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Es ist wunderbar, mit welcher Begeisterung und Wärme wohlgehegte Leute, die nie im Leben allein gewesen sind, Dich zu den Freuden der Einsamkeit beglückwünschen können. Ich weiß, wovon ich rede; ich habe sehr viel allein gelebt, mehr als irgend jemand, den ich kenne, und eine Zeitlang war ich auch mit ein paar Wohlgehegten bekannt. Und die leidenschaftliche Sehnsucht dieser Leute nach dem einsamen Leben ist erstaunlich. Abends lassen sie sich heimfahren; sie fahren hinaus auf ihre feinen Landhäuser, wo Frauen und Kinder begierig auf sie warten; oder sie fahren heim in ihre Stockwerkwohnungen in der Stadt, wo mit duftendem, gesalbtem, verführerischem Körper, mit dem Lächeln der Zärtlichkeit und der Umarmung der Liebe eine schöne Gattin oder eine reizende Freundin sie erwartet. Und all das gilt nicht mehr als eine Handvoll kalten Staubs, Asche und ein wenig Schlacke.
Manchmal lädt Dich einer von diesen Leuten zum Nachtessen ein. Dein Gastgeber ist ein Gentleman von gefälligem Äußeren; er ist sechsundvierzig, sein Haupthaar lichtet sich schon ein bißchen, er macht den Eindruck von gesunder Ründe und Wohlgenährtheit, aber es ist nichts Plumpes oder Grobsinnliches an ihm. In der Tat, er ist ein sehr ästhetisch aussehender Millionär. Zwar ist sein Gesicht groß und voll, aber die feinfühlige Verständigkeit wohnt in den Zügen. Die Manieren dieses Mannes sind liebenswürdig und voll leiser Zurückhaltung. Sein Lächeln ist ein wenig traurig, aber ein ironisch-launiger Humor spielt matt hinein, und es ist ganz so, als hättest Du da jemanden vor Dir, der die Herzensnöte, die Hoffnungen und die qualhafte Lebenswut der Jugend durchlitten hat und nun weiß, was man vom Leben erwarten soll, einen Menschen, dessen »Lider etwas gemüdet« sind, der sich geduldig ins Schicksal ergeben hat und dabei nicht allzu bitter empfindet.
Trotzdem, so arg unsanft ist das Leben mit unserm Gastgeber gar nicht umgegangen. Ruhevoll ringsum stehen die sichtbaren, kostspieligen Beweise seines ungeldlichen Interesses für köstliche Dinge. Der Mann wohnt im Dachgartenstockwerk eines Hochhauses in der Nähe des East River; seine Wohnung ist mit letzter Kennerschaft in einem ruhigen, erlesnen Geschmack eingerichtet; er besitzt mehrere Plastiken von Jacob Epstein, und darunter ist eine Bildnisbüste, die der Bildhauer vor zwei Jahren von Deinem Gastgeber gemacht hat, als dieser, wie er Dir sagt, »mal drüben in England« war. Außerdem hat er eine herrliche Bibliothek, seltne Drucke und Erstausgaben, und nachdem Du diese Schätze liebhaberisch bewundert hast, tretet Ihr zusammen hinaus aufs Dach, um die Aussicht zu genießen, besonders den Blick, den man von dort auf den Strom hat.
Es wird schnell Abend, die hohen, beschlagnen Gläser in Euren Händen machen ein leises, angenehmes Tinketinke, und die große Stadt grellt da vor Euerm Blick: – furchtbar ragen die Schauseiten der sternwärts emporgerißnen Türme, und nun sind sie wie ein Vorhang mit den Diamantpollen von einer Million Lichter übersät, und hinter den Türmen ist die Sonne untergegangen, und die Abendröte liegt auf dem Strom, und dort siehst Du Boote und Schlepper und Barken fahren, siehst Du frohlockend die flügelhaft beschwingten Brücken, und die Nacht ist da, und dort sind Schiffe, – dort sind Schiffe, – und in Dir ist ein wildes unerträgliches Verlangen, das Du nicht aussagen kannst.
Wenn Ihr dann wieder ins Zimmer eintretet, kommt es Dir vor, als wärst Du sehr weit weg von Brooklyn, wo Du wohnst. Dir ist zumut, als wäre all das, was Du als Kind (damals, als Du New York noch nicht gesehn hattest und kanntest) von der Weltstadt geträumt hast, nicht nur möglich, sondern gerade am Wahrwerden.
In allen seinen Zauberfarben brennt Dir das Wahrbild der Stadt im Herzen, und es ist ganz wie jenes, das Du als Zwölfjähriger geschaut hast. Nun, meinst Du, könne es jede Minute Dein werden, jenes glanzvolle, ruhmreiche, herrlich-sieghafte Los, das Du Dir damals erträumt hast. Nun, meinst Du, wird es geschehn, daß Du Deinen Platz einnehmen kannst unter den großen Männern und den liebenswerten Frauen in einem Dasein, das schicksälig schöner und glücklicher ist als irgendein Dir bekanntes. Nun, spürst Du, ist alles irgendwie da und wartet auf Dich; es ist bloß drei Zentimeter weit weg, wenn Du danach greifst, bloß ein Wörtchen weit weg, wenn Du das Wörtchen sprichst, bloß eine Wand, eine Tür, einen Schritt weit weg, falls Du den Zugang weißt.
Und irgendwie erwacht die alte, wilde, wortlose Hoffnung wieder, daß Du den Zugang findest, jene Tür, durch die Du eintreten kannst. Du denkst, dieser Mann, Dein Gastgeber, wird Dir Bescheid sagen. Die Luft, die Ihr atmet, ist ja geladen mit der drohenden Erregung des unmöglich guten Geschehns. Es drängt Dich also, diesen Mann nach dem Geheimzauber zu fragen, der seinem Leben soviel Macht, Überlegenheit und Behagen verliehen hat, der ihm die ganze Roheit des Daseinskampfes, den Schmerz und das Häßliche, die Wut, den Hunger und die Wanderschaft fernzuhalten scheint. Du meinst, der Mann könne es Dir sagen, könne Dir den Geheimzauber kundtun, – aber er sagt Dir nichts.
Und dann kehrt auf einen Augenblick das alte, unerforschliche Geheimnis von der Zeit und der Stadt zurück und überrennt Dein Bewußtsein mit dem gräßlichen Gefühl des Besiegtseins und des Ertrinkens. Du siehst Deinen Gastgeber, seine Geliebte und all Deine andern Großstadtbekannten als Gestalten von todloser Helle, aber Leben und Zeit dieser Gestalten sind Dir fremder als ein Traum, und Du kommst Dir vor, als wärst Du dazu verdammt, unter ihnen zu wandeln wie ein Schatten, der nie imstand sein wird, ihr Leben zu fassen, sich ihre Zeit anzueignen. Dir erscheint ein Leben, das Du nie begreifen, dem Du nie näherkommen, auf das Du Dich nie einstellen kannst. Dir erscheint eine Welt von Geschöpfen, die ohne Seelenqual und Verdrüsse zu leben lernten, Dir erscheint eine Rasse von Großstädtern, die nie in den Dimensionen Deiner Zeit gelebt haben, – nie in den nach Minuten, Stunden, Tagen und Jahren meßbaren Spannen, sondern in den Ausdehnungen einer unergründlichen und undenklichen Sensation, so, daß dieser Leute nur gedacht werden kann in einem Augenblick ihres Lebens, der neuntausend Begeisterungen zurückreicht, der vor zwanzigtausend Rauschnächten war, der achthundert Abendgesellschaften, vier Millionen Grausamkeiten, neuntausend Treubrüche oder Ehrbarkeiten, zweihundert Liebschaften her ist, – Dir erscheinen also Menschen, deren Dasein ein fabulöses, grauenhaftes Sensationsalter annimmt, eine Wesenheit, die keinerlei Jugend kennt, die sich keiner Unschuld entsinnt, die Dich so bedrängt, daß Du in einer See aus Entsetzen, einem Meer aus blinder, unberechenbarer, unausdenklicher Zeit zu ertrinken glaubst. Da gibt's keine Tür.
Mittlerweile, leicht-bitter und ironisch lächelnd, hat sich Dein Gastgeber abermals einen guten, tüchtigen Schuß ehrlichen Roggenwhiskys auf die Eissplitter in seinem hohen, dünnwandigen Glas gegossen, und nun bringt er das Glas grüblerisch-genüßlich an die Lippen, und nach zwei oder drei andächtigen Schlucken fängt er an und spricht ein wenig kummervoll von dem Los, das ihm das harte Schicksal zuerkannt hat.
Während seine Geliebte, die so hübsch am Rand des prallgepolsterten Lehnstuhls sitzt, ihm mit ihren kühlen, feinen Fingern leis über die heruntergerunzelte Stirn fährt, während nebenan sein guter Kammerdiener Ponsonby oder Kato ihm ruhig alles zurechtlegt, so daß er ›sich schnell für den Abend umziehen‹ kann, starrt Dein Gastgeber düster vor sich hin, und schließlich, bitter lächelnd, beglückwünscht er Dich zu dem huldreichen Geschick, das Dir verstattet hat, allein im Armenierviertel von South-Brooklyn zu leben.
Nun, allein in South-Brooklyn leben, sagst Du, hat seine Schattenseiten. Das Zimmer, in dem Du wohnst, hat genau das Format eines Pullmanwagens, bloß ist es nicht ganz so lang und hat nur zwei Fenster, an jeder Schmalseite eins. Das Fenster nach der Straße ist vergittert; die Frau, die Dir das Zimmer vermietet, hat das Gitter dort anbringen lassen, um die Gauner in jener süßen Nachbarschaft vom Einbrechen abzuhalten. Im Winter ist das Gelaß kalt und dunkel, und die Wände schwitzen eine klamme Feuchte aus; im Sommer dagegen bist Du es, der schwitzt, und zwar besorgst Du das gründlich, vollauf genug für jedermann, denn die Bude wird höllisch heiß.
Außerdem – (und hier fängst Du an, Dich für die darstellerische Aufgabe zu erwärmen) – morgens, wenn Du aufstehst, dringt Dir das süße Arom des alten Gowanus-Kanals in die Nase, in den Mund, in die Lungen und in all Deine Gedanken, Tätigkeiten und Worte. Es handelt sich da (wie Du Dich ausdrückst) um einen erhabnen, gigantischen Gestank, eine Ruch-Symphonie, ein betäubendes Orgelgebraus von einem Duft, in dem arglistig-wohlabgestimmt siebenundachtzig Fauligkeiten zusammengetrieben, -gedrückt und -gedrängt sind. Und mit üppiger, ständig wachsender Begeistrung beginnst Du, diese Beitragsdüfte nacheinander aufzuzählen: – die Gerüche von gekochtem Fischleim und verbranntem Gummi, die Nasenwohltat von im Wasser verwesenden Katzen, die Fäulnisparfüme von Kohl, Tomaten und prähistorischen Eiern, die Brenzlichkeit schwelender Lumpen und von Müll, den sanften Sinnenkitzel von einer verreckten Schindmähre und einem toten Skunk und die pestilenzialische Dunstlast von einer verstopften Kloake, und nicht zu verschweigen auch, sagst Du, wäre – –
Aber in diesem Augenblick wirft Dein Gastgeber den Kopf zurück; einen Ausdruck der Verzücktheit auf den Mienen, zieht er lang und tief und begeisternd atmend Luft ein, ganz so, als hätte er bei Deinem Großaufgebot von Düften tatsächlich den Atem des Lebens selber gefunden, und er ruft aus:
»Wundervoll! Wundervoll! Einfach toll! Hinreißend!«
Er wirft den Kopf wieder zurück und lacht ein frohlockendes Lachen.
»Aber John!« bemerkt nun seine Lady. Ein Ausdruck von Besorgnis erscheint auf dem lieblichen Gesicht. »Ich glaube nicht, daß Du so einem Leben in Wirklichkeit etwas abgewinnen könntest. Es klingt doch einfach fürchterlich! Schrecklich, daß man Leute in so einem Viertel wohnen läßt! Ich will lieber nichts davon hören«, erklärt sie und läßt sich von einem leichten Schauder des Angewidertseins überlaufen.
»Ah!« sagt er. »Wunderbar ist es! So ein Leben hat doch noch Kraft und Fülle und Schönheit!« ruft er aus.
Wunderbar, pflichtest Du bei, ist es schon. Und an Kraft und Fülle fehlt es beileibe nicht. Bloß was die Schönheit anlangt, nun, das ist 'ne andre Sache und bei weitem nicht so sicher. Aber während Du diesen Zweifel vorbringst, fallen Dir ein paar Dinge ein. Dir fällt ein großes Pferd ein, ein Mordsgaul, ein grauer Apfelschimmel mit kurzen, haarbehangnen Hufen, der an einem knallheißen Augusttag neben dem Rinnstein stand. Der Fuhrmann hatte das Tier ausgespannt, und da stand es und ließ in unendlicher, stummer Trübsal den großen, geduldigen Kopf hängen, und ein kleiner Junge mit schwarzen Augen und einem dunklen Gesicht stand dabei und gab dem Gaul ein paar Stücke Zucker zu fressen, und der Fuhrmann, der ein zähes, versorgtes Städtergesicht hatte, kam mit einem Eimer Wasser und schüttete das Wasser gegen die Flanken des Tiers. Und die großen Flanken erschauerten dankbar bei dem Guß und begannen zu dampfen, und der Fuhrmann trat dann auf den Bürgersteig zurück und betrachtete das Tier mit einem prüfend bedächtigen Blick, und der kleine Junge stand dabei und rieb das Pferdemaul sacht mit der Hand und sprach die ganze Zeit leis zu dem Tier.
Dann erinnerst Du Dich daran, wie ein Baum, der in die enge, kleine Kehrichtgasse vor Deinem Hause überhängt, in diesem Frühjahr auslaubte, und wie Du ihn Tag für Tag betrachtet hast, als er in der kurzfristigen Glorie von jungem, zaubrischem Grün stand. Und Du erinnerst Dich an eine rauhe, rostige Uferstraße mit ihrem Baugewirr von Elendskasernen, Schuppen und Baracken und ihren großen schmutzigen Pieren; Du kannst das nackte, rohe Straßenleben sehn, kannst die Straße in ihrer unsäglichen Häßlichkeit und Schönheit sehen, und dann fällt Dir ein, daß Du einmal bei Sonnenuntergang diese Straße entlang kamst und all die Farben der Sonne und des Hafens blitzen und glitzern sahst von flüchtig wandelbaren Lichtfetzen, in einem schillerbunten Geweb von Strahlen, die sich auf einen Augenblick prall an der grellen Breitseite eines stolzen, weißen Dampfers brachen.
Und Du fängst an, Deinem Gastgeber zu erzählen, wie das alles war, wie dieser Abend schmeckte, was man da verspüren konnte, und wie erregend ein großer, verlassener Ladepier roch, wie das Licht auf den alten, rostroten, baufälligen Backsteinmauern lag, wie das schwärmende, schillerbunte Geweb von Strahlen sich auf dem Schiffsbug brach. Aber sobald Du zu erzählen anfängst, merkst Du, daß Du nicht, daß Du nie das Gefühl von Zauber, Geheimnis, Frohlocken und wildem Weh wieder einfangen kannst, das Du damals empfandest.
Ja, Schönheit hat es da genug gegeben, zum Herzbrechen genug, zum Verrücktwerden genug und genug auch, um die Sehnenbänder zu zerreißen, die Dein Lebensgehäuse zusammenhalten. Aber was bleibt da zu sagen? Du erinnerst Dich an all diese Dinge und dann noch an zehntausend andre, aber sobald Du diesem Mann davon zu erzählen anfängst, kannst Du es nicht.
Und so erzählst Du eben vom Leben in Deiner Wohnung, sagst ihm, wie dunkel und heiß Deine Bude im Sommer und wie naßkalt sie im Winter ist, und wie schwer es hält, etwas Gutes zu essen zu kriegen. Du erzählst von jener guten, offenherzigen Frau, die Dir das Zimmer vermietet, von der ›hartgesottnen‹ Ex-reporterin Miß Maude Whittaker, erzählst, was für ein echter und rechter Kerl sie ist, lebensvoll und energisch, eine Frau, die gern trinkt und mit Männern, die gern trinken, glänzend auskommt, ein Mensch, der des Lebens ruppige und finstre Seiten kennt, wie das eben bei Reportern der Fall ist.
Du erzählst davon, wie sie Mörder kurz vor der Hinrichtung interviewt hat, wie sie dazu die Mütter der Mörder ausfragte, wie sie, immer auf der Jagd nach dem aufregenden Bericht, unerwartet auf ankommenden und abfahrenden Dampfern erschien, sich uneingeladen bei Totenfeiern und Begräbnissen einstellte, wie sie rücksichtslos-zudringlich jede peinliche, ehrliche, schmerzvolle Regung der Menschheit mit Füßen trat, immer auf der Jagd nach dem Zeitungsbericht, – und wie sie bei all dem anständig blieb, diese ungeheuer gute, großmütige und lebensfrohe Person, die überdies eine alte Jungfer, puritanisch bis in die Wurzeln des Wesens, ist.
Du erzählst, daß sie vor ein paar Jahren wahnsinnig wurde und zwei Jahre in einer Heilanstalt zubrachte, daß der Wahnsinn sie gelegentlich noch auf Augenblicke überkommt, Du erzählst, wie Du sie einmal – vor ein paar Monaten nachts beim Heimkommen – auf Deinem Bett fandest: – als Du eintratest, erhob sie sich und begrüßte Dich als ihren großen Traumgeliebten, den Doktor Eustach McNamee, eine nach Namen und Art frei erfundne Gestalt, um die sie sich ein Liebeserlebnis gewoben hatte. Und dann erzählst Du von ihrer phantastischen Familie, ihren drei Schwestern und ihrem Vater, die alle einen Stich vom selben Wahnsinn haben, denen jedoch die Willenskraft, die Lebenstüchtigkeit und die außerordentlichen Fähigkeiten Miß Maudes fehlen, und Du erzählst, wie sie von ihrem achtzehnten Jahr ab für die ganze Gesellschaft gesorgt hat.
Du erzählst von dem Alten, der Erfinder ist und nichts Rechtes erfindet, erzählst, wie er einen Pfropfenzieher mit Korkanzug erfand, mit dem man keine Flasche entstöpseln kann, ein Sicherheitsschloß, das nicht wieder aufzubringen ist, ein unzerbrechliches Spiegelglas, in dem man sich nicht sieht. Du erzählst, daß er im Vorjahre einhundertzwanzigtausend Dollar erbte; es war das erstemal, daß er Geld in die Hand bekam, und prompt ging er in die Wallstreet und spekulierte an der Börse, und ebenso prompt wurde er um die ganze Summe erleichtert; seine Frau und seine Tochter hatte er damals in den Luxuskabinen eines herrlichen Dampfers nach Europa geschickt, und als sie zurückkommen wollten, kabelte er kühn: »Vorwärts nach Rom, Kinder! Vorwärts! Papa macht Millionen.«
Ja, alles dies und noch tausend andre Sachen dazu könnte ich meinem Gastgeber erzählen von dieser unglaublichen, verrückten, phantastischen Familie, bei der ich in einer kleinen Gasse in Brooklyn wohne, und außerdem zehntausend Sachen von den Armeniern, Spaniern und Iren in der Nachbarschaft, – Leuten, die wochentags heimkommen und das Radio anstellen, so, daß es ringsum von hundert Dissonanzen schrillt, Leuten, die sich Samstags besaufen und ihre Weiber verprügeln, und aus hundert offnen Fenstern werden dann mit Gelächter und Radau, mit Gekreisch und Flüchen alle intimen Tatbestände des Privatlebens dem Ohr der Öffentlichkeit vernehmlich gemacht.
Ich könnte also erzählen, wie diese Leute raufen, saufen, rauben, morden, huren, stehlen, erpressen, Totschlag begehn und Straßenüberfälle tätigen, – könnte erzählen, wie das alles für sie zum wohlgeordnet regelrechten und anständigen Tageslauf gehört, – und dann erzählen, wie diese selben Leute vor empörtem Schicklichkeitsgefühl aufheulten, sich bei der Polizei beschwerten und uns eine Abordnung ins Haus schickten, als einmal der junge Neffe von Miß Maude, lediglich mit einer Badehose bekleidet, sich auf dem Rasenplätzchen hinterm Haus sonnte.
»Sie hamm 'en nackigen Mann da drauß't!« erklärten die Abgeordneten im Ton des anklägerischen Entsetzens.
Ja, wir, guter Herr, die wir die Ironie so sehr lieben, – wir, der alte Erfinder Whittaker, die ›verrückte Maude‹, seine älteste Tochter, meine Hauswirtin also, – (sie brummt, wenn Du 'ne Untertasse zerbrichst und füttert Dich dann mächtig mit einem Mordsfrühstück; dies Jahr hat sie die zwanzig Quadratfuß Rasen vom April bis zum August nachgesät, gehegt und gesprengt, bis das Gras ganz herrlich stand, und dann ließ sie zwanzig magere, schwärzliche, halbnackte Rinnsteinrangen herein, die das Rasenplätzchen zu Sumpfboden stampften, während sie mit dem Schlauch die dreckigen, verschwitzten Kerlchen abspritzte) – wir also, der Alte, seine Töchter und sein Enkelsohn, drei Bankangestellte, ein Karikaturenzeichner, zwei junge Hearst-Journalisten und ich, – wir, guter Herr, die wir 'mal ein Mädchen mit auf die Bude nehmen, uns gelegentlich besaufen, unser sündenvolles und unwürdiges Leben einzugestehen pflegen, die wir Shakespeare, Milton, Whitman, die Bibel und freilich auch den Sportteil der Tageszeitungen lesen, – wir, jung, töricht, alt, verrückt, bestürzt, so, wie wir sind, – wir, die nie gemordet, geraubt oder einer Frau die Zähne eingeschlagen haben, – wir, die wir mit den Maßstäben der Welt gemessen ziemlich rechtschaffne, gütige und freimütige Leute sind, – wir sind die Parias vom Balcony Square, der wohl so heißt, weil er kein Platz ist, sondern eine enge, kurze Fahrgasse zwischen Häusern, von denen keins einen Balkon hat.
Ja, wir sind die Verdächtigen, die Feinde der Ordnung und der öffentlichen Moral, wir haben uns schamloserweise einer offnen, unzulässigen Infamie mitschuldig gemacht, und so kommt es, daß uns leichttadelnde Blicke treffen aus den mißtrauischen Augen unsrer Nachbarn, die als liebende Gatten ihre Weiber prügeln, die mit dem Stolz der Wohlbeleumdeten andern Menschen die Gurgel abschneiden, die sich wacker des ehrsamen Gewerbes von Mord und Straßenraub befleißigen als die sich selbst hochachtenden Staatsbürger, die sie sind.
In meiner Gasse, drei Türen weiter, wurde in jenen Tagen ein Mann ermordet; er lag mit eingeschlagnem Schädel auf der Stufe vorm Hauseingang; und eines Nachts um zwei Uhr stieg eine betrunkne Frau aus einem Auto und schrie ihren Begleiter mit Verwünschungen an, daß es die ganze Nachbarschaft hörte. »Zahl mich, Du Schuft!« gellte es. »Du zahlst mir die drei Dollar, oder ich hol' meinen Mann, daß er sie aus Dir 'rausdrischt!« – »Aber benehmen Se sich doch wie 'ne Lady!« mahnte der Mann in leiserem Ton. »Wenn Se sich nich' wie 'ne Lady benehmen, zahl' ich nicht! Sie müssen sich wie 'ne Lady benehmen!« Mit rührender Ergebenheit bestand er auf guten Umgangsformen. So ging's eine Zeitlang weiter, bis der Mann den Motor anlaufen ließ und wütend davonfuhr. Die Frau blieb auf der Gasse zurück und tobte. Sie kreischte, seufzte, verfluchte aufs gemeinste den Mann, der sie so geprellt hatte, rief die Rächerhand ihres Gatten auf jenen herab. Das tat sie stundenlang, unentwegt, bis schließlich drei ehrgeizige junge Gauner die Gelegenheit wahrnahmen, sie zu überfallen und auszuplündern. Die Burschen liefen vor meinem Fenster vorbei; einer kriegte es mit der Angst zu tun, er wollte sich drücken und erklärte: »Herrje! Ist mir schlecht! Ach so schlecht! Ich bin nicht aufm Damm! Wartet 'ne Minute! Geht und macht's allein! Ich brauch' 'ne Tasse Kaffee!« Und die andern fauchten ihn wild an: »Hopp! Mitgemacht! Feiger Hund! Vorwärts, oder ich mach' Dich kalt!« Und dann liefen die Drei weiter. Ich hörte den Laut ihrer schnellen, flinken Füße im Dunkel, und vom andern Ende der Gasse kam matt das Geheul der Frau, und dann verstummte es.
Dein Gastgeber ist ganz hingerissen von diesem wüsten Bericht. Er schlägt sich begeistert auf die Stirn und ruft aus: »Groß! Ganz groß! Sie haben Dusel! An Ihrer Stelle wär' ich der glücklichste Mensch von der Welt!«
Du siehst Dich um und sagst nichts.
»Frei sein! Herumgehn und diese Dinge erleben!« fährt er fort. »Unter wirklichen Menschen wohnen! Das Leben sehn, wie es ist, – im Rohzustand! Die wirkliche Sache! Nicht so wie hier ...«,sagt er mit einem gemüdeten Blick auf die ganze schöne, scheinbar unwirkliche Einrichtung, die ihn umgibt. »Und vor allem: – Alleinsein!« ruft er aus.
Du fragst ihn, ob er je allein gewesen ist, ob er weiß, wie die Einsamkeit tut. Du versuchst, ihm davon zu erzählen, aber auch hier kennt er sich aus. Mit einem ironisch-leisen Lächeln Dich und Deine Einwände beiseite schiebend, mit jener blasierten Duldsamkeit, die der Weise für die Jugend hat, seufzt er: »Ich weiß! Ich weiß! Aber wir sind ja alle allein, mein Junge, und schließlich sitzt die wirkliche Einsamkeit doch wohl hier ...« Er tippt sich mit dem Zeigefinger aufs Vorhemd, ein wenig links vom dritten Knöpfchen, auf jene Stelle, wo aller Annahme nach sein Herz sitzt. »Aber Sie! Frei, jung, ungebunden! Die ganze Welt steht Ihnen offen! Sie haben ein feines Leben! Was in Gottes Namen könnte ein Mann außerdem begehren?«
Nun, was bleibt da zu sagen? Auf eine kleine Weile pocht Dir der Puls heftig in den Schläfen; eine hitzige Antwort, scharf und bitter, liegt Dir auf der Zunge; Du wirst gewahr, daß Du Deinem Gastgeber allerhand erwidern könntest. Du könntest ihm ohne Ziererei und Zimperlichkeit erklären, daß es einen höllischen Haufen Sachen gibt, die ein Mensch außerdem begehrt –: gutes Essen und herrliche Gefährten, ein behagliches Heim und Daseinssicherheit und leichte Tage, eine liebenswerte Frau wie diese, die da jetzt neben Deinem Gastgeber sitzt, und ein Ende der Einsamkeit. Aber was bleibt da zu sagen?
Du bist, der Du bist; Du weißt, was Du weißt; und es gibt keine Worte für die Einsamkeit, die schwarze, bittre, schmerzliche Einsamkeit, die nachts an den Wurzeln der Stille nagt.
Also: was bleibt da zu sagen? Es hat genug Leben gegeben, genug Kraft und Größe und Freude, und es hat auch genug Schönheit gegeben, und, Gott weiß es, genug Trübes und Schmutz und Elend und Irrsinn und Verzweiflung, genug Mörderisches und Grausames und Haß ... und Einsamkeit genug, daß es Dir die Eingeweide mit dem Stoff des grauen Entsetzens füllte und Dir der harte, herbe Geschmack der Verlassenheit wie eine Kruste um die Lippen zog.
Und oh! Es hat genug Zeit gegeben, selbst in Brooklyn gibt es genug Zeit, genug fremde Zeit, dunkle geheime Zeit, genug dunkle, millionengesichtige Zeit, die immer an Dir vorbeifließt wie ein Strom, ja, selbst in den Kellertiefen in Brooklyn gibt's genug Zeit, aber wenn Du versuchst, dem Mann davon zu erzählen, kannst Du es nicht, denn: – was bleibt da zu sagen?
Plötzlich fällt Dir ein, wie das tragische Abendlicht auf die große, rostige Erdendschungel fällt, die Brooklyn heißt, und auf all die Menschengesichter mit toten Augen und talggrauem Fleisch, und wie selbst in Brooklyn die Leute an der Schwelle des Abends lehnen in diesem traurig-gedämpften Licht. Und Dir fällt ein Zwiegespräch ein. Eines Abends lagst Du auf der Kautsch in Deiner kühlen Kellertiefe in Brooklyn und lauschtest hinaus, den Abendlauten und dem ersterbenden Vogelsang in Deinem Baum; und da wurden zwei Fenster aufgestoßen, und Du hörtest zwei Stimmen, einen Mann und eine Frau, die in diesem sanften, tragischen Licht miteinander sprachen. Und heimsucherisch wie der Kehrreim eines alten Lieds kommen Dir die Worte ins Gedächtnis zurück, so, wie sie damals in Brooklyn zu hören waren und verlorengingen.
»Sie müssen weggewesen sein«, sagte die eine Stimme in jenem traurigen Licht.
»Ja, weggewesen. Bin grad zurückgekommen«, sagte die andre.
»Ja? Hab mir's schon gedacht, Sie müssen weggewesen sein«, sagte die erste Stimme wieder.
»Ja, weg auf Urlaub. Grad zurückgekommen.«
»O ja? Genau das hab' ich mir gedacht. Erst vorgestern dacht ich, daß ich Sie seit einiger Zeit nicht gesehn hab'. ›Sie wird wohl wegsein‹, hab' ich mir gesagt.«
Und dann wurde es auf Sekunden still, – still bis auf den ersterbenden Vogelsang, Stimmen auf der Straße, matte Laute und Rufe und zerschelltes Geschrei und ein abendlich gedämpftes, fernes und ungeheures Raunen in der Luft.
»Nun, und was gibt's Neues, seit ich weggewesen bin?« erkundigte sich ruhig die eine Stimme im sanften, sanften, tragischen Licht. »Ist was losgewesen, derweil ich weg war?«
»Nöh, 's ist nichts losgewesen«, erwiderte die andre Stimme. »Ungefähr so wie immer, Sie wissen ja ...« Schwerfällig wird die Vorstellungsfähigkeit in den Raum eingeladen, den die Sprachunbeholfenheit so schmerzlich freiläßt.
»Ja, ich weiß«, erklärte ruhig-resigniert die andre Stimme. Und dann ward es still in Brooklyn.
»Pater Grogan ist gestorben; da müssen Sie wohl weggewesen sein.«
»O ja?« erwidert ruhig teilnahmsvoll die andre Stimme.
»Ja.«
Und auf einen Augenblick ward es abwartend still.
»Sagen Se, das is' aber schlimm, nich' wahr?« sagt die ruhige Stimme mit trostlosem Bedauern.
»Ja. Er starb am Sonnabend. Freitag nacht noch ist er ganz gesund heimgegangen.«
»O ja?«
»Ja.«
Und auf einen Augenblick schwang das Gespräch ein in eine starke Stille.
»Herrje, das war arg, nich' wahr?«
»Ja. Er ist am folgenden Tag um zehn Uhr gefunden worden. Sie sind in seine Wohnung eingedrungen, um nachzusehn, und da lag er der Länge nach auf 'm Fußboden im Badezimmer.«
»O ja?«
»Ja. So ham se ihn gefunden.«
Und auf einen Augenblick schwangen die Stimmen ein in eine in der Schwebe gehaltne Stille.
»Herrje, das is' aber arg schlimm ... Da muß ich wohl weggewesen sein, als das geschah.«
»Ja. Sie müssen weggewesen sein.«
»Ja. So war's wohl, ich muß weggewesen sein. Sonst hätt' ich's sicher gehört. Ich war weg.«
»Also, Wiedersehn, Kleine! ... Wiedersehn!«
»Also, Wiedersehn.«
Ein Fenster wurde zugemacht, und dann war es still. Abend war es, und es waren ferne Laute und zerschelltes Geschrei in Brooklyn, in Brooklyn, in der formlosen, rostigen, unermeßlichen Wildnis des Lebens.
Und nun welkt das Abendrot auf den alten, rostigen Rotbacksteinhäusern, und Stimmen wehn in der Luft, und irgendwoher kommt Musik, und wir liegen in unsern Kellertiefen und sind blinde Kleinstteilchen, graue Einzelteilchen ohne Stimme in der menschenbeschwärmten Ödnis der Erde, und unser Ruhm ist verloren, unsre Namen sind vergessen, und unsre Kraft ist von uns genommen worden wie Erz aus den Bergwerken der Erde, und wir liegen da, und es ist Abend, und der Strom zieht dahin ... und die dunkle Zeit zehrt wie ein Geier an unsren Eingeweiden, und wir wissen, daß wir verloren sind, und wir können uns nicht regen ... und dort sind Schiffe! Dort sind Schiffe! ... Und Herrgott! – Wir alle sterben in der Dunkelheit! ... Und ›Sie müssen weggewesen sein‹ ... ›Sie müssen weggewesen sein‹ ...
Und das ist ein Augenblick der dunklen Zeit; das ist eins von den dunklen Gesichtern der fremden, millionengesichtigen Zeit.