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Am Rande des Krieges

... Brutal heißer August des Jahrs, in dem der Krieg endete; – hier sind vier Momentaufnahmen vom Antlitz der Kriegszeit; – die erste vom Langley Field in Virginien, dem großen Flugplatz, wo rohgezimmert die Werkschuppen und Bürobaracken der Firma stehen, die Flugzeuge baut. Aus einer Tür kommt vorsichtig zurückweichend, die weißen Zähne zu einer gräßlichen Angst- und Haßgrimasse gebleckt, ein Neger, die kräftige Gestalt halbgeduckt, affenhaft, gleichviel bereit zum Ansprung wie zur Flucht, die Arme mit den großen schwarzen Pranken in Abwehr vor sich haltend, während er unter der brutal erbarmungslosen, glasigen Augustsonne Schritt für Schritt nach rückwärts tut über den grauenhaft brachen, unbegrasten, trocken-harten Lehmboden, die weißen Augäpfel starr in einem Ausdruck stummer, unergründlicher Angst, stummen, unergründlichen Hasses, stummen, unergründlichen Abscheus gerichtet auf die schwerfällig schlapsige Gestalt eines Weißen aus den Südstaaten, – wohl ein Werkmeister oder Aufseher –, der einen Knüppel in fleischiger Faust schwingend auf ihn eindringt und schrill, dickzüngig keifend, mit der Gurgelstimme von Blutlust und Totschlag kreischt: »Das Gedärm stampf ich Dir aus dem Bauch, gottverdammter schwarzer Bankert! Das Hirn schlag' ich Dir zu Brei!« und brutal zuschlägt mit dem Knüppel, der auf den Negerschädel kracht mit dem schauderhaften, pralldumpfen, kurzdröhnigen, nun übers Feld hinweg hörbaren Laut, den Holz macht, wenn es jäh auf Knochen trifft. Hinter dem Dickwänstigen her kommt ein andrer Weißer, ein Büroschreiber, der kleine, mägerliche Jasager der Erde, eine Ratte in Hemdsärmeln, schnell wie eine Ratte, wenn es gilt, sich ins Schlupfloch zu verkriechen, schnell wie eine Ratte, wenn es gilt, bei einem Totschlag, bei dem die eigne Sicherheit gewährleistet ist, zugegen zu sein; die Rattenzähne gebleckt, kommt er hinter seinem schlapsig schwerfällig anschiebenden Beschützer her, untertäniger Sekundant der Furcht, kriecherischer Adjutant des Mords, und sein Gesicht ist weiß wie ein Laken und verkrampft von der Furcht und Lust des Feiglings dort mitzutun, wo ohne Erbarmen und ohne Vergeltung Totschlag verübt werden kann, und die erbarmungslose Sonne grellt heiß, sie blitzt auf der Spange an der Strippe, die den sprödgebügelten Hemdsärmel umspannt, und glitzt stumpfmetallblau auf dem Lauf des kleinen, beinah rechteckigen Revolvers, den der Schreiber mit zitternder Hand seinem auf Blut verseßnen Meister anbietet, wozu er, vor lauter Aufregung flüsternd, sagt: »– Hier! ... Nehmen Se doch, Mister Bartlett! ... Schießen Se den Bankert über'n Haufen, wenn er sich wehrt!«

Derweil weicht der Neger dauernd zurück, langsam, sein entsetzter, weiß-starrer Haß- und Angstblick ist nun nicht mehr auf den Feind gerichtet, sondern auf das bösglitzende, blaue Stahlrohr, die Arme aber streckt er noch blindlings und vergebens gegen den verhaßten Bedränger aus, und das schwarze Gesicht, das zunächst nur von einem Gerill hellroter Bäche überronnen war, wird nun zu Blutbrei geschlagen mit dem Knüppel, der mit dem schauderhaften, dröhnenden Krachlaut niedersaust.

»Gottverdammter schwarzer Hund!« Die Stimme klingt dickzüngig schrill, schleimig, von Mordlust erstickt. »Ich werd' Dich lehren!« Krach! Die Knorpelknochen der breiten, schwarzen Nase werden von dem Schlage knirschend zermalmt. »... Ob sich ein gottverdammter Nigger unterstehn kann, einem Weißen zu widersprechen!« Krach! Ein flegelwuchtiger, grauenhaft plumper Schlag auf den Mund, und der Mund wird augenblicklich zu einer blutigen Schmiermasse, durch die der Neger mechanisch (seine Augen bleiben auf das blauglitzende Stahlding gerichtet) Bruchstücke seiner gediegnen, nun zerschmetterten Zähne ausspuckt. »Ich schlag' Dir den Hirnkasten ein, gottverdammter schwarzer Bankert! Ich zeig' Dir, ob Du's kannst!« Krach! Der Schlag kracht mitten auf den wollig-behaarten Schädel, und nun ist die Kopfhaut bis herunter zum Ansatz der niedern Stirn aufgerissen, und die kräftige schwarze Gestalt taumelt wie betrunken und bricht nieder. Unter der Wucht weiterer Schläge fällt der schwarze Kopf nach vorn, die Arme sind immer noch blindlings zur Abwehr ausgestreckt, nun sinkt der Schwarze mit einem Knie auf die schnöde, hartgebackne Lehmerde, der Kopf ist ganz nach vorn auf die Brust gefallen, die kniende Gestalt, vollkommen blutüberströmt, schaukelt, von den Schlägen schwankend, blindlings hin und her, die Arme werden still, bis sie der Schwarze von sich streckt und – das Gesicht zur Seite – vornüber hinstürzt, und dann kommt die abschließende, übelkeiterregende Roheit: – der Tritt mit dem Schuh in das blutbreiige, bewußtlose Gesicht–; und dann kommt Stille: – nichts mehr zu hören außer dem schweren, erstickten Schnaufen des Dickwansts, und weiter nichts mehr zu sehn als hinter ihm das weiße Rattengesicht mit den rattenhaft entblößten Fangzähnen der Furcht und dem stumpfblauen Lauflicht auf dem giftigen Stahl.

Wiederum des Feiglings Herz voll Furcht und Haß, des Feiglings Lust an einseitigem Totschlag und gefahrlosem Morden, wiederum die Ratte, die sich aus dem Schiffbruch ihrer Selbstachtung zu retten weiß, – diesmal aber ist sie in Khaki eingekleidet und mit einer Dienstpistole ausgerüstet und reitet das hohe Roß der Berechtigung. Drei junge Leute, Angestellte der Flugmaschinenbaugesellschaft, gehen nach dem Nachtessen im schwindenden Abendlicht, in der hereinbrechenden Dunkelheit, auf dem Flugfeld spazieren. Sie gehen am Ufer entlang über das flache Marschland, sie unterhalten sich, und jeder erzählt den andern von seiner Heimat, von dem Städtchen, aus dem er stammt, von den Großstädten, in denen er geweilt, von den Schulen und der Universität, die er besucht hat, und dann sprechen sie von dem geplanten Ausflug, den sie am Wochenend, wenn Zahltag gewesen ist, gemeinsam unternehmen wollen. Ohne es gewahr zu werden, sind die drei in die Nähe einer Flugzeughalle gekommen, in der eines von den neuen Kriegsflugzeugen, mit denen die Regierung hier Versuche anstellen läßt, untergebracht ist. Der Soldat, der dort auf Posten steht, hat plötzlich die drei erblickt und kommt schnell auf sie zu, die Hand an der Pistole, die noch in der ledernen Gürteltasche steckt, die kleinen, verstohlnen Augen zu Schlitzen verengt. Gesicht der Großstadtratte, trocken, grau, heimtückisch, pickelübersät, die talgigen Lippen, die raspelnde Stimme, das Geschnarr weniger ruppiger Flüche, die kieselsteinern brache, unlebendige Redeweise der Großstadtratte.

»Was sucht Ihr d'nn hier, Ihr vaflixten kleenen Bankerte? Wer hat Euch jesagt, daß Ihr hier an de Halle 'rankommen dirft?«

Einer von den drei Jungen, ein pausbäckiger Bursch aus den unteren Südstaaten, rotwangig, hochblond, blauäugig, freundlichen Wesens und langsam mit der Sprache, versucht zu antworten:

»Ei, Mister, wir dachten ja gar nicht ...«

Blitzschnell hat die Ratte dem Jungen auf den Mund geschlagen; die widerliche Pfote hat ihre Fleckenspur auf der roten Wange hinterlassen, den ekelhaften, fauligen, unauslöschlichen Abdruck, der auf immer in der Seele des Jungen brennen wird.

»Ich scher' mir 'n Dreck drum, wat De denkst, kleener Pinkel! Noch ein Wort aus Deiner Klappe, und ich schieß Dir die Scheiße aus'm Gedärm!« Er hat nun die Pistole aus der Ledertasche gerissen und hält sie schußfertig in der Hand; mit der einzigen, brennpunkthaften Heftigkeit des lähmenden Entsetzens und gebannten Nichtglaubenkönnens sind die Augen der drei Burschen auf den stumpfblaublinkenden Stahllauf genietet.

»Schert Euch hier fort, zum Teufel!« schreit der Held und gibt dem Jungen, den er gerade auf den Mund geschlagen hat, mit der freien Hand einen heftigen Stoß. »Zur vaflixten Hölle, schert Euch hier fort, Ihr drei! Mit mir könnt Ihr nich' rumfackeln, Ihr kleenen Pinkel!« faucht er, der große Mann, und seine zu Schlitzen verengten Augen glitzern schlangenhaft, und die tödliche Drohung steht ihm auf dem Gesicht geschrieben, während er einen Schritt nach vorn macht. »Noch ein Wort aus Eurer vaflixten Klappe, und ich schieß Euch die Scheiße aus dem Gedärm! Marsch! Fort! Ihr Pinkel! Schert Euch zur Hölle, eh' ich Euch eine reinjage!«

Und die drei Jungen, betreten, bestürzt, schamerfüllt und all der Freude und Hoffnung beraubt, mit der sie zuvor von ihren Plänen gesprochen haben, haben sich auch schon umgedreht und gehen nun stillschweigend weg, und die dumpfe Schande und der rohe, ätzende Haß, den dieses Antlitz des Kriegs in ihnen verursacht hat, das schmerzt und schwärt in ihren Herzen.

 

Und nun – ein Wahrbild der baren Mannesgier, roh und drangsälig in ihrer unverhüllten Nothaftigkeit, wüst und achtlos wie heftig jäher Heißhunger, dem jede Zehr zu nehmen und zu reißen recht ist, – dieses hier –: über die Brücke hinweg, über den Bahndamm hinweg, drunten in der Negersiedlung der Hafen- und Werftstadt Newport News in Virginien, unter den Kneipen, Bordellen und schadhaften Mietskasernen jenes dreckig-trübseligen, abscheulichen Viertels – ein einstöckiges, rüdes Holzhaus, ungestrichen, aus Tannenbohlen zusammengezimmert mit der unziemlichen Hast, die die Kriegszeit erzeugt hat, damit hier jener Lust gefrönt werden könne, die so unbändig und unstillbar ist wie der Hunger und so alt wie das Leben selber, der Mannesnot freundloser und unbehauster Männer aus aller Welt.

Der durch eine unverkleidete Bretterwand abgeteilte Vorderraum sieht absichtlich-scheinbar aus wie ein Lunchroom, in dem alkoholfreie Getränke ausgeschenkt werden; da stehen Tische, und auf den Tischen stehen in Haltern fliegenverdreckte Speisekarten, auf denen ein halbes Dutzend Gerichte verzeichnet sind, Speisekarten, die kein Gast je ansieht; ein hölzerner Schanktisch ist eingebaut mit einem trübseligen Bühnenrequisitarium von lauwarmem ›Sodapop‹; in einem trüben kleinen Glaskasten liegen ein paar Zigarettenpäckchen, daneben steht eine Kiste billiger Zigarren; und unter einem fettfleckigen Humidor-Glassturz liegen mehrere vertrocknete, mit Käse und Schinken belegte Brote, die da sind, seit der Ausschank aufgemacht wurde, und da sein werden, bis der Krieg herum ist.

Alle Tische im Raum sind vollbesetzt, und zwischen ihnen bewegen sich, Kellnerinnen darstellend, aber auf ihr wahres Gewerbe bedacht, in dünnen, kaum etwas verhehlenden Überkitteln die Dirnen. Die Männer, die an den Tischen sitzen, gehören meist der in keiner Klassenordnung unterzubringenden Sorte derer an, die sich treiben lassen und herumstreunen, eine Zeitlang arbeiten, dann wieder lungern und sich durchhungern, die bald im Gefängnis sitzen, bald wieder auf freiem Fuß herumlaufen, bald in Dreck und Elend verkommen, hungrig und glücklos sind, auf den Achsenstangen oder in den rostigen Frachtwagen der Güterzüge reisen und sich nachts in den brodelnden Schlupfwinkeln der Stromerdschungel geschwind etwas zu essen klauen, und bald wieder, von kurzfristigem Wohlstand geschwollen, großtuerisch auftreten, – es sind Strolche, Herumtreiber und Halbvagabunden aus der großen, namenlosen, obdachlosen, wurzellosen, nirgends einzureihenden Horde, die das ganze Gebiet der Staaten beschwärmt.

Sie sind die Menschenschlacken der Erde. Harte, schäbige, narbige, gefurchte Gesichter, gewöhnliche, stumpfe, magere Mienen. Diese Männer sehen immer so aus, als wären sie gerade diesen Morgen am Bahnhof einer ganz andern Stadt aus einem Güterwagen gekrochen, oder aber als wären sie, sich gleichmütig und beiläufig umblickend, dort aus einem Personenzug gestiegen, ein Köfferchen aus Papiermache in der Hand, in dem sich ein zweites Hemd, zwei Kragen und ein Schlips befinden. Die Legende von großen Entfernungen jedoch steht leserlich auf ihren Erscheinungen geschrieben, – eine Art atomischer Vereinsamung. Jeder von diesen Menschen ist wie ein wenig Rost, das unter einsam-hochgewölbten Himmeln obdachlos auf der ungeheuer-unbändigen Erdwildnis hin und her geschleudert wird, – wie schmieriger, grauschmutziger, brauner Rost, der am Bremsengestäng eines beladnen Güterwagens hängt, – ist gewissermaßen eine Schlacke von einem Menschen, – nackt, wurzellos und namenlos fährt er im Raum herum, und alles, was einst persönlich und einzig in seinem einen Leben war, ist ihm entzogen; er ist dieser großen Öde aus Rost, Eisen und Schutt und den einsamen, unmittelbaren Entfernungen anheimgefallen, in denen er nun lebt, durch die er so oft schon geschleudert worden ist.

Und so ein Atom findet schließlich sein Ende – vielleicht an irgendeiner unbekannten Stelle auf dem wüsten Antlitz des Kontinents, – zerborsten, Blutschmier auf dem Schotter zwischen den Schienen, ein im Gebrüll der stampfenden Räder verlorner Schrei, Gedärm um eine Achsenstange gewunden, kleine, unerklärliche Blutspuren, Hirnteilchen und Knochensplitter auf den Geleisschwellen, – oder aber bloß ein Bündel von altem, schmutzigem Braun und Grau, das morgens in einer schäbigen Tordurchfahrt zusammengesackt ist, auf einer Großstadtstraße oder unter einem Hochbahnstrang liegt, bloß ein Bündel Lumpen und Knochen, kalt und leblos dann, das die Polizei mit dem Karren abholen läßt, etwas, das im Tod genau so namenlos und vergessen bleibt, wie es im Leben namenlos und vergessen war.

Von dieser Sorte also sind die meisten Männer, die nun in diesem rüden Freudenhaus an den Tischen sitzen und sich mit berechnet abwartenden oder unentschiednen Mienen verstohlen-behutsam umblicken und manchmal, wenn sie einander ansehn, ein heimlich verschmitztes, etwas dämliches Lächeln lächeln.

Was die Weiber anbetrifft, die diesen Männern aufwarten, nun, es sind Huren, meist aus den Großstädten der Nord- und Mittelweststaaten eingereist, brutal habgierige, raubsüchtige Geschöpfe mit stumpfen Augen, harten Zügen und jenem Gesichtsausdruck des Mitgenommenseins, der Überanstrengung und der Erschöpftheit, der von der mechanischen Ausübung ihres Gewerbes kommt, eines Gewerbes, bei dem sie in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu ergattern und festzuhalten hoffen. Sie haben harte, schnarrende, herausfordernde Stimmen und eine beinah absichtlich betonte, unbeholfen übertriebne Art, sich gemein und unanständig auszudrücken, jene berechnete und allzu-nachdrückliche Rauhschnäuzigkeit, die man oft bei den Armen in großstädtischen Elendsquartieren antrifft, – dort sogar bei kleinen Kindern, – ein ständiges Sichergehen in Flüchen, Schmähungen, Anwürfen, Hohnreden, Drohworten und unflätigem Schimpf, – eine Gepflogenheit, die wirklich von der furchtbaren Angst kommt, in der diese Menschen leben, ganz so, als befürchteten sie in der feindlich-wüsten, raubgierig-rohen Umwelt, in der sie bitter ums Dasein kämpfen müssen, mit einer liebenswürdigeren, wärmeren, entgegenkommenderen Art von Rede und Gebärde sich selber zu verraten, dadurch ihren Mitmenschen aufzufallen und sich somit den Anrempelungen, Drohungen, Herrschsüchten und Dominiergelüsten preiszugeben, vor denen sie Angst haben.

Ganz so steht es mit diesen Weibern. Überallher durch die dichten Rauchschwaden im Raum kann man sie hören, – raspelnde Stimmen, harsches Hohnlachen und streitsüchtiges Gekeif, Sätze und Gesprächsfetzen, in denen dauernd, überflüssig, verschwenderisch, übertrieben, mit eintöniger Brutalität dieselben Flüche und gemeinen Ausdrücke wiederkehren, – und am meisten wohl hört man Wendungen wie diese: »Jesus Christus! Was zur gottverdammten Hölle mach' ick mir da draus? Kommen Se! Also, was woll'n Se? Ich hab' keene Zeit zum Rumfackeln. Wenn Se möchten, dann kommen Se mit und zahlen, und wenn Se nich' möchten, dann scher'n Se sich zur gottverdammten Hölle hier 'raus!«

Und doch! Selbst hier, unter diesen armen, ausgepumpten, von Furcht besessenen Weibern ist in der Tat noch wie ein klägliches Überbleibsel ein unzerstörbarer Rest von Leben zu Hause, eine gewissermaßen begrabne Zärtlichkeit, der ängstliche, fast scheue Wunsch, unter jenen Hergelaufnen, Verlornen und Ruinierten, denen sie dienen, etwas wie Freundschaft, gütiges Entgegenkommen, ja, sogar Liebe zu finden.

Und der scheue, aber innige Wunsch nach wärmeren und zarteren Beziehungen in der Ausübung selbst dieses Gewerbes äußert sich zuweilen auf beinah drollige Weise. Diese Weiber gehen, auf Kundschaft bedacht, von Tisch zu Tisch, und wenn sie dann ein Mann ruppig-rauh, wie es hier üblich ist, mit einem roh herausgeraunzten Fluch begrüßt, dann erwidern sie ihm im gleichen Ton; spricht sie ausnahmsweis aber einmal einer ruhiger an und gönnt ihnen ein freundlich-gütiges Lächeln, dann versuchen sie auf pathetisch-lächerliche Art die Kokette zu spielen, sie dämpfen ihre raspelnden Stimmen zu einem heiser-blechernen Flüstern, pressen sich vertraulich an den Gast, bringen ihre puderbetupften, schminkeverschmierten Gesichter ganz nah an seines und ködern ihn mit kläglich vorgespiegelter Verführerischkeit, etwa so:

»Hallo da! Großer Junge! ... Sitzen Sie aber einsam und allein da! ... Kommen Se sich nich' ganz verlassen vor? ... Wollen wohl 'n bißchen Gesellschaft haben, wie? ...« Dieses heiser geflüstert mit einem gräßlichen Schmunzeln um die rotverschmierten Lippen, während sich die Frau enger an den Gast anschmiegt. »Wie wär's denn mit 'nem bißchen Unterhaltung, Schatz? ... Na, komm nur mal mit! ...« Dies eindringlich im Ton der guten Zurede. »... Ich zeig' Dir mal, wie es ganz großen Spaß macht!«

Auf eine solche Lockung hin ist der junge Mensch von seinem Tisch aufgestanden, hat, von einer Frau begleitet, den vollgerauchten Vorderraum verlassen und tritt nun durch eine seitliche Tür in den Korridor, an dem, durch dünne Bretterwände voneinander abgeteilt, die Bordellkojen liegen.

Hier wird einem sofort klar, daß es weiter nichts zu tun gibt als zu warten. Den ganzen Korridor entlang stehen Paare Schlange und warten, bis so ein Gelaß auf kurze Frist für sie frei sein wird, denn sämtliche Kojen sind zur Zeit, wie man sieht und außerdem hören kann, besetzt.

Die Frau, der sich der junge Mensch angeschlossen hat, ruft beim Eintreten in den Korridor, einer andern Frau, die ganz vorn in der Reihe steht, zu: »Hallo! May! ... Haste Grace gesehn?«

»Ä-äh«, macht die also Angeredete, während sie den Rauch ihrer Zigarette aus der Nase kräuseln läßt, und erklärt dann mit raspelnder Stimme im Ton der zuvor beschriebnen Rauhschnäuzigkeit: »Uff Nummer sieb'n isse, gloob ick, un' läßt sich stemmen.«

Und nachdem sie so delikat Auskunft erteilt hat, wendet sie sich wieder an ihren Begleiter, einen stämmigen, grinsenden Matrosen, der die Uniform der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten trägt, und fragt diesen in humorig-forschem, leicht scherzendem Ton:

»Na, wat sagste, großer Jung? ... Des Wartens müde, wat? ... Schon gut, ... dauert ja nich' mehr lang. Die da drin sin in 'ner Minute fertig, ... wir sin' de nächsten.«

»Die soll'n sich lieber mal beeilen«, meint der Matrose drauf und droht spaßhaft-derb: »Sonst reiß' ich die ganze verflixte Bude ein ... Herrje!« ruft er staunend aus, nachdem er eine Weile gelauscht hat, »Heiliger Herrjesses!« ruft er und lacht überrascht auf. »Was zum Teufel machen denn die da drin die ganze Zeit? Wer issen der Kerl? Das is' ja 'n Radau, als wär 'n ganzers Regiment Marineinfanterie drin! Heiliger Herrjesses!« ruft er nochmals, lacht erstaunt auf und lauscht wieder. »Jesus Christus!«

»Äh! Hör auf damit!« sagt die Frau im Ton einer roh-rauhen Zärtlichkeit. Sie kuschelt sich enger an, in den muskulösen Arm des Matrosen, und preßt ihren schweren Körper unzüchtig an seinen. »Du wirst mir doch nicht ungeduldig werden, wat? Halt noch 'n bißchen an Dich, und dann kriegste von mir wat geboten, det haste nie zuvor gehabt.«

»Wenn De das tust«, erklärt die galante Blaujacke und hebt nun die mächtige Faust zu einer Gebärde rauher Liebkosung, die der Frau irgendwie zu gefallen scheint, »dann komm' ich wieder hierher zu Dir und hau' Dir mitten in de Fresse, Du Hundemensch!« Das flüstert er verliebt und zieht die Frau an sich.

Ähnlich unterhalten und benehmen sich auch die andern Paare; man hört zweideutige Scherze, unanständiges Gelächter und ungeduldige Zurufe, die den lärmenden Paaren in den Kojen gelten, – immer wieder: »Kommt endlich mal raus, Herrgott, und laßt uns mal dran!« und andre Aufforderungen, die dasselbe besagen.

Es ist ein brutal-heißer Augustabend, die Luft im Korridor ist stickig, abgestanden, fettig-feucht; sie ist ohnehin im ganzen Haus dick und zäh, schal und faulig von Tabakrauch und Männergestank; dazu riecht es nach dem Puder und den billigen Parfümen der Weiber, aber über allem liegt übermächtig, unvergeßlich, eindringlich, harzig, so rüd und roh wie die unbändige Natur und die nackte Mannesgier der Geruch des neuen ungestrichnen Weißtannenholzes, aus dem die wackelige, aufs Geratewohl zusammengezimmerte Bude erbaut ist.

Nach einem langen und verdrießlichen Warten im knallheißen Korridor, während welcher Zeit die Türen viele Male gegangen, Männer und Weiber aus den Kojen herausgekommen und Paare hineingegangen sind, ist es endlich so weit, daß der junge Mensch und die Frau, der er sich angeschlossen hat, zum Kopfende der Schlange vorgerückt und somit die nächsten an der Reihe aus dieser nicht endenden, lärmenden Kolonne sind.

Die Tür der Koje, auf die sie warten, geht auf, ein Mann kommt heraus, schließt die Tür hinter sich und geht schnell den Korridor hinunter. Auf einen Augenblick wird es still, dann erhebt sich ein ungeduldiges Gemurmel unter den nachdrängenden Paaren, und schließlich fängt auch die Begleiterin des jungen Menschen zu murren an:

»Was zum Teufel sie nur die ganze Zeit da drin macht! – Heij!« ruft sie schrill und trommelt mit der Faust an die Tür. »Wer is' denn da drin? ... Herrgott noch einmal! Mach, daß De 'rauskommst, Menschenskind! ... Du hältst ja 'n ganzen Betrieb auf!«

Und einen Augenblick später antwortet eine müde Frauenstimme von drinnen:

»Schon recht, Fay! ... Augenblick noch, Liebe ... Ich komm' gleich.«

»Ach!« sagt die Frau draußen, und auf einmal wird ihre Stimme leise und sonderbar zärtlich. »Es ist Margaret ... Wird wohl totschlapp sein, das arme Ding ...« Und wieder pocht sie an, diesmal aber leise, beinah scheu, und erkundigt sich mit sanfter Stimme:

»Geht's Dir schlecht, Kindchen? ... Kann ich Dir was helfen?«

»Nein ... Schon gut, Fay«, sagt die Stimme von drinnen, ganz müde und im Ton äußerster Erschöpfung. »... bin im Augenblick soweit ... Komm doch 'weil 'rein, Liebe.«

Die Frau macht leis die Tür auf, tritt ein. In dem heißen, rohen, häßlichen Raum stehn ein Stuhl, ein Tisch und ein unordentlich und verlottert aussehendes Bett, und die Einrichtung wird ergänzt durch einen billigen Toilettentisch, auf dem eine Puppe und eine Photographie stehn und ein Päckchen Zigaretten liegt. Die Puppe hat einen Gürtel aus beschmutztem rosa Seidenband, das zu einer großen Schleife gebunden ist. Auf dem Photo ist ein junger Matrose zusehen, und unter dem Bildnis stehn handschriftlich die Widmungsworte: »Für Margaret, den besten Schatz, den ich je hatte. – – Ed.« Außerdem ist ein elektrischer Dreh- und Schwingfächer da, der unaufhörlich dröhnend von links nach rechts und wieder zurück schwingt und gewissermaßen eine sporadische Schwummerbrise in die schwüle, verbrauchte Luft facht.

Und von Augenblick zu Augenblick, während der Fächer seine Halbdrehung macht, spielt er voll auf das Gesicht und den Kopf des Mädchens, das in einer Haltung äußerster, kläglicher Erschlaffung auf dem Bett ruht. Und wenn das geschieht, dann weht in der vom Fächer geregten Luft eine einzelne Strähne vom Haar des Mädchens über die Schläfe hin und her, – Haar, das glatt, schütter, seidenfein gesponnen und von einem herrlichen Bronzerot ist.

Das Mädchen, schlank, schmal, sehr lieblich, ist bis auf Strümpfe und Schuhe nackt. Es liegt der Länge nach auf dem unordentlichen Bett und streckt – Gebärde vollkommnen Erschöpftseins – einen Arm von sich, während der andre unter dem glänzenden Haar liegt. Das Gesicht, das eine zerbrechliche, durchsichtige, beinah ausgedarbte Zartheit hat, ist zur Seite gewandt und ruht auf dem Oberarm. Die Lider sind geschlossen, und sie, die gleichfalls diese Feinheit des Gewebes haben, sind veilchenblau vor Übermüdung und so durchsichtig, daß man das zarte Netzwerk der Äderchen deutlich erkennt.

Die Frau tritt leise ans Bett, setzt sich neben das Mädchen und beginnt, ihm in dunklen, zärtlichen Tönen zuzureden. Nach einer kleinen Weile wendet das Mädchen sein Gesicht der Frau zu, schlägt die Augen auf und lächelt matt und wie von ferne her, etwa wie jemand lächelt, der aus einem Opiumrausch aufwacht.

»Was? ... Was hast Du gesagt, Liebling? ... Ach nein, ich bin ganz in Ordnung«, sagt das Mädchen matt, setzt sich auf und streift sich schnell – die Frau hilft ihm dabei – das billige Kittelkleidchen, das zuvor über der Kopflehne der Bettstelle hing, über den Kopf. Dann steht es lächelnd auf, nimmt sich eine Zigarette aus dem Päckchen auf dem Toilettentisch, zündet sie an, wendet sich an den jungen Menschen, der noch in der Tür steht, und sagt ironisch, mit dem raspelnden Akzent der andern Dirnen, jedoch so, daß darunter sein eigner, angenehmer, heiser-zärtlicher Sprechton hörbar bleibt:

»Schon recht, ›Georgia‹! Komm nur 'rein!«

Der junge Mensch tritt langsam näher. Immer noch starrt er verdutzt dieses Mädchen an, das er auf den ersten Blick wiedererkannt hat. Es stammt aus der kleinen Stadt, wo die Staatsuniversität liegt, auf der er studiert, und ist die Tochter einfacher, anständiger, dort wohlbekannter Leute; – vor nicht ganz zwei Jahren war es auf einmal verschwunden, es wurde gemunkelt, ein Student hätte es ›ins Unglück gestürzt‹, und seitdem hatte dort kein Mensch mehr etwas von ihm gehört.

»Wie geht's denn daheim?« fragte das Mädchen. »Was machen denn die Leute in Hopewell?«

Die glänzenden, rauchgrauen Augen werden hart und hell, der Mund in dem schmalen, jungen Gesicht wird hart und bitter wie eine Klinge, die Stimme klingt hart und höhnisch, – und doch –, unter dem verächtlichen Trotz ist ständig diese sonderbare heisere Zärtlichkeit des Sprechtons herauszuhören, und das Mädchen hat seine schlanke Hand ganz leicht auf den Arm des jungen Menschen gelegt, – schnell, unbewußt, innig, wie es Leute tun, die unter Fremden plötzlich jemandem begegnen, den sie von zu Hause kennen.

»Es – es geht ihnen gut«, stottert der junge Mensch verwirrt und bestürzt, und bei der Antwort fängt sein Gesicht vor Verlegenheit zu glühen an.

»Also, wenn Du Bekannte von mir triffst«, sagt das Mädchen im gleichen ironischen Ton, »dann sag ihnen 'nen schönen Gruß ... sag ihnen alles Liebe von mir, gelt?«

»Schon recht«, blökt der junge Mensch dumm heraus. »W-we-werd's ausrichten.«

»Und ich bin bös auf Dich, ›Georgia‹«, sagt das Mädchen vorwurfsvoll-spöttisch, »bös, weil Du mich nicht wissen ließest, daß Du hier bist ... Das nächste Mal, wenn Du hier reinkommst, mußt Du nach mir fragen, oder ich werd' wirklich bös auf Dich ... Landsleute sollten zusammenhalten ... und so solltest Du nach Margaret fragen, oder ich werd' bös auf Dich werden, hörst Du?«

»Schon recht«, stottert der junge Mensch verwirrt. »W-w-werd' ich gewiß tun.«

Und das Mädchen mit seinem harten, hellen, starren Blick, seinem bittern, sonderbar zärtlichen Lächeln sieht ihn ein Weilchen länger an, fährt ihm dann schnell mit den Fingern durchs Haar, wendet sich an die Frau und sagt zu ihr:

»Sei nett zu ihm, Fay ... Er ist da drunten zu Haus, wo ich her bin ...« Und dann zu ihm: »Also leb wohl, ›Georgia‹, ... und wenn Du wiederkommst, fragst Du nach Margaret!«

»Leb wohl!« sagt er, – und das Mädchen ist weg, zur Tür hinaus, gegangen, den Korridor hinunter, in dem die rohe, triebhaft gebieterische Gier wartet, wiederum auf den Markt, wo es seinen jungen schlanken Körper zum tausendstenmal den beliebigen Käufern anbieten, um die Gunst eines Namenlosen werben und jeden Unbekannten annehmen und hinnehmen wird, den die große Wirbelwalze des Zufalls und der Nacht an es heranbringt. Und der junge Mensch wird das Mädchen dann nie wiedersehn. Der ungeheure Strudel der Kriegszeit hat es bereits verschlungen, der ungeheure dunkle Abgrund und das Chaos Amerikas, des unermeßlichen, grausamen, gleichgültig gesinnten und grausamen Landes, in dem wir alle als Fremdlinge leben und wandern, wo wir alle so klein, allein und verlassen sind, das uns alle schließlich verschlingen wird, in dessen dunkler und einsamer Brust schon so viele Verlorne und Namenlose begraben und vergessen liegen.

Dies also ist die dritte Aufnahme vom Antlitz der Kriegszeit, – ein Unheilsgesicht, ein Wahrbild der Gier.

Und wieder das Geschwinde, die Hast und Heftigkeit, der unbändige Humor und die Augenblicksentschlossenheit der Kriegszeit. – Schwummerheiße Mittagstunde an einem der großen Piere in Newport News in Virginien, wo der junge Mensch gegenwärtig als Ladeaufseher bei der Materialausgabe angestellt ist. Eine dumpfe, erstickende Hitze von hundertundzehn Grad Fahrenheit in dem riesigen Schuppen auf dem Pier; die unreine, verschwiemelte Luft geladen mit den goldnen Staubpollen von Haferkorn, das in einem endlosen Strom durch eine ungeheure Sturzrinne hereingeschüttet, in Säcke verpackt und versackt zu mächtigen, über den ganzen Raum hinreichenden Barrikaden aufgestapelt wird. An andren Stellen des Piers die Geometrie von Turmbauten, weiß hart und sauber die Kisten und Lattenverschläge; Munition und Proviant aller Art, Büchsenkonserven, Dörrfleisch und Speck, Bohnen, Backobst, Patronen für Kleinfeuerwaffen, – die ungeheure, Leben und Tod bedeutende Zehr, mit der von hier aus der unersättliche Empfängerrachen des fernen Krieges versorgt wird.

Die schwiemelige Luft ist von den Gerüchen aller dieser Dinge getränkt, – von dem Geruch von Hafer und grobem, braunem Sackleinen, dem scharfen, reinlichen Geruch des Kistenholzes und dem ungeheuren, schläfernden, heimwehmachenden Geruchsgedräng des Piers, diesem einzigen Gemisch aus tausendfältigen, vermengten Aromen, dem kompakten Duft der Vergangenheit, eindringlich, muffig, erregend, unvergeßlich, so, als wäre der ganzen großen Erde Fülle und Überfluß mit sättigender Mürbigkeit von Flecken, Placken und Schurfstellen aus langsam in das massive, verkrustete Bauholz eingedrungen und hätte es völlig durchsickert.

Alle Arbeit aber ruht nun. All der gewohnte Lärm und Betrieb, – das dauernde Gerumpel von Lastwagen, das Rattern der Winden, die schwere jähe Arbeit der Hebemaschinen an Bord der Transportdampfer, das Auf- und Überschwingen der großen, mit Kisten beladnen Netze, das plötzliche rasselnde Nieder- und Wiederhochgehn der Krane, das Kreischen und Rufen der schwitzenden, schwarzen Stauarbeiter, die scharfen Kommandoworte der Vorarbeiter, Aufseher und Lademeister, – das alles ist nun gestoppt und durch den gemessnen Marschtritt von Truppen abgelöst worden, denn den ganzen Vormittag über, vom frühen Morgen an, sind Männer in khakibraunen Uniformen, endlose Kolonnen, über den Pier getrampt gekommen und dann reihenweise über eine Gangplanke gegangen, die vom Ende des Piers hinauf in die Breitseite eines Transportdampfers führt, der dort angelegt hat. Die schwarzen Stauarbeiter liegen träghingefläzt auf den prallen Hafersäcken beim Kornschütter und lungern, und die Materialaufseher dösen auf den großen Körnerwällen, oder aber sie knien im Ring hinter einer Haferbarrikade und spielen fiebrig mit Würfeln. Und dauernd kommen Truppen durch. Die erhitzten, braunen Kolonnen kommen angetrampt, halten, dürfen ein wenig rasten; die Männer locken das rohe Gewicht der schweren Tornister auf den Schultern, nehmen die Mützen ab, fahren sich mit dem Rockärmel über die roten, verschwitzten Gesichter, fluchen leise untereinander, warten geduldig, bis die Kolonne wieder ein Stück weiter vorrücken kann.

Vor der Gangplanke am Ende des Piers sitzt an einem langen Tisch eine Gruppe von Offizieren. Dort müssen die Soldaten Mann für Mann vorbei und ihre Papiere vorlegen. Die Offiziere prüfen jedes Papier und reichen es weiter, vergleichen nach vorliegenden Listen, machen Einträge, kritzeln eine Signatur, drücken einen Stempel drauf, und dann ist der kleine Mann in Khaki abgefertigt, – freigegeben für den langerwarteten Triumph des Schifftransports, der Reise und des Neulands, für all die Lust und den Ruhm, nach dem ihn so heftig dürstet, für die unerwägten Gefahren von Schlacht, Krieg, Tod, Krankheit und Verstümmelung und für das Ungekannte an Schreck, Entsetzen und Grauen.

Und nun kommt eine Kolonne schwarzer Soldaten angerückt, – Abteilung eines Negerregiments aus Texas, – kräftige, große Männer, die einfältig und verwundert wie Kinder und für militärische Zucht und Ordnung unverbesserlich untauglich sind. Tatsächlich, da ist keiner drunter, bei dem alles an der Ausrüstung stimmt. Der eine hat keine Mütze, der andre vermißt seinen Leibriemen, wieder einem fehlen zwei Knöpfe am Waffenrock, wieder ein andrer hat seine Feldflasche nicht, und noch einem andern ist gut die Hälfte des Tornisterinhalts abhanden gekommen, und jeder steht dumpf und unwissend vor einem Verlust, denn verloren, vergessen, zurückgelassen, verschlampt hat jeder etwas, das er nun haben sollte.

Und nun, während die Abteilung auf dem Pier hält, fängt ein jeder an zu klagen, und das Durcheinander jammernder Negerstimmen schwillt an in der elenden, schwummerheißen Luft. Und der, an den sich alle Bestürzung richtet, der, auf den die ganze Unheils- und Irrtumsbürde abgeladen wird, der, an den sich jeder in seiner Not schlicht- und treugläubig wie ein Kind wendet, der, der jedem aus der Patsche helfen soll, der ohnehin überlastete und erschöpfte Herrscher, der Führer der Truppe – ist ein Weißer, ein Oberleutnant, ein cholerischer kleiner Bulle von einem Menschen, den bereits die berghoch gehäuften Anforderungen des katastrophalen Vormittags fast um die Vernunft gebracht haben.

Nun stampft er auf dem Pier auf und ab wie ein rasendes Tier, und die weißen Augäpfel, die schwarzen, von Schweißbächen überronnenen Gesichter – geduldig-pflichtschuldig, vertrauensvoll-kindergläubig dreinschauend – folgen ihm hin und her bei seinem zornigen Gestampf. Sein kleines, muskulöses, rotes Gesicht ist geschwollen vor Wut und Gereiztheit. Während der endlose Wehbericht über ihn hereinbricht, lacht er wahnwitzig auf, zerrt sich, als wäre er am Ersticken, mit der Hand krampfhaft heftig am Uniformkragen und stampft dann wieder zornestrunken und blindlings wie ein vor Zahnschmerzen irrsinnig Gewordner hin und her.

Und immer noch dringen die schwarzen Bittsteller auf ihn ein; sie kommen zu ihm mit der zutraulichen Hoffnung und Gewißheit von Kindern, sie glauben, daß ein Wort ihres unfehlbaren Kommandanten alles in Ordnung bringen kann, und so kommt ihm der eine mit seinem fehlenden Leibriemen, der andre mit seiner vergeßnen Feldflasche, ein dritter mit seiner verlornen Mütze, ein vierter mit seinem halbleeren Tornister, und zutunlich (unverbesserlich, wie sie sind) sprechen sie ihn mit ›Boss!‹ an, obschon doch dieser ›Baas‹ sie deswegen verflucht, bedroht und anfleht, obschon er wie ein Rasender schreiend endgültig verlangt, militärisch angeredet zu werden, – und er stampft auf und ab, völlig von Sinnen vor erstickender, unsäglicher Wut und flucht wüst:

»Gottverdammte schwarze knochenköpfige wursthirnige Gorillabande!« gellt er, fast am Ersticken, die Hand an die Kehle krallend, »Ihr verfluchten elfenbeingediegnen dickschädligen Blödelbrüder eines einäugigen Maultiers! Ihr süßverstunkne Blase von affengesichtigen Hundesöhnen, Ihr! Wenn Euer Hirn Dynamit wär, hättet Ihr nicht mal genug, Euch laut die Nase zu schneuzen! Ihr armen dummen duldenden Nachgeschwisterkinder einer Eule! Na, wartet nur, Ihr tintenhäutigen Bankerte«, schreit er, im Ton des teuflischen Vorgenusses nun: »Wartet nur, bis ich Euch im vordersten Schützengraben habe! Dann stell' ich Euch einfach in Reihe auf, bis Euch diese verwünschten Deutschen das Tageslicht in die Hirnkästen 'reinschießen, und wenn ich selbst dabei draufgehn sollte! Ihr verdammten saudummen mißgebornen Zwitter aus einem scheelen Opossum und einem Kamelshöcker ... ei, Ihr ganz gemeine, saudumme Bande von ... von ... –«

»Boss?«

»Red' mich nich' mit Boss an!« kommt es mit hoher, wuterstickter, beinah abgeschnürter Gurgelstimme. »Dummer Hundsknochen! Wie oft soll ich Dir sagen, daß Du mich nicht mit ›Boss‹ anreden sollst!«

»Ach, ich weiß schon, Boss«, kommt es kläglich, »aber mir is' doch die Gürtelschnall' geriss'n. Hab'n Se v'leicht 'n Stück Bin'faden?«

»Ein Stück Bindfaden!« kreischt der Offizier. »Ei Du verdammter – –« Quäkend hat er die letzten Worte herausgewürgt, er kann nicht mehr weiterreden und erkennt sich geschlagen; wütend reißt er sich die Mütze vom Kopf, schmeißt sie zu Boden und stapft wutstöhnend auf ihr herum.

Aber das Geschick hat noch eine schwerere Prüfung auf Vorrat für diesen Unglücklichen. Drunten am Ende des Piers, wo die Offiziere der Prüfungskommission sitzen, ist auf einmal eine Pause eingetreten, eine störende Unterbrechung der schnellen mechanischen Erledigung des Dienstgeschäfts. Bisher haben die Mannschaften einer nach dem andern unbeanstandet auf den Transportdampfer gehn können, nun aber sind gleich sechs Negersoldaten auf einmal angehalten, scharf befragt und brüsk zurückgewiesen worden.

Der Offizier hebt die Mütze auf. »Was in Dreiteufelsnamen ist denn jetzt los?« kreischt er und saust den Pier hinunter auf die sechs Neger zu, die in tiefster Niedergeschlagenheit beisammen stehn. Die dicken Tränen kullern, ihnen über die ebenholzschwarzen Wangen. Der Oberleutnant erkundigt sich bei den Kommissionsoffizieren am Tisch und erfährt den Grund der Beanstandung. Diese sechs Neger, die seinem Kommando unterstehn, sind wegen Geschlechtskrankheiten in Behandlung gewesen; es ist ihnen jedoch geglückt, sich aus dem Lager wegzustehlen, aber sie haben kein Gesundheitszeugnis; so sind sie hier auf der Flucht erwischt, ist ihre Kriegslist entdeckt worden; die Kommission hat ihnen die Embarkationsbescheinigung verweigert, und so wenden sie sich weinend und bettelnd, mit jenem rührenden Vertrauen, das schwarze Soldaten weißen Offizieren entgegenbringen, an ihren Oberleutnant, und geradezu kriechend flehen sie ihn an, er möge ihnen helfen, daß sie mit ihren Kameraden zusammen an Bord dürfen.

»Wir hab'n doch nix getan, Boss«, greint der Rädelsführer, ein großer, affenhart gebauter, ebenholzschwarzer Neger und streichelt den Ärmel des Offiziers. »Uns fehlt ja nix«, flennt ein zweiter, »wir woll'n bloß nich' hier in dem gottverdammten Loch zurückbleiben, Boss! ... Wir woll'n mit nach Frankreich, wo Sie hingehn, Boss! ... Lassen Se uns nich' hier zurück, ... wir wer'n auch alles tun, was Se sag'n, Boss, wenn Se uns mitnehm'!«

»Ei, Ihr maulenden schwarzen Malefizbankerte«, schnauzt sie der Offizier an. »Wenn Ihr doch nur alle miteinander in der Hölle wärt! ... Wie zum Teufel bildet Ihr Euch ein, ich könnt' jetzt in letzter Minute noch was für Euch tun?« Und von einer Tobsucht besessen, vor der er sich selber nicht helfen oder retten kann, stampft er wieder auf und ab, – ganz wie ein Mensch, der aus einer wahren Seelennot von Überreiztheit und Verzweiflung wahnsinnig geworden ist. Er geht auf die kleine Gruppe der befleckten, niedergeschlagnen Neger los wie ein zorniger kleiner Bulle, schreit die Schwarzen an, beschimpft und verflucht sie in den gemeinsten Ausdrücken, und einen Augenblick sieht es sogar so aus, als wolle er sich tätlich an ihnen vergreifen, – und die Schwarzen umringen ihn einfach, sie weinen und flehen, sie flennen und betteln, er solle ihnen helfen, solle sie retten, bis er schließlich, ganz so, als ob ihn ihre Heulerei rasend machte, sich die Ohren mit den Händen zuhält und aufschreit:

»Schon recht! Schon recht! Schon recht! Ich werd's versuchen! Aber wenn Ihr mitdürft, dann hoff ich, daß jeder von Euch maulenden Hundesöhnen beim ersten Angriff draufgeht!«

Er saust an den Tisch, an dem die Prüfungskommission arbeitet, läßt sich leidenschaftlich und überrednerisch in ein langes und ernstes Gespräch mit den Offizieren ein, und es gelingt ihm, diese für seine Sache zu gewinnen.

Es wird entschieden, daß die infizierten Neger auf der Stelle untersucht werden sollen. Der hochgewachsne Sanitätsoffizier, dem diese Aufgabe zufällt, gibt den zurückgewiesnen Schwarzen ein Zeichen und geht mit ihnen – der kleine Oberleutnant mit dem roten Gesicht kommt mit – hinter die schützende Schranke eines großen Walls aus prallen Hafersäcken.

Sie bleiben etwa zehn Minuten weg, dann kommen sie zurück. Und die Neger machen vor lauter Vergnügtheit Faxen, ihre schwarzen Gesichter klaffen von einem ungeheuren, elfenbeinernen Grinsen, sie schwänzeln und tänzeln um ihren kleinen Oberleutnant herum, versuchen ihm die Hände zu küssen, tätscheln ihn mit den großen, schwarzen Pranken auf die Schultern; – die triumphante Tatsache, daß sie wieder in die Kolonne eingereiht werden, läßt sich aus jedem Zug ihres Gehabens und Gebahrens ablesen.

Der hochgewachsne Sanitätsoffizier geht voran. Er macht eine strenge Miene, aber ein leises Grinsen spielt ihm um die Mundwinkel. Der kleine Oberleutnant mit dem roten Gesicht flucht zwar noch bitterlich, aber in seine Flüche ist auf einmal eine liebenswürdigere Note gekommen, die Anspielung einer fast losen Zärtlichkeit.

Und schließlich ist die khakibraune, ungeheure, scheinbar endlose Marschsäule Mann für Mann in den Rumpf des großen Schiffes verschwunden, und auf dem Pier ist dann weiter nichts außer fernen, verlornen Lauten und der Stille, dem Atem der Kühle, des Abends, der ankommende, wogende Schritt der allumarmenden, hochbrüstigen Nacht.


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