zuschlagen konnte und ein kleines Menschenleben achtlos zerschmetterte, daß sie alles Lebendige, das ihr zur Zehr gereichte, tötete und verstümmelte, – nicht nur das Herz und den Geist der Jugend mitsamt all der Hoffnung, dem Stolz und der Drangsal im Herzen und im Geist der Jugend, sondern auch Leib und Seele irgendeines obskuren Arbeiters, dessen Namen sie nicht kannte, dessen Tod ihr in ihrer entrückten Unantastbarkeit nie zu Gehör kam, sie nichts anging.

Ich versuchte die Hand meines Hasses an die unermeßliche und sich ständig verschiebende Welt von Schatten und Schemen zu legen, aber ich vermochte es nicht. Ich war außerstand, irgend etwas auf einen tastbaren Ursprung zurückzuführen, in seiner schicksäligen Bestimmtheit zu fassen. Worte, Gewisper, Gelächter, selbst eine Unze verräterischen Fleischs, das ganze unermeßliche und bewegliche Weben dieser grausamen, phantomischen Welt, – das alles war untastbar, außer Reichweite und huschte todlos und unbesiegbar hoch über mich hin, – und verständlich war mir nur, daß das alles mich höhnte und mir überlegen war.

 

Dann, während ich noch dort auf der Straße stand, wich das blinde Entsetzen von mir mit jener zaubrischen Augenblicklichkeit, mit der es stets kam und ging; überall um mich herum schienen die Leute zu leben und sich zu bewegen, und es war Mittag, und ich konnte das Antlitz meiner Geliebten wieder so sehen, wie es war, und ich dachte, es wäre das beste Antlitz von der Welt, und wußte, es gäbe kein Antlitz, das ihm vergleichbar wäre.

Aus der sich verlaufenden Menschenmenge kamen zwei Männer über die Straße herüber, von denen einer in leisem, ernstem Ton zu dem anderen sagte:

»Jesses! Dat Frollein! Haste 's gesehn? Er isser beinah uff'n Kopp gefallen! Awwah sicher, wenn ich Dir's doch sag'! Sie is' in Ohnmacht gefall'n. Sie ha'm se nebenan in 'n Laden geschleppt ... Jesses!« sagte der Mann, und einen Augenblick später dann setzte er im ruhigen Ton vertraulicher Mitteilung hinzu: »Sagmal, – dat war nu' schon der vierte an diesem Neubau, – dat haste woll noch nich' gewußt, wat?«

Dann sah ich einen Menschen neben mir, einen Mann mit einem stolzen, abweisenden, sensitiven Gesicht, das festgehalten war in der unsehend-blinden Starrheit eines Blicks, der gleichsam durch die Menschen hindurchging und auf etwas Unsichtbares gerichtet blieb. Als ich diesen Mann ansah, bewegte er den Kopf ein wenig, ganz langsam, und sagte mit der dumpfen Stimme von Schwerbetäubten: »Was? – Der Vierte? Der Vierte?«, obschon ihn gar niemand angeredet hatte. Dann hob er die schmale Hand und strich sich langsam, fast mit der Gebärde eines in tiefes Nachdenken Versunknen über Stirn und Auge, er seufzte sehr müde und langsam, wie jemand seufzt, der aus einer Trance oder einem Opiumrausch erwacht, und ging dann unsichren Schritts weiter.

Dies war das drittemal, daß ich dem Tod in der Weltstadt begegnete.

 

Was mir später, – nach meiner vierten Begegnung mit dem Großstadttod und im Gegensatz zu diesem – an den drei ersten Todesfällen, die ich in New York miterlebt hatte, auffiel, ist dieses: – Die drei ersten Male war der Tod gewaltsam eingetreten, und beinah jeder Umstand von Entsetzen, jähem Schauder, Ekel und Schreck war gegeben, wie er die Herzen derer, die den Tod mitansahen, hätte verkrampfen, ja, Haut und Fleisch dieser Weltstädter mit der Lauge des Grauens hätte überlaufen und verletzen können. Die Leute aber hatten, nachdem die erste Überraschung vorüber war, sich jedesmal augenblicklich mit dem Tod abgefunden, sie hatten ihn mit seiner Gewalttätigkeit, der blutigen Verstümmelung und seinem Entsetzen ruhig hingenommen, ganz so, als ob ein solcher Tod zu den natürlichen Folgeerscheinungen des betriebigen Alltags gehöre. Das viertemal jedoch, als ich den Tod in New York miterlebte, waren die Leute auf eine Art und in einem Maße betreten, bange gemacht, bestürzt und erschrocken, wie sie es zuvor nicht gewesen waren, und dennoch war es so, daß diesmal der Tod so still und leis und natürlich eintrat, daß man hätte meinen mögen, selbst ein Kind könne es ohne Schreck, ohne Überraschung ansehen.

 

Es trug sich auf folgende Weise zu:

Im Herz und Kern eines wütigen Strudelpunktes mitten im New-Yorker Leben – unterhalb des Broadway am Times Square – stieg ich eines Nachts gegen ein Uhr die Treppe hinunter in den Untergrundbahnhof. Ich kam aus dem Gedräng der großen Straße, ich war ziellos und verwirrt, das alte Chaos, die alte Unrast war in mir, und ich wußte um keinen Ort, zu dem es mich hinzog, wo ich hinzugehen wünschte, und der Flutgezeitenschwarm der Menschenatome drängelte und drückte voran mit einer so heftigen Hast, als hätten die Leute es nun ebenso eilig, in ihre Wohnzellen zurückgeschleudert zu werden, wie sie es am Abend eilig gehabt hatten, auf die Straßen hinauszukommen.

So strömten wir aus der offnen Nacht hinunter, wieder hinunter in die schale, brutwarme Stinkluft des Tunnels, wir schwärmten und sputeten uns auf den grauen Zementböden, wir drängten und schoben so wütig unsres Wegs, als gälte es, mit der Zeit um die Wette zu laufen, als winke uns eine große Belohnung, wenn wir's fertig brächten, zwei Minuten einzusparen, oder aber als hasteten wir so schnell wie möglich einem glorreichen Treffen entgegen, einem glückhaften und schicksalsschönen Ereignis, auf irgendein Ziel zu, das Schönheit, Wohlstand oder Liebe verhieße, und auf dessen leuchtendes Wahrzeichen unsre Augen unentwegt gerichtet wären.

Dann, als ich mein Geldstück in den Schlitz steckte und durch das hölzerne Drehkreuz auf dem Sperrpfosten ging, erblickte ich den Mann, der gerade am Sterben war. Der Schauplatz war ein kleiner, verbreiterter Treppenabsatz, eine Stufenflucht über dem Bahnsteig gelegen, und der Mann saß auf einer Holzbank, die dort stand, linker Hand, wenn man in den Tunnel hinunterstieg.

Der Mann saß da ganz ruhig auf dem einen Ende der Bank, er saß ein wenig nach rechts gelehnt, und sein Ellenbogen ruhte auf der Armlehne der Bank; den Hut hatte er etwas ins Gesicht geschoben, und das Gesicht war halb nach unten gerichtet. In diesem Augenblick war eine langsame, ruhige, kaum wahrnehmbare Bewegung des Atems an ihm zu beobachten, – ein Flatterhauch, ein leises Geseufze –, und der Mann war tot. Gleich darauf ging ein Schutzmann, der den Mann beiläufig im Auge behalten hatte, hinüber zu der Bank, beugte sich herab, sprach den Mann an, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn. Der Körper des Toten schlotterte ein bißchen, der Arm fiel über die Seitenlehne und blieb so, die Hand hing herab, der schäbige Hut rutschte tiefer in die Stirn, saß nun schief auf dem Kopf, der Mantel war jetzt aufgeschlagen, das kurze rechte Bein steif angezogen. Und gerade während der Polizist ihn gerüttelt hatte, war der Mann grau im Gesicht geworden. Mittlerweile waren ein paar Menschen aus der ständig aus- und einströmenden Menge stehngeblieben, um zu gucken. Sie starrten unbehaglich und neugierig, schickten sich an, weiterzugehn und hielten dann wieder inne. Bald darauf standen ein paar Leute da, sie guckten einfach, sie sagten nichts, von Zeit zu Zeit sahen sie einander mit unbehaglich und verstört fragenden Augen an.

Und doch glaube ich, wir alle wußten, daß der Mann tot war. Mittlerweile war ein zweiter Polizist eingetroffen, er sprach leise mit dem andern, und nun fing auch er an, den Toten neugierig zu mustern. Er trat zu ihm hin, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn, ganz so, wie es der erste Polizist getan hatte, und dann, nachdem er leise ein paar Worte zu seinem Kameraden gesagt hatte, ging er schnell weg. Eine oder zwei Minuten später kehrte er zurück, und ein dritter Polizist kam mit ihm. Nach einer kurzen, leise geführten Abrede beugte sich einer von den drei Polizisten über den Toten und durchsuchte dessen Taschen. Er fand einen schmutzigen Briefumschlag, eine Brieftasche und eine schmierige Visitenkarte. Nachdem die drei Polizisten die Geldtasche untersucht und sich den Befund aufgeschrieben hatten, stellten sie sich einfach neben den Toten und warteten.

Der Tote war ein schäbig aussehender Mann von schwerbestimmbarem Alter, aber er war wohl kaum unter fünfzig und wohl auch kaum über fünfundfünfzig Jahre alt. Und hätte jemand lang und weit nach dem wahren Bildnis der Asphaltziffer gesucht, nach der Komposit-Photographie des Menschenschwarmatoms, dann hätte er kein besseres Exemplar für die Art finden können als diesen Mann. Seine einzige Auszeichnung war, daß ihn nichts von Millionen andrer Leute auszeichnete. Er hatte so ein Gesicht, wie man es täglich zehntausendmal auf den Straßen New Yorks sieht, und an das man sich dann doch nicht erinnern kann.

Dieses Gesicht, das schon zu Lebzeiten fahl, schlaff und locker, von ungesunder Hautfarbe und schwammiger Beschaffenheit des Gewebes gewesen war, war zwar schlechthin und unverkennbar irisch, war das Gesicht eines New-Yorker Iren, – mit diesem dünnlippigen, eingesunknen, leicht heruntergezognen Mund, um den doch etwas Loses und Schlaues, ein verstohlner und verderbter Humor, spielte. Und das Gesicht war außerdem mürrisch, es gehörte zur Kategorie ›schlapper Hund‹, es war wehleidig und untertänig, – es war eben so ein Kleinbürgergesicht, wie es zu einem Türsteher vor einem Lichtspieltheater, zum Wächter in einem schäbigen Lagerhaus, zum Schwiegervater eines Schutzmanns gehört, zum Vetter fünften Grades eines Revierwachtmeisters oder zum Onkel einer Gefängnisunteraufsehersfrau, zu einem Türaufschließer, Bürowärter oder Laufboten im Ruhestand, zu einer Kreatur, die im Vorzimmer irgendeines irischen Politikers sitzt und die Frager und Bittsteller abwimmelt, die gelernt hat, am Wahltag pflichtschuldigst für ›die Jungs‹ zu stimmen, die ihr bißchen Anerkennung für geleisteten Dienst und bewährtes Stillschweigen hingeschmissen kriegt, nicht anders als man einem Hund einen Brocken zuwirft, die sich zu aller Dienstbarkeit gewandt bereitzuhalten weiß, die sich schweifwedelnd untertänig und kriecherisch gebärdet vor denen, denen der Stempel der Bevorrechtung und Begünstigung aufgeprägt ist, und sich der ruppig-fauchenden, zuschnappenden, gönnerhaft-überlegnen und unverschämten Unhöflichkeit befleißigt vor denen, die keine Macht, keine Vorrechte haben, die kein besonderes Kennzeichen, wie es Gunst heischt oder Vorrang fordert, tragen, das sie in den Augen eines solchen Angestellten größer erscheinen läßt. Ein solches Geschöpf war ganz zweifellos jener Mann gewesen, der nun tot auf der Bank im Untergrundbahnhof saß.

Und dieses Mannes Name war Legion, und seine Zahl war Myriade. Auf seinem grauen Gesicht, auf seinem toten, eingesunknen Mund saß noch das Gespenst seines jüngst vergangnen Lebens, seiner jüngst verklungnen Rede, und das war so unglaublich, daß wir Umherstehenden glauben mochten, wir hörten jenen Mann reden und vernähmen wiederum die bekannten Töne seiner Stimme, und dieser Mann in seinem Tun und mit seinen Eigenschaften wäre uns so gewißlich bekannt, als ob er noch am Leben wäre und irgend jemanden gerade anschnauzte: »... Kann ich nich' ändern, ich weiß nischt von der Sache! Alles, was ich weiß, Mister, is', daß ich 'nen Auftrag habe, und der Auftrag lautet, niemanden vorzulassen, der nicht nachweisen kann, daß er mit Mister Grogan verabredet ist. Wie soll ich wissen, wer Sie sind? Wie soll ich sagen können, was Sie hier zu erledigen haben? Was geht mich das an? Nein, der Herr! Wenn Se nich' beweisen können, daß Sie mit Mr. Grogan 'ne Verabredung haben, kann ich Sie nich' vorlassen ... Was Se da sagen, mag ja wahr sein ... kann abah auch sein, daß es nich' stimmt ... Was zum Teufel glaub'n Se denn, daß ich bin? Gedankenleser wohl oder so was? ... Nöh, Mister! Ich kann Se nich' vorlassen! ... Ich habe meinen Auftrag, und weiter kann ich mich an nichts halten.«

Und doch, schon im nächsten Augenblick konnte diese selbe Stimme winseln, konnte sie untertänig etwas einzuwenden oder in gekränktem Ton eine Entschuldigung vorzubringen haben und zu demselben Mann oder auch zu einem andern sprechen: »Ja, warum hab'n Se denn nich' gesagt, daß Sie 'n Freund von Mister Grogan sind? ... Wie konnten Se mich nur im Unklaren lassen drüber, daß Se sein Schwager sind!? ... Hätten Se nur 'n Wort davon verlauten lassen, dann hätt' ich Se auf der Stelle vorgelassen. Sie wissen doch, wie es ist ...« Hier wurde die Stimme gedämpft im Ton kriecherischer Vertraulichkeit, »... Tag für Tag kommt 'n Haufen Kerle her und will rein ins Büro zu Mister Grogan; dabei hab'n se dort gar nischt zu suchen ... Sie vastehn doch, das ist eben der Grund, weil ich so vorsichtig sein muß ... Abah nun, nachdem ich weiß, daß Sie Mister Grogan genehm sind«, ging es schmeichlerisch weiter, »werde ich Sie jederzeit vorlassen. Wer O. K. mit Mister Grogan is', der is allright«, erklärte die Stimme im Ton schleimiger Verbindlichkeit. »Sie wissen ja, wie es ist«, erklärte die Stimme flüsternd, und die unangenehme Hand strich mit schlauen Fingern über den Rockärmel des Angeredeten, »Sie vastehn ja, daß ich's nich' bös meinte, – ein Angestellter wie ich muß eben vorsichtig sein.«

Ja, das war die Stimme, das war der Mann, so gewiß, als ob sich der tote Mund gerade bewegt, die tote Zunge sich soeben geregt und in ihrer Sprache zu uns gesprochen hätte. Da war er also, noch immer mit dem gelbfahlen Abglanz seines ganzen Daseins auf dem Gesicht, der nun sichtbar und fürchterlich abblaßte und ins Grau des Todes überging. Arme, schäbige, untertänige, kriecherische, fauchende und verderbte Asphaltziffer, armes, mageres, buckelndes, verschmitztes, ränkevolles, trübselig hoffendes und pflichtschuldig dienstfertiges kleines Menschenatom aus der millionenfüßigen Großstadt, armes, trübes, häßliches, schnödes, schäbiges Männchen mit deinem kleinen Gescharr harscher Flüche, ruppiger Schreie und schaler, dürftiger Wörter, mit deinen kläglichen kleinen Absichten und deinen schwachen Vorsätzen, mit deinem Quentchen Hirn, deinem Fingerhut voll Mut und dem ungeheuren Ballast deines stumpfsinnigen und widrigen Aberglaubens, oh, du klägliches, kleines Wesen aus Teig und Talg, du Esser kümmerlicher Speisen und Trinker schlechter Getränke, – Freude, Glanz und Großartigkeit haben auf Erden dein gewartet, aber du bist auf dem Pflaster herumgekrabbelt und hast ein paar abgestandne Wörter wie Kieselsteine in deiner Kehle schebbern lassen und wolltest von Freude, Glanz und Großartigem nichts wissen, weil ihnen der Geruch deines Herrn nicht anhaftete, weil ihnen des Priesters Weisung nicht galt, weil sie die kleine, kärgliche Zustimmung von Mike und Mary, von Molly, Kate und Patrick nicht hatten, – und heut nacht scheinen Sterne, große Schiffe tuten in der Hafenausfahrt, und Millionen Leute deiner Art und Ordnung gehen stapfend dir zu Häupten ihres Wegs, während du tot hier im grauen Tunnel hockst!

Wir sehn dein totes Angesicht mit Schauder, mit Mitleid und mit Entsetzen an, weil wir wissen, daß du aus demselben Lehm gemacht und mit denselben Eigenschaften versehen bist wie wir. Irgend etwas, das uns allen eignet, Hohes und Niedriges, Gemeines und Heldisches, Seltnes und Gewöhnliches und Herrliches liegt hier tot im Herzen der unaufhörlichen Stadt, und das Schicksal aller lebenden Menschen, ja, das der Könige des Erdreichs, der Fürsten des Geistes, der mächtigsten Beherrscher der Sprache und der todlosen Finder von Versen, all die Hoffnung, all der Hunger und all der erdeverschlingende Durst, die unglaublicherweise im winzigen Gefängnis eines Schädels hausen und das kleine, zwängende Gehäus verrücken und zerrütten können, alles das steht hier auf diesem schäbigen Wahrbild aus verdorbnem Lehm geschrieben.

 

Der Tote hatte Kleider an, an denen nichts Besondres auffiel, und wiederum war es so, daß sich aus dieser trübseligen Gewandung die ganzen Eigenschaften des Mannes und seine Stellung im Leben feststellen ließen, ganz so, als ob diese Kleider eine Zunge, einen Charakter hätten und eine eigne Sprache sprächen. Die Kleider sagten, daß dieser Mann sein Lebtag Armut und eine schäbige Sicherheit gekannt hatte, daß sich seine Verhältnisse ein paar Grade über der allaugenblicklich empfundnen Verzweiflung der Landstreicherei und der Elendsarmut und viele Grade unterhalb der wirklichen, bestandfesten und Beruhigung verleihenden Existenzsicherheit gehalten hatten. Diese Kleider sagten, daß der Mann wirtschaftlich von Monat zu Monat statt von Tag zu Tag gelebt hatte, immer unter der Drohung und in der Angst vor irgendeiner Katastrophe, – Krankheit, dem Verlust der Stellung, dem Altwerden, verhängnisvollen Ereignissen also, die die dürftige Schutzwand, die er zwischen sich und der Welt errichtet hatte, mit einem Schlage zertrümmert haben würden, – niemals frei von der Furcht vor solchen Widrigkeiten, aber doch immer imstand, sie gerade abzuwenden, ihnen gerade zu entgehn oder zuvorzukommen.

Er trug einen ungebügelten, ausgebeulten Anzug, den er ziemlich gut ausfüllte und der das Sackige, Bauchige und Formlose des Körpers angenommen hatte. Der Tote nämlich hatte einen kleinen Spitzbauch und war von mittlerer Fülle und durchschnittlicher Fleischigkeit, was besagte, daß er ein wenig Überfluß gekannt und keinen Hunger gelitten hatte. Der Mann trug einen schmutzigen, alten Hut aus braunem Filz, einen schäbigen grauen Mantel und ein zerfranstes rotes Halstuch, und diese Kleidungsstücke hatten eine Eigenschaft von Abnutzung, Gebrauchtsein und Schäbigkeit, die unnachahmlich war, und die der größte Kostümierungskünstler von der Welt vorsätzlich nie hätte erreichen können.

Das Leben, das Millionen Menschen leben, stand gleichsam aufgeschrieben in diesen Kleidern. In der Art, wie sie sackig geworden waren, wie sie am Körper saßen und hingen, wie die Stoffe schmuggelig und trübselig und fadenscheinig geworden waren, offenbarte sich das schäbige Dasein von Millionen Asphaltziffern, und diese Eigenschaft war so ausgesprochen, so leserlich, daß nun, während der Tote dasaß und sein Gesicht das Leichengrau des Todes annahm, der Körper vor unsren Augen sichtbar zu schrumpfen, abzunehmen, sich seiner letzten Bezogenheit aufs Leben zu entziehen schien, während die Kleider ihrerseits Eigenschaften und einen Charakter annahmen, der bei weitem lebendiger war, als die Form, die sie umgaben.

Und nun war auch das Gesicht des Toten schaurig geworden von jener seltsamen Wirklich- und Unwirklichkeit des Todes, die eine so furchtbare Ironie enthält, denn Gesicht und Gestalt der Toten haben ja, wenn man sie betrachtet, scheinbar keinen größeren Gehalt und Anteil an der sterblichen Fleischlichkeit als Wachsfiguren im Schaukabinett; sie scheinen zu lächeln, zu höhnen, zu starren und das Leben in der gleichen schaurigen und unwirklichen Weise mimisch nachzuäffen, wie es Wachsfiguren tun.

Die Drehkreuze auf den Sperrpfosten klickten ununterbrochen mit dumpfem, hölzernem Laut, unaufhörlich eilte der Schwarm der Menschen über den grauen Zementfußboden, unablässig mit wüstem Geknirsch und Erschütterungen donnerten drunten auf dem Bahnsteig die Untergrundzüge aus und ein, und von Zeit zu Zeit hielt jemand aus dem vorüberschiebenden Menschengedräng inne, guckte einen Augenblick neugierig auf den Toten und blieb stehn. Um die Bank, auf der der Tote hockte, hatte sich mittlerweile in weitem Halbkreis eine recht ansehnliche Menge geschart, und das Merkwürdige war, daß die Leute sich nicht heranpreßten oder näher zu kommen versuchten, so, wie es die Umherstehenden tun, wenn sich ein gewaltsamer, blutiger oder tödlicher Unfall ereignet hat.

Statt dessen standen sie einfach in diesem weiten Halbkreis um die Bank herum und versuchten keineswegs, näher hinzudrängen; sie sahen einander mit unbehaglichen und bestürzten Mienen an und richteten leise Fragen aneinander, die gemeinhin unbeantwortet blieben, denn der Angeredete pflegte meist den Frager unsichern und verstörten Blicks anzusehn, dann wegzublicken und ein »Ich weiß nicht« murmelnd sich achselzuckend abzuwenden. Die Zahl der Polizisten hatte sich mittlerweile auf vier erhöht; sie standen einfach stur und untätig neben der Leiche, von Zeit zu Zeit aber, seltsamer-, ja, beinah komischerweise schienen sie sich zu heftiger Betriebsamkeit aufzurütteln, und dann gingen sie stoßend und schiebend gegen den Ring der Umstehenden vor und befahlen barsch und ungeduldig: »Schluß damit jetzt! Keinen Auflauf machen! Weitergehn! Weitergehn! Sie versperren den Durchgang hier! Weitergehn! Weitergehn! Keinen Auflauf machen!« Und daraufhin gab die Menge jedesmal gehorsam ein wenig Raum frei, die Leute wichen ein paar Schritte zurück, es entstand ein Geschurr von Füßen und ein Durcheinandergeschiebe der Personen, und dann – mit der unüberwindlichen Gesetzmäßigkeit, die einem Gummiseil oder einer Quecksilberkugel innewohnt, – rückte die Menge wieder auf zum gaffenden, verstörten, unbehaglich flüsternden Halbkreis.

Die ganze Zeit über klickten die hölzernen Drehkreuze an der Sperre mit dumpfem, totem, ein wenig wie Donner hallendem Ton, und Leute drängten vorüber zu ihren Zügen, und wenn sie derer, die den Toten auf der Bank anstarrten, gewahr wurden, konnte man an ihren Blicken und Gebärden und an ihrem Benehmen alle Verhaltungsweisen feststellen, wie sie bei Menschen möglich sind, wenn sie des Todes ansichtig werden.

Manche Leute kamen vorbei, hielten inne, starrten den Toten an und fragten leise im unbehaglichen Flüsterton: »Was fehlt ihm denn? Ist er krank? Ist er ohnmächtig geworden? Ist er betrunken – oder sonst was?« Und da kam es dann vor, daß ein Mann, der dem Toten einen Augenblick scharf ins Gesicht gelugt hatte, laut und herzhaft und mit einer harten, abweisenden, höhnischen Handgebärde antwortete, obschon doch in seiner Stimme etwas Beunruhigtes und Ungewisses mitschwang: »Nöh! Dem fehlt nix! Der Kerl is besoffen, weiter nix! So besoffen, daß er nich mehr gehn un' stehn kann ... Da stellen sich die Leute hin und glotzen die volle Eule an, als ob se noch keenen Besoffnen gesehn hätten!« höhnte der Mann und rief: »Also kommt schon! Gehn wir weiter!« Und er ging mit seinen Begleitern, hart und höhnisch über die Umstehenden lachend, weiter.

Und in der Tat, Positur und Erscheinung dieses Toten, der da, den schäbigen Hut schief in die Stirn gerückt, das eine Bein strack und steif angezogen, die rechte Hand über die Lehne herabbaumelnd, auf der Bank saß, erinnerten so sehr an die Art, wie bewußtlos Betrunkne dazusitzen pflegen, daß viele Leute, sobald sie das schaurig-graue Gesicht sahen, in einem gewissermaßen verzweifelt erleichterten Ton ausriefen: »Ah! Er ist ja bloß betrunken! Kommt! Gehn wir!« und weitereilten, obschon sie in ihren Herzen sehr wohl wußten, daß der Mann tot war.

Andre kamen vorüber, sahen den Toten, wandten sich ärgerlich ab und blickten dann wütend auf die Menge, runzelten die Stirn, schüttelten stark abfällig und betont angewidert den Kopf und murmelten tonlos etwas vor sich hin, ehe sie weitergingen, ganz so, als hätten sich die Leute einer unanständigen und ungehörigen Handlung schuldig gemacht, wie anständige und ordentliche Seelen sie verabscheuen.

Eine Gruppe von Juden – drei Frauen und ein halbwüchsiger Bursch – war die Treppe heruntergekommen und drängte sich nun in den Halbkreis. Die Frauen, furchtsam aneinandergedrängt, starrten, der Junge aber schaute sich auf eine dumme, betroffne Art den Toten an und sagte schließlich mit nervöser, hoher, betretner Stimme: »Was dem bloß fehlt? Ha'm se schon um den Krankenwagen telephoniert?«

Niemand aus dem Ring stillschweigender Menschen antwortete ihm, aber da war ein Taxichauffeur, – ein Mann mit einem rohen, schweren, übernächtigen Gesicht, schwärzlich-fahler, blatternarbiger Haut, schwarzem Haar und schwarzen Augen, ... Kappe auf dem Kopf, Lederjacke, dickem Hemd aus schwarzer Wolle – und dieser Mann drehte sich halb um, deutete mit einer abfälligen Kopfbewegung auf den Jungen, ohne diesen jedoch anzusehen, und sagte in einem höhnischen und geringschätzigen Ton zu denen, die um ihn herumstanden:

»Krankenwagen! Der Krankenwagen! Was zum Teufel soll denn da 'n Krankenwagen? Jesus!« rief er aus. »Der Mann is' tot, und der da möcht' wissen, ob man um den Krankenwagen telephoniert hat!« Wieder schnickte er den Kopf verächtlich nach dem Jungen, und offenbar schienen ihm seine höhnischen und geringschätzigen Worte eine gewisse Selbstsicherheit und Bestimmtheit zu geben. »Jesus!« grunzte er. »Der Kerl is' mausetot, und der da möcht' wissen, ob man um den Krankenwagen telephoniert hat!« Er schüttelte vielsagend den Kopf. »Jesus!« Und er ging seines Wegs, vor sich hingrunzend, hohnlachend und kopfschüttelnd, ganz so, als ginge es über sein Vermögen, die Dummheit und Albernheit mancher Leute zu verstehen und zu billigen.

Der Junge aber starrte mit von Entsetzen und Unglauben gebannten Augen den Toten auf der Bank unverwandt an, benetzte dann seine trocknen Lippen mit der Zunge und fing an, nervös und dumpf und in betretnem Ton zu sprechen.

»Ich seh' ihn nich' atmen, überhaupt nix«, sagte er. »Er bewegt sich nich', überhaupt nix.«

Das Mädchen neben ihm, das sich die ganze Zeit an seinen Arm geklammert hatte, – eine kleine, rothaarige Jüdin mit einem schmalen, mageren Gesicht und einer unheimlich großen Nase, die das ganze Gesicht zu überschatten schien, – zupfte ihn nun nervös und beinah besessen vor Angst am Ärmel und flüsterte:

»Oh! Gehn wir doch! Schaun wir doch, daß wir hier wegkommen! ... Oje! Ich zittre am ganzen Körper. Oje! Ich bebe ja – guck doch!« Sie hob ihre Hand, die sichtbar zitterte. »Gehn wir doch!«

»Ich seh' ihn nich' atmen, überhaupt nix«, sagte der Junge dumpf und stierte.

»Herrje! So komm doch!« flüsterte das Mädchen wieder flehentlich. »Oje! Ich bin ja so nervees, daß ich zitter' wie das Laub! Ich bebe am ganzen Körper! So komm doch!« flüsterte das Mädchen. »Komm! Laß uns gehn!« Und zu viert, – die drei erschrocknen Frauen und der stumpfsinnige, bestürzt aussehende Bursch, – gingen sie die Stufenflucht hinunter auf den Bahnsteig.

Die andern Leute, die bisher nur dagestanden, einander unbehaglich angeblickt und verstörte, verlegne und meist unbeantwortete Fragen aneinander gerichtet hatten, begannen nun leise zu reden und zu flüstern, und aus ihren Gesprächen konnte man mehrere Male das Wörtchen ›tot‹ heraushören. Und nachdem dieses Wörtchen ausgesprochen und vernommen worden war, wurden alle Leute sehr still und ruhig. Sie wandten die Gesichter langsam auf die Gestalt des Toten auf der Bank und begannen, mit einem Blick von Neugier, Gebanntheit und einem furchtbaren, zehrenden Hunger diese Gestalt anzustarren.

In diesem Augenblick ließ sich ein Mann vernehmen, und dieser Mann sprach leise und mit einer Bestimmtheit, die an jedermanns Statt festzustellen schien, was jedermann unfähig gewesen war, für sich selber auszusagen:

»Sicher, er ist tot. Der Mann ist tot.« Und die ruhige, sichere Stimme fuhr fort: »Ich hab' die ganze Zeit gewußt, daß er tot ist.«

Und fast zu gleicher Zeit sprach auch ein Soldat, ein hochgewachsner Mensch, der das gefurchte und wetterfeste Gesicht eines Mannes hatte, der lange Jahre im Heer gedient hat. Der Soldat wandte sich zur Seite und sprach ruhig, im Ton sachverständiger Sicherheit zu einem kleinen Iren mit einem tellerblanken Gesicht, der neben ihm stand.

»Ganz schnuppe, wo einer abhaut«, sagte der Soldat, »jeder läßt halt den kleinen schwarzen Flecken da zurück, nicht wahr?« Er sagte das mit ruhiger, fester Stimme, ganz im Ton des beiläufigen Erwähnens, und beim Sprechen deutete er mit dem Kinn auf einen kleinen, feuchten Flecken auf dem Zement neben dem steif zurückgezognen Fuß des Toten.

Der kleine Ire mit dem tellerblanken Gesicht nickte sofort zu den Worten des Soldaten und pflichtete im Ton nachdrücklicher Bestätigung bei:

»Da haste recht!«

Und nun kam Bewegung in die Menge. An der Sperre neben den Drehkreuzen machten die Leute respektvoll eine Gasse, und, von zwei Krankenträgern, von denen einer eine zusammengerollte Streckbahre trug, gefolgt, erschien der Arzt.

Dieser Arzt – er war von der Unfallmeldestelle des nächsten Krankenhauses im Ambulanzwagen gekommen – war ein junger Jude mit vollen Lippen, einem ein wenig fliehenden Kinn, einem kleinen, seidigen Schnurrbärtchen und einem recht gelangweilten, hoffärtigen und gleichmütigen Ausdruck im Gesicht. Er hatte eine blaue Jacke an und trug eine flache blaue Schirmmütze, die er ein wenig aus der Stirn zurückgeschoben hatte. Schon als er ankam und langsam und gleichgültig über den Zementfußboden herzutrat, hatte er das Stethoskop bereit. Die Tubenstöpsel staken ihm in den Ohren, das Hörrohr hielt er in der Hand. Die beiden Krankenträger gingen hinter ihm her.

Jede Bewegung, die dieser Arzt machte, gab seinem Tun ein Ansehen von Gewohnheit, Langerweile, selbst Verdrießlichkeit, ganz so, als wäre er viel zu oft zu solchen Erledigungen gerufen worden, um nun noch imstande zu sein, irgend etwas dabei zu empfinden. Als er hinzutrat, machten die vier Polizisten Platz für ihn, und ohne die Polizisten zu grüßen, trat er sofort auf den Toten zu, knöpfte ihm den Kragen auf und das Hemd, bückte sich herab und setzte das Stethoskop an. Ein paar Sekunden lang lauschte er aufmerksam und sehr gespannt, dann ging er mit dem Hörrohr zu einer andern Stelle auf der talgigen, unbehaarten, schaurig aussehenden Brust des Toten und lauschte wiederum aufmerksam.

Während all dieser Zeit zeigte sein Gesicht keinerlei Regung, keine Anzeichen von Überraschung, Bedauern oder von einem entdeckten Befund. Zweifellos hatte der Arzt auf den ersten Blick erkannt, daß der Mann tot war, und tat nun lediglich seine Pflicht und Schuldigkeit, insofern er die Förmlichkeiten erfüllte, die Gesetz und Gepflogenheit in einem solchen Fall erheischen. Während der Untersuchung aber drängten sich die Umherstehenden dichter heran; die Blicke waren mit banger, gebannter, ehrfürchtiger Teilnahme auf das Gesicht des Arztes genietet, so, als erhofften die Leute dort die Bestätigung dessen zu lesen, was sie bereits wußten, oder als rechneten sie bestimmt, ein Ausdruck von Entsetzen, Mitleid oder Bedauern würde auf den Mienen des Arzts erscheinen und somit der Stempel endgültiger Bekräftigung auf ihr eignes Wissen gedrückt werden. Aber auf dem Gesicht des Arztes war nichts zu sehen als sachliche Absichtlichkeit, pflichtschuldige Spannung und der Ausdruck von Langerweile, beinah von Verdrießlichkeit.

Als der Arzt mit dem Stethoskop zu Ende gekommen war, richtete er sich auf und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Dann, ganz beiläufig, zog er die halbgeschloßnen Lider des Toten einen Augenblick in die Höhe, und die Augen des Toten starrten mit einem schaurig bläulichen Glitzen. Der Doktor wandte sich ab und sprach leise ein paar Worte zu den Polizisten, die, Notizbücher aufgeklappt, um ihn herumstanden, ganz mit dem gleichen Gehaben geduldig gepflogener Gleichgültigkeit, und nun auf einen Augenblick sich pflichtbeflissen etwas aufschrieben. Einer der Polizisten richtete kurz eine Frage an den Arzt und kritzelte sich die Antwort auf, und schon war der Doktor wieder am Weggehn. Er ging langsam und gleichmütig weg, gefolgt von den beiden Krankenträgern, von denen keiner irgendeine Spur von Überraschung oder Neugier zeigte. Tatsächlich schien der Tote den Kontrollorganen eines Regimes verfallen zu sein, die mit einer mitleidslosen Präzision arbeiteten, der nicht zu entrinnen war, eines Regimes, an dessen Dienstvorschriften sich kein Tüttelchen ändern ließ, da sie von allen Amtswaltern – Ärzten, Krankenträgern, Polizisten und selbst den Priestern, der Kirche – mit der verdrießlich-unstrittigen Endgültigkeit genauer Kenntnis befolgt wurden.

Die Polizisten hatten ihre Einträge gemacht und steckten die Notizbücher weg, und nun drehten sie sich herum und kamen mit großen Schritten auf die Menge zu. Sie schoben und drängten die Leute zurück und befahlen barsch: »Weitergehn! Weitergehn! Keinen Auflauf machen! Keinen Auflauf machen!« Aber auch dies taten sie mit dem gleichen Gehaben vorschriftsmäßiger Gepflogenheit, verdrießlich und gleichgültig, und als dann die Menge wieder mit rasendmachender, quecksilberhafter Behendigkeit ihre alte Stellung bezog, sagten die Polizisten nichts und zeigten weder Ärger noch Ungeduld. Die Leute standen also wieder im Halbkreis um den Toten herum und warteten unentwegt auf die nächste Entwicklung, die die Dinge auf dem unabänderlichen Dienstweg nehmen sollten.

Und nun, so, als wären die Schranken des Schweigens, der Zurückhaltung und der Scheu gefallen, als wären Verwirrung und Zweifel in den Menschengemütern durch eine klare Feststellung beschwichtigt und niedergeschlagen durch den schlichten Klang des öffentlich ausgesprochnen Wortes ›Tod‹, begannen die Leute so selbstverständlich und natürlich miteinander zu reden, als wären sie seit Jahren befreundet oder bekannt oder hätten vertraulich miteinander verkehrt.

Ein wenig abseits, hinter dem äußeren Ring der Menge, standen drei geschniegelte Nachtgeschöpfe, wie sie zum Bild der großen Straße gehörten, die uns zu Häupten donnerte. Der eine von diesen Männern war ein glatter junger Broadwayiter; er trug einen kessen grauen Hut und einen leichten, grauen Frühjahrsmantel, der auf Taille geschnitten war. Der andre war ein Jude von der Sorte, die sich vordrängt und behauptet; er sah bescheidwisserisch aus, hatte eine große Nase, eine aggressive Stimme und ein Geierlächeln. Der dritte war ein kleiner Italiener mit einem fuchsigen Gesicht, einer abscheulich gelben, übernächtigen Haut, schwarzem Haar und glitzernd schwarzen Augen. Alle drei waren sie mit Anzug und Mantel smart angetan nach der auffälligen, aber billigen Mode, die am Broadway zu Hause ist, und nun hatten sie zusammengefunden, so, als hätten sie einer im andern den Mann von Gehalt, Weltfähigkeit und Lebenswissen erkannt. In einer ganz überlegenen, bescheidwissenden Manier fingen sie an zu philosophieren und bedachten Leben und Tod, die Kürze der Menschentage und die Vergeblichkeit menschlichen Hoffens und Strebens mit den reifen Erfahrungsfrüchten ihrer Daseinserkenntnis. Der Jude dominierte in der Dreimännergruppe; er war der Sprecher, die beiden andern spielten tatsächlich nur die Rolle des Chors, und wenn er mit seiner Lästerlitanei zu einer Atempause gekommen war, nickten sie und brachten bestätigende Redensarten vor wie: »Da ha'm Se recht!« und: »Da gibt's kein Wenn und Aber!« und auch: »Wie ich neulich einem sagte –«, auf welch letztere Bemerkung jedoch keine Mitteilung folgte, da mittlerweile der Hauptredner Atem geschöpft hatte, wieder im Schwange war und kreischend loslegte, etwa so:

»Und da wird nun um Christiwillen von einem Kerl verlangt, er soll für die Zukunft sparen!« Schrilles Hohnlachen. »Für die Zukunft!« Kunstpause, in der das Hohnlachen noch höhnischer vorgetragen wurde. »Wenn man einen Kerl so dahocken sieht, da fragt man sich doch, warum? Stimmt's?«

»Da ham' Se recht!« sagte der Italiener und nickte energisch beipflichtend.

»Wie ich neulich einem sagte –«, begann der junge Broadwayiter.

»Christus!« raunzte der Jude. »Für die Zukunft sparen!! Warum zum Teufel sollte ich, ausgerechnet ich, für die Zukunft sparen?!« begehrte er in gebieterisch heischendem Ton zu wissen, tippte sich kriegerisch aufbegehrend mit dem gekrümmten Zeigefinger auf die Brust und blickte sich um, ganz so, als hätte ihm gerade jemand diesen lästerlichen Vorschlag zwangsweise aufgenötigt. »Was soll 'nn das nützen? Morgen kannste tot sein! Was zum Teufel hat's für 'nen Sinn zu sparen, um Christiwillen? Wir sind ja nur 'n kleines Weilchen hier! Um Christiwillen, da soll man doch soviel wie möglich dabei herausschlagen, – oder stimmt's vielleicht nicht?« fragte er herausfordernd und blickte sich streitsüchtig um, während die beiden andern ihm schuldigst beipflichteten.

»Wie ich neulich einem sagte«, bemerkte der junge Broadwayiter, »das zeigt wieder mal – –«

»Lebensvasichrung!« kreischte der Jude in diesem Augenblick und lachte laut Hohn. »Die Lebensvasichrungsgesellschaften, um Christiwillen! Warum soll denn einer seine Kröten für Lebensvasichrung ausgeben?« fragte er ruppig.

»Nöh! Nöh! Nöh! Soll er nich'!« gurgelte der Italiener zur Bestätigung und lächelte füchsig geringschätzig. »Das is' alles 'n Haufen Quatsch!«

»'n Haufen Gequassel, weiter nischt!« sagte der junge Broadwayiter. »Wie ich neulich einem sagte – –«

»Lebensvasichrung«, höhnte der Jude. »Wollen ei'm diese Bankerte weismachen, daß man ewig lebt? Für die Zukunft sparen, um Christi willen!« fauchte er. »Bißchen was beiseitlegen auf die alten Tage! Um Christiwillen, auf meine alten Tage«, höhnte er. »Dabei kann's einem jede Minute gehn wie dem Kerl da! Stimmt's?«

»Da ham' Se recht!«

»Etwas beiseitlegen für den Tag, wenn die Sonne nicht scheint! Etwas den Kindern hinterlassen, wenn de abhaust!« höhnte der Mann. »Ei, warum soll denn ausgerechnet ich grade meinen Kindern was hinterlassen? Um Christiwillen!« fauchte er, so empört, als hätten die befugten Vertreter der organisierten Menschengesellschaft und dazu fünfzehn von seinen Sprößlingen just dies in diesem Augenblick mit allem Nachdruck von ihm verlangt. »Nein, der Herr!« erklärte er bündig. »Meine Kinder sollen sich um sich selber bekümmern, genau so, wie ich es mußte. Für mich hat kein Mensch was getan. Warum zum Teufel sollte ich mich also abrackern, damit ein Haufen Bankerte eines Tags den Zaster ausgeben kann?! Denen fällt, 's ja im Traum nicht ein, erkenntlich dafür zu sein. Stimmt's?«

»Da ham' Se recht!« bekannte der Italiener und nickte. »Das is' einfach 'n Haufen Quatsch!«

»Wie ich neulich einem sagte – –«, begann der junge Broadwayiter.

»Nein, der Herr!« erhärtete der Jude endgültig und lächelte zynisch bitter. »Nein, der Herr! Nein, Mister! Kommt für mich nich' in Betracht. Wenn ick abhaue, dann können se sich alle hübsch um den großen Sarg 'rum vahsammeln«, – er machte eine beschreibende Gebärde – »und dann möchte ick, daß se mir alle mal ganz lang betrachten, wenn ick so daliege. Dschawoll, ganz lange betrachten soll'n se mir und sagen: ›Er hat nischt mit uff de Welt gebracht, und mitnehmen tut er ooch nischt, aber –‹« Die Stimme des Juden wurde lauter, der Ton war eindrucksvoll. »›abah da liegt einah, der ausgegeben hat, was er hatte, und vahsäumt hat er nischt!« Hier hielt er inne, packte mit beiden Händen die Aufschläge seines smarten Mantels, wippte langsam auf den Füßen, vom Absatz zur Zehenspitze, hin und zurück und lächelte ein herbes Kennerlächeln. »Jawoll, der Herr!« versicherte er hart und mit Nachdruck. »Dschawoll! Wenn ick da draußen uff'em Friedhof liege und den Gänsebliemchen zum Gedeihn vahelfe, wat jeht mir da der janze Stuß an? Will nischt 'von wissen. Wat ick hab'n kann, will ick hier und jetzt hab'n, stimmt's?«

»Da ham' Se recht!« antwortete der Italiener.

»Wie ich neulich einem sagte«, bemerkte nun abschlüssig der junge Broadwayiter mit triumphanter Miene, »man kann eben nie wissen! Nee, bestimmt nich'! Heut läuft man noch rum, morgen is' mer schon weg. Also, warum zum Teufel sollte man?« fragte er. »Man soll soviel wie möglich dabei herausschlagen.«

Und die andern sagten, da hätte er recht, und fingen wieder an, das Gesicht des Toten mit dunkeln, gespannten und gebannten Starrblicken zu mustern.

 

Auch an andern Stellen hatten nun Leute zu kleinen Gruppen zusammengefunden und begannen auf eine ernste und lebhafte Art zu reden, zu schwatzen, zu erörtern, zu philosophieren und sogar zu lächeln und zu lachen. Inmitten einer kleinen Gruppe, die sich begierig drängend um ihn herumscharte, erzählte ein Mann wieder und wieder, sich unermüdlich wiederholend, was er, der den Toten auf der Bank als erster gesehn hatte, empfunden, gedacht und getan hatte.

»Sicher! Sicher!« rief er aus. »Grad wie ich's Ihnen eben erzählte, so war's. Ich sah, wie er den Geist aufgab. Stand keine drei Schritt weit weg. Sicher! Ich sah, wie er nach Luft schnappte. Dort bin ich gestanden. Genau, wie ich's Ihnen erzählte! Ich geh' zu dem Butz und sag': ›Schutzmann, et wird woll det Beste sein, wenn Se sich mal um det Männecken dort bekümmern‹, sag' ich. ›Mit dem stimmt was nich'. Dem fehlt was.‹ Und sicher! So ist es gewesen. Das erzähl' ich Ihnen ja grade. Dort bin ich gestanden«, rief er aus.

Mittlerweile waren zwei Männer und zwei Frauen hinzugekommen und stehengeblieben. Diese vier hatten alle die schwerfällig-plumpe Gestalt, die stumpfrot glosende Hautfarbe, das dicke, karamelblonde Haar, die verschwommnen Augen und die breiten, grob und unscharf gezognen, verschmierten Gesichter, wie sie Einwandrern osteuropäischer Rasse – Litauern oder Tschechen – eigen. Diese vier glotzten den Toten auf der Bank eine Weile dumm und roh an und begannen dann schnell miteinander zu reden in den groben, dicken Lauten ihrer fremden Zunge.

Und nun war es so weit, daß sich ein Teil der Leute auf den Heimweg gemacht hatte. Der Schwärm von Menschen, die über den zementnen Fußboden nach Hause strömten, hatte sich stark gelichtet, und der Halbkreis derer, die um den Toten herumstanden, war längst nicht mehr so dicht, denn geblieben waren nur die, die – wie Schmeißfliegen um ein Aas herum – bleiben würden, bis die Leiche weggebracht würde.

Eine junge Negerin, eine Prostituierte, kam herein und ging die Treppe hinunter; sie sah sich bei jedem Schritt behend um und lächelte mit dünnen, karmingeschminkten Lippen ein gräßlich leeres Lächeln. Als sie den Kreis von Menschen sah, kam sie auf ihn zu, und nach einem leeren Blick auf die Bank, auf der der Tote saß, fing sie an, schnell nach links und rechts zu äugeln und ihre weißen, glänzenden, spröd aussehenden Zähne zur Schau zu stellen.

Das schmale Gesicht dieser jungen Negerin war eigentlich von einem hellen Kupferton, aber nun so mit Rouge und Puder verschmiert, daß es einen schauderhaften, zwielichtigen Gelb- und Blaurothauch angenommen hatte. Die schwarzen Wimpern waren mit Pomade so behandelt, daß sie wie starre, ölige Dornen um die großen, dunklen Augen herumstanden, und das schwarze Haar war gewellt und gleichfalls mit einer Pomadeschicht bedeckt.

Sie trug ein dunkellila Kleid und hatte sehr hohe, rote Absätze an den Schuhen. Sie hatte das breite Becken und die langen, dürren, häßlichen Steckenbeine, die man häufig an Negerinnen beobachten kann. Ihre Erscheinung war gleichviel grauenhaft und verführerisch mit diesen flechsig dünnen Beinen, den breiten Hüften, der köterhaften Hautfarbe, dem mageren, leeren, kleinen Hurenfrätzchen, den schmalen, karmingeschminkten Lippen und den dünnen, glänzenden Schneidezähnen, ganz so, als wäre das letzte Kleinstteilchen von ihrem Zwitschervogelhirn einer krankhaften, unersättlichen Sinnlichkeit in den heißhungrigen Schlingrachen geworfen worden, und ihr wäre nichts geblieben als diese dünne, gefirnißte Hülse von einem Gesicht und die blöde, sinnliche Entsetzlichkeit dieses Lächelns, das blank und schamlos hin- und herblitzte im Ring der wartenden Männer.

Der Italiener mit dem füchsigen Gesicht – der Jude und der flotte junge Broadwayiter, die zuvor bei ihm gestanden hatten, waren mittlerweile gegangen – machte sich verstohlen von der Seite an die Negerin heran und stellte sich hinter sie. Dann drückte er sich sachte an sie, seine glitzernden Augen zehrten die ganze Zeit mit einem reptilischen Starren an ihr; schließlich preßte er sich mit dem Körper ganz dicht an ihre Hinterbacken, und sein Atem lag heiß auf ihrem Nacken. Die Negerin sagte kein Wort. Ganz schnell, das grelle Lächeln der blöden und sinnlichen Leere im Gesicht, blickte sie sich um, und im nächsten Augenblick ging sie flink im Steppschritt auf den hohen roten Absätzen und den langen flechsigen Beinen weg. Sie blickte sich ein paarmal schnell nach dem Italiener um, und die geschminkten Lippen leuchteten, die blanken Zähne blitzten ihm ein paar lockende Einladungen zum Nachsteigen zu. Der Italiener renkte verstohlen den Hals am Hemdkragen entlang, das füchsige Gesicht wurde verschmitzter, die dunklen Augen glitzten, der Mann blickte sich sichernd um und stieg dann schnell hinter der Dirne her. In der Eingangshalle, jenseits der Sperre, holte er sie ein, und die beiden gingen zusammen weiter.

Noch immer klickten die Drehkreuze mit dem dumpfen, stumpfen, hölzernen Knarrton, und verspätete Fahrgäste kamen vorbei, und ihre schlürfenden Schritte klangen hohl auf dem Zementfußboden, und am Zeitungsstand verkaufte der Händler seine gedruckte Ware und blickte gelegentlich, müde und gleichgültig herüber auf den Toten und auf die Leute, und auf dem freien Platz um die Bank herum standen mit unentwegter, unerschütterlicher Ruhe die Schutzleute und warteten. Ein Mann war hinzugekommen, war über den freien Platz gegangen und sprach nun mit einem der Polizisten. Der Polizist war ein junger, stämmiger, stiernackiger Kerl mit einem kräftigen, dunkelroten Gesicht. Er brachte die Worte aus dem Mundwinkel hervor und sprach dabei leise mit dem Mann, der Fragen an ihn richtete und Einträge in ein kleines, schwarzes Notizbuch machte. Der Mann hatte ein gelbliches, schwammiges Gesicht, müde Augen, ein schlabberiges Doppelkinn.

Die Leute, die noch übrigblieben, hatten aus ihren Gesprächen begierig den letzten Tropfen Nährsaft gesogen; sie standen nun wieder stumm umher und starrten den Toten an mit unersättlichen Blicken, mit Blicken, die etwas Dunkles, Zehrendes, Klebriges, ja, fast eine physikalische Körperlichkeit hatten und am Beobachteten geradezu festgeleimt schienen.

Mittlerweile war mir etwas Erstaunliches widerfahren. Auf die gleiche Weise, wie mir zuvor die Gestalt des Toten zusammenzuschrumpfen, sich von den Kleidern abzulösen und sichtbar vor aller Augen die Beziehungen zu einem Dasein aufzugeben schien, mit dem sie nichts mehr zu tun hatte, so änderten sich nun unglaublicherweise die Eigenschaften von Raum und Licht, und der Schauplatz schien sich in seinen Dimensionen unerhört zu verwandeln.

Mir war, als vollzöge sich dieser Wandel der Raumdimensionen sichtbar und von Nu zu Nu vor meinen Augen –: die Gestalt des Toten wurde kleiner und in die Tiefenflucht gerückt, während der graue Zementraum um sie herum an Ausdehnung ungeheuer zunahm. Die Spanne, die den Toten von den Polizisten trennte, und die Spanne, die uns Zuschauer von den Polizisten trennte, dazu der Abstand zu der mit Kacheln verschalten rückwärtigen Wand des Untergrundbahnhofs, alles das schien mir nun größer, breiter, höher und länger geworden und dehnte sich auf eine fürchterliche Weise aus, während ich hinsah. Es war, als sähen wir nun alle den Toten über eine unmeßbare und einsame Entfernung hinweg an; er wirkte wie eine einsame, winzige Gestalt auf einer Riesenbühne und gewann gerade durch seine Winzigkeit und Einsamkeit eine bangemachende Würde und Großartigkeit.

Und nun war mir auch, als ob er, der Tote, den Blick der lebendig-toten, graugesichtigen Nachtmenschen, die dunkel und unersättlich hinstarrend an ihm zehrten, seinerseits mit einem gelassenen Blick todloser und unentwegter Ironie erwidre, mit einem furchtbaren Blick von Hohn und Verachtung, der so lebendig wäre wie der dunkle Blick der Starrenden und aufimmerdar dauern würde.

 

Dann, plötzlich, wie sie gekommen war, schwand diese Schau, und alle Dinge, Formen und Entfernungen schwammen aus der Verzogenheit zurück ins Gefüge der richtigen Sicht. Ich sah den Toten vor mir auf der Bank im grauen Raum des Treppenabsatzes sitzen, und die Leute sahen wieder aus, wie sie aussahen und waren. Und nun drangen abermals die Polizisten auf die Menschen, die um mich herumstanden, ein und drängten sie zurück.

Die Leute aber brachten es nicht über sich, von diesem kleinen, einsamen Wahrbild des stolzen Tods abzulassen, denn Menschen halten stets der leblosen Hülle die Treue und behüten und bewachen sie und sehen sie an, bis die blinde Erde sie aufnimmt und bedeckt. Der Tote saß so steif da mit seiner grotesken, betrunknen Würde und seinem dünnen Lächeln, und nun vermochten es die Leute nicht, ihn allein zu lassen, weil der stolze Tod, der dunkle Tod, weil die einsame Würde des dunklen, stolzen Tods so großartig auf dem schäbigen Wahrbild dieses Gestorbnen lag, weil sie begriffen, daß keine Gewöhnlichkeit, Gemeinheit oder Schäbigkeit der Welt – und auch Wut, Unmaß und Menge der millionenfüßigen Stadt nicht – auf einen einzigen Augenblick etwas an der unsterblichen Würde des Todes, des stolzen Todes, ändern könne, selbst wenn sie auf der armseligsten Asphaltziffer der Straßen lag.

Und so konnten sie nun nicht von dem Toten lassen, denn sie hegten eine Art Liebe und Treue für ihn, und der stolze Tod saß da so großartig vor ihnen und hatte zu ihnen gesprochen und hatte gemacht, daß sie nackt und hüllenlos dastanden; und sie waren es doch, die große Türme gegen den stolzen Tod gebaut und sich vor ihm in grauen Tunnels versteckt hatten, die versucht hatten, seine Stimmen mit dem rohen, bestürzenden Radau ihrer Straßen zum Verstummen zu bringen, aber der stolze Tod, der dunkle Tod, der stolze Bruder Tod ging nun in ihrer Stadt um und war höher als ihre höchsten Türme und sieghaft selbst dann, wenn er ein schäbiges Kleinstteilchen aus gemeinem Lehm berührte, und alle ihre Straßen waren stumm, wenn er sprach.

Und so sahen sie ihn bang und entsetzt und demütig an, sahen sie ihn mit Liebe an, denn der Tod, der stolze Tod, war erschienen an Plätzen, die ihnen bekannt und vertraut waren, und sein Gesicht hatte fürchterlich geleuchtet in der grauen, makelhaften Luft, und er hatte seine Zunge, seinen Schritt, seine Würde gegen den verdrießlichen und rohen Brauch von zehn Millionen eingesetzt, er hatte sie schließlich nackt gemacht und ihre keifenden und lästerlichen Zungen zum Schweigen gebracht, und am Wahrbild ihres armseligsten Mitmenschen hatte er ihnen gezeigt, welches Weges sie gehen würden, welche Bängnis, welches Entsetzen sie umhüllen würde, – und deswegen standen sie einsam und still und verängstigt vor ihm.

Dann wurden die letzten Vorschriften des Gesetzes erfüllt und die Riten der Kirche eingehalten, und der Tote wurde ihrer Sicht entzogen. Der Leichenwagen der Polizei war eingetroffen. Zwei Mann in Uniform kamen schnell die Treppe herunter. Sie hatten eine zusammengerollte Streckbahre dabei. Die Bahre wurde auf dem Zementfußboden aufgerollt und gestreckt, schnell wurde der Tote von der Bank gehoben und auf die Bahre gelegt, und im gleichen Augenblick trat ein Priester aus der Menge und kniete neben der Leiche auf dem Fußboden nieder.

Er war ein junger Mann, feist, gepflegt, bleich, weltlich und unpriesterlich, er hatte ein Schweinsgesicht und auf seinen vollen, weißen Kinnbacken lag der schwarze Rasierschatten eines starken Barts. Er war schwarz gekleidet, hatte einen feinen schwarzen Mantel mit einem Sammetkragen an und trug einen schwarzen steifen Hut; sein Halstuch aber war aus feiner weißer Seide. Als er niederkniete, nahm er den steifen, runden Hut andächtig ab und legte ihn neben sich. Sein Haar war sehr schwarz, feingesponnen wie Seide; auf dem Scheitel war es ein wenig gelichtet. Der Priester kniete schnell neben dem Toten auf der Bahre nieder, hob eine weiße, behaarte Hand, und als der das tat, rissen sich die fünf Polizisten knapp und stramm die beschirmten Helme vom Kopf, sie standen still, militärisch, die Kopfbedeckung auf der Brust, links, in Herzhöhe, und der Priester sprach ein paar schnelle Worte über dem Toten, die niemand verstehn konnte. Im nächsten Augenblick hatten auch ein paar Männer aus der Menge linkisch den Hut abgenommen. Alsdann erhob sich der Priester wieder, er setzte bedächtig seine Melone wieder auf, zupfte seinen Mantel und sein Halstuch zurecht und trat in die Menge zurück. Das Ganze war in einer Minute vollzogen, – erledigt mit der gleichen unmenschlichen und beinah verdrießlichen Förmlichkeit, wie sie der Arzt vom Ambulanzwagen zur Schau getragen hatte.

Dann bückten sich die beiden uniformierten Träger und faßten die Handgriffe des Streckgestells; nachdem sie sich mit einem leisen Wort verständigt hatten, hoben sie die Bahre. Sie setzten sich langsam in Schritt, aber schon bei der ersten Bewegung fingen die grau-talgigen Hände des Toten an zu rutschen, und nun flappten sie über die seitlichen Ränder der Streckbahre, und bei jedem Schritt, den die Träger machten, baumelten und schuckelten sie so, daß es grotesk anzusehn war.

Daraufhin sagte einer von den Trägern kurz zum andern: »Halt! Eine Minute! Abstellen! Jemand muß ihm die Hände festbinden.«

Die Bahre wurde abgestellt, ein Polizist kniete neben der Leiche hin, zog schnell die Krawatte des Toten aus dem Kragen, den der Arzt aufgeknöpft hatte und der nun weit offenstand, so, daß man den messingnen Kragenknopf im Halsband des Hemds und die runde, grünlich verfärbte Druckstelle auf dem gelblich-toten Hautgewebe des Halses sah. Der Polizist nahm die Krawatte des Toten, – es war ein schmutziger, verkordelter, rot-und-weiß-gestreifter Bindeschlips, – und band damit schnell die Handgelenke des Toten zusammen.

Dann hoben die Träger wieder an und gingen weiter. Die Polizisten gingen vorneher, schoben die Leute zurück und befahlen: »Zurückgehn hier! Zurückgehn! Platz machen! Platz machen! Platz machen!«

Die Hände des Toten hielten nun stille, sie waren ihm überm Bauch zusammengebunden, aber seine schäbigen alten Kleider schlotterten und seine grau-gelben Wangen bebten leis bei jedem Schritt, den die Träger machten, und auch die klaffenden Enden des Kragens flappten steif. Das schmutzige weiße Hemd war vorn zum Teil aufgeknöpft, und man sah ein Stück tote, knochige, talgig-gelbe Brust, und der verdrückte alte braune Hut war nun so weit ins Gesicht hineingerutscht, daß er mit dem Rand auf der Nase saß, und dies, zusammen mit dem dünnen Lächeln um den eingesunknen Mund, erhöhte den grotesken und grauenhaften Eindruck von Betrunkenheit.

Was das übrige betrifft, jene verwesliche Substanz, die dieses Mannes Körper gewesen war, nun, sie schien zu einem Beinahe-Nichts verschrumpft und verhutzelt zu sein. Man war sich ihres Vorhandenseins nicht mehr bewußt. Sie schien verloren, abhanden gekommen und unkenntlich geworden zu sein in dem Haufen schäbiger alter Kleidungsstücke, – einem alten grauen Mantel, verkrumpelten alten Hosen, einem alten Hut und einem Paar aus- und abgetretner Schuhe. Woraus der Mann nun tatsächlich noch zu bestehn schien, war dies: – ein Hut, ein dünnes, grotesk betrunknes Lächeln, zwei bebende Wangen, zwei flappende Kragenflügel, zwei graue, schmierige, mit einem verkordelten Schlips zusammengebundne Pfoten, ein schäbiges Bündel abgetragner, trübseliger, durch nichts Besonderes ausgezeichneter Kleider, die sich leise regten und schlotterten bei jedem Schritt, den die Träger machten.

Die Träger gingen behutsam und doch schnell, sie gingen durch die Sperre und nahmen dann die Stiege in einem dunklen Notausgang, über dem ›Exit‹ stand. Als sie die Bahre auf der schmutzigen eisernen Treppe mit einem Ruck anhoben, rutschte die Last ein wenig, und der braune Hut fiel zu Boden. Man sah nun das grau-schmutzige Haar des Toten. Einer von den Polizisten hob den Hut auf, sagte zu einem der Träger: »O.K., John, ich hab' den Hut!« und ging hinter der Bahre her die Stiege hinauf.

 

Es ging nun schon gegen Morgen, es war fast halb vier, und am Himmel leuchteten große und zarte Sterne in der unermeßlichen und fliederfarbnen Dunkelheit, und die Nacht war zwar noch kalt und voll kühler Frische, aber das ganze einsame und jubelhafte Frohlocken des Frühlings war in ihr. Weit weg, halbgehört, ungemein traurig, freude- und kummerwild blökte ein Schiff in der Dunkelheit, tutete ein großes Boot in der Hafenausfahrt.

Die Straße lag dunkel und fast verlassen da, sie war so still und ruhig, wie so eine New-Yorker Straße je werden kann um jene kurze Stunde, in der des Tages ganzer Furor aus Lärm und Bewegung sich ein Weilchen gelegt hat, um Atem zu schöpfen, während das Leben sich auf einen neuen Tag vorbereitet. Leere Taxis, wie mit einem Drillbohrer vorangetrieben, wie Wurfgeschosse im Flug, kamen dann und wann vorbei; in Abständen hörte man Leute auf den Bürgersteigen gehn, und der Hall ihrer Tritte klang hohl wie der Schritt von Nachtwachen; an den Straßenkreuzungen glühten die Lichter der Fahrverkehrssignale grün und rot und gelb, – kleine, harte, einsame Glutbälle, deren Glanz das Herz irgendwie mit starker Freude und Siegesgefühlen erfüllte, wie sie zum wilden Frohlocken der Nacht, ausfahrender Schiffe, der Frühlingszeit und des April gehören. Ein paar Blöcke die Straße hinauf, dort, wo zuvor das Nachtleben mit strahlendem Glitzerglanz gebrannt hatte, unermeßlich, wie ein Riesenräucherbecken,' von dem ein staubstiebiges, sämiges, maßlos grelles Licht aufschießt, dort war der schändliche Glanz nun trübe geworden, stumpf, nur noch fahl, zu einem bräunlichen Glosen herabgedämpft.

Als die Träger aus dem Untergrundbahnhof herauskamen und auf den grünen Totenwagen der Polizei, der vor dem Notausgang am Rinnstein geparkt stand, zugingen, hatten sich ein paar Taxifahrer mit dunklen, trüben Gesichtern auf dem Bürgersteig neben der Tür versammelt, und als nun die Träger mit ihrer Last über den Bürgersteig gingen, trat einer von den Taxifahrern aus der Gruppe heraus, ging hinter der Bahre her, zog untertänig-ehrfürchtig die Kappe vor dem Toten und sagte beflissen:

»Taxi, der Herr! Taxi!«

Einer von den Polizisten – der, der den Hut des Toten trug, – hielt plötzlich inne, wandte sich lachend um, hob spaßhaft drohend den Knüttel und sagte zu dem Taxifahrer:

»Scher Dich weg, Du Hundsknochen!«

Dann, noch immer lachend, sagte der Polizist: »Jesus!« und warf den Hut des Toten in den grünen Wagen, in den die Träger bereits die Bahre mit der Leiche geschoben hatten. Einer von den Trägern schloß die Tür am Wagen, dann ging er nach vorn, wo der andre Träger bereits auf dem Führersitz saß, zog eine Zigarette heraus, zündete sie in den harten, hohlgehaltnen Händen und mit schiefgezognem Munde an, setzte sich dann neben den Fahrer und sagte: »O.K., John.« Der Wagen fuhr schnell ab. Die Polizisten sahen ihm nach. Dann redeten sie noch ein Weilchen miteinander, lachten ein wenig, sprachen leis und ruhig von Plänen, Vergnügungen und dem Dienst, der ihnen bevorstünde, und schließlich wünschten sie alle einander Gute Nacht und trennten sich. Zwei gingen die Straße hinauf, auf das dumpfe, bräunliche Glosen der Lichter zu, drei gingen die Straße hinunter, wo sie dunkler, ruhiger, verlassener war, und wo grün, gelb, rot im Wechsel die Signallichter aufglühten.

Der Lustigmacher von einem Taxifahrer, der dem Toten auf der Bahre seine Dienste angeboten hatte, wandte sich scharf herum zu seinen Berufsgenossen. Er machte eine Miene, die feststellte, daß der Vorfall abgeschlossen wäre, raunzte spaßhaft:

»Na, wat sagste nu, Jung?! Wat sagste nu?!« und fuhr dabei mit gespreizten Händen schnell und scharf nach einem seiner Gefährten. Dann gingen die Taxifahrer zusammen weg, auf die Reihen ihrer blinkenden, stummen Maschinen zu, sie spaßten, lachten, behaupteten und stritten mit ihren schrillen, höhnischen Stimmen.

Und ich blickte wiederum auf und sah den todlosen Himmel, das hehre, besternte Antlitz der Nacht, und dann hörte ich die Schiffe auf dem Strom. Und augenblicklich wallte in mir ein ungeheures Gefühl von Gesundheit und Hoffnung und starker, schwallhafter Freude auf, und ich war wie ein Mensch, der zwar weiß, daß er vor Durst wahnsinnig ist, aber doch Ströme, wirkliche Ströme, am Rand der Wüste erblickt, und ich wußte, ich würde nicht wie ein tollwütiger Hund im Dunkel des Tunnels ersticken und sterben. Ich wußte, ich würde das Licht wiederum sehn, würde neue Küsten kennenlernen und in fremde Häfen einfahren und wiederum, wie ich es einst getan hatte, neue Lande und den Morgen erleben.

 

Darum, ihr unsterblichen Geschwister, stolzer Tod, strenge Einsamkeit und holder Schlaf, ihr teuren Freunde, mit denen vereint ich immerdar leben werde, habe ich aus der Leidenschaft und dem Gehalt meines Daseins diesen Preis auf euch erdacht: –

Dir, stolzer Tod, der du so großartig auf den Stirnen kleiner Menschen liegst, dir zuerst! Stolzer Tod, stolzer Tod, den ich so viele Male im Dunkeln sah, wenn du zu namenlosen Menschen kamst, Tod, was hast du je berührt, das du nicht mit Liebe und Mitleid berührt hättest? Stolzer Tod, wo wir immer dein Antlitz sahen, kamst du mit Erbarmen, Liebe und Mitleid und hast uns allen, Tod, deinen mitfühlenden Schiedsspruch von Gnade und Entlassung gebracht. Hast du nicht die verzweifelten Leben derer, die nie ihr Heim fanden, aus der Verbannung zurückgeleitet? Hast du nicht deine dunkle Tür aufgetan für uns, die noch nirgends Türen zum Eintreten fanden, und uns Obdach gegeben, die wir obdachlos, türlos, trostlos immerdar auf den Straßen des Lebens hingetrieben wurden? Hast du uns nicht deine schlichte Zehr geboten, Tod, auf daß wir unsern Hunger stillten, der zu rasendem Heißhunger geworden war an der Speise, von der er zehrte, und uns das Ziel gesteckt, wie wir es suchten und nie fanden, die Sicherheit und den Frieden gegönnt, nach denen unsre überbürdeten Herzen verlangten, und uns in deinem dunklen Haus die Ruhe bereitet, ein Ende gesetzt all der qualhaften Wanderschaft und der Unrast, die uns ständig voranpeitschte? Stolzer Tod, stolzer Tod, nicht um der Glorie willen, die du zur Glorie des Königs hinzubrachtest, nicht um der Ehre willen, die du den Würdigen und Berühmten zuerkanntest, stolzer Tod, auch nicht um der endgültigen Magie willen, die du auf die Lippen des Genius legtest, sondern, Tod, weil du so glorreich zu uns kamst, die wir zuvor keine Glorien kannten, so stolz und erlaucht uns antratest, deren Leben namenlos und im Dunkel gelebt wurden, weil du uns allen, den Namenlosen, Gesichtslosen, Stimmlosen, den kleinen Leuten auf Erden, das bange Chrysma deiner Großartigkeit gibst, und weil ich dich, Tod, so genau gesehn und erkannt und so lang mit deiner Schwester, der Einsamkeit, gelebt habe, deswegen, Freund, hab' ich keine Angst mehr vor dir, deswegen hab' ich diesen Preis auf dich erdacht.

Nun, Einsamkeit immerdar und die Erde wiederum! Dunkle Schwester und strenge Freundin, unsterbliches Angesicht aus Dunkelheit und Nacht, mit dem ich meines Lebens halbe Frist verbrachte und mit dem ich zusammenhausen werde immerdar bis zu meinem Tod, – was sollte ich zu fürchten haben, Einsamkeit, so lang du bei mir bist? Heldische Freundin, Blutsschwester des stolzen Tods, dunkles Angesicht, sind wir nicht zusammen Millionen Straßen entlanggegangen, nicht zusammen auf den großen, wütigen, nächtlichen Zufahrten umhergestreift, haben wir nicht zusammen und allein die stürmischen Meere gekreuzt und fremde Länder bereist und sind wiedergekommen, um wiederum auf dem Kontinent der Nacht umherzuwandeln und abermals der Stille der Erde zu lauschen? Sind wir nicht tapfer und glorreich gewesen, Freundin, wenn wir zusammen waren, und haben wir nicht dieser Erde Triumph, Freude und Herrlichkeit erlebt, – und wird es nicht wieder so werden mit mir, wie es damals war, wenn du zu mir zurückkehrst? Komm zu mir, Schwester, in den Wachen der Nacht, komm zu mir im geheimen und stillsten Herzen der Dunkelheit, komm zu mir, wie du immer kamst, und bring sie mir noch einmal, die alte unbesiegliche Kraft, die todlose Hoffnung, die Freude und das sieghafte Zutrauen, das wieder die Schanzen der Erde erstürmen soll.

Komm zu mir über die Felder der Nacht, liebe Freundin, komm zu mir auf den Rossen deines Bruders, des Schlafs, und wir wollen wieder der Stille der Erde und der Dunkelheit lauschen, dem Herzschlag der Schläfer lauschen, wenn mit dem sachten und rauschenden Donnern ihrer Hufe die fremden, dunklen Rosse des großen Schlafs wieder ankommen.

Sie kommen! Schiffe rufen! Die Hufe der Nacht, die Rosse des großen Schlafs kommen heran unter ihren Mähnen aus Dunkelheit. Und immerdar fließen die Ströme. Tief wie die Flutgezeiten des Schlafs fließen die Ströme. Wir rufen!

 

Sie kommen; meine großen dunklen Rosse kommen! Mit dem sachten und rauschenden Donnern ihrer Hufe kommen sie, und die Rosse des Schlafs galoppieren, galoppieren über das Land.

Oh, sacht, sacht galoppieren die großen, dunklen Rosse des Schlafs über das Land. Die Flutgezeiten des Schlafs schwellen über Amerika hin; unter den Flutgezeiten des Schlafs und der Zeit schwimmen fremde Fische.

Schlaf nämlich hatte sich quer über die abgespannten Tagesgesichter gelegt, und zur Nachtzeit, im Dunkeln, in all der Schlafstille von Städten und Städtchen sind die Gesichter von zehn Millionen Menschen fremd und dunkel geworden wie die Zeit. Im Schlaf liegen wir alle nackt und allein, im Schlaf werden wir eins mit dem Herzen der Nacht und der Dunkelheit, und schlafend sind wir fremd und schön; wir sterben nämlich in der Dunkelheit, und wir kennen dann keinen Tod, denn da ist kein Tod, da ist kein Leben, keine Freude, kein Kummer und keine Herrlichkeit auf Erden außer dem Schlaf.

Komm, milder und großmächtiger Schlaf, und laß deine Flutgezeiten schwellen über Amerika hin! Oh, Sohn des unvordenklichen Verlangens, Bruder des Tods und meiner strengen Gefährtin, der Einsamkeit, du Bringer von Frieden und dunklem Vergessen, Heiler und Erlöser und lieber Zaubrer, höre uns! Komm zu uns über die Felder der Nacht, über die Ebnen und Ströme der immerdardauernden Erde und bring die Arznei, die das große, verworrne Wesen dieser Welt und die Wut, das Weh und den Wahnsinn unsrer Leben löst! Versiegle die Wandelgänge unsres Gedenkens, stiehl uns zärtlich und fein unsre Leben hinweg, lösch die Wahrbilder verlorner Liebe, verlorner Tage und all unsern uralten Hunger aus, großer Verwandter, heile uns!

Oh, sacht, sacht galoppieren die großen, dunklen Rosse des Schlafs übers Land. Die Flutgezeiten des Schlafs schwellen herein in die Herzen der Menschen, sie fließen dahin wie Ströme durch die Nacht, sie fließen dahin mit Gesaug und mit der Fülle ihrer dunklen, unergründeten Kraft in die Millionen Taschen des Landes und über die Ufer des ganzen Erdreichs. Sie fließen dahin mit der ganzen Gewalt ihrer vorwärtsströmigen, unaufhaltsamen Flut über den Kontinent der Nacht, über die weithin und breithin aufgefaltete, unsterbliche Erde, bis die Herzen aller Menschen vom Gewicht, das sie drückt, befreit, bis die Seelen aller derer, die je in Angst und Mühsal Atem holten, geheilt, beschwichtigt und erobert sind vom weiten, zaubrischen Walten des dunklen, stillen, allumfassenden Schlafs.

Schlaf fällt wie Stille auf die Erde, er erfüllt die Herzen von neunzig Millionen Menschen, er wandelt wie ein Zauberbann in den Bergen und wallt wie Nacht und Dunkelheit über die Ebnen und Ströme der Erde, bis tief auf dem Tiefland und hoch auf den Hügeln Schlaf süß dahinfließt, Schlaf sanft sich ausgießt, – oh, Schlaf! – Schlaf! – Schlaf!


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