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Es ist ein paar Jahre her, da standen im Hauptbahnhof München auf dem Bahnsteig neben einem Zug, der in wenigen Minuten in die Schweiz abgehen sollte, unter vielen anderen Leuten ein Mann und eine Frau, – eine Frau, so schön, daß die Erinnerung an sie das Gedächtnis dessen, der sie sah, auf immer heimsuchen sollte, und ein Mann, der leserlich bereits im dunklen Antlitz die Kündeschrift einer fremden, schicksalsverhängten Begegnung trug.
Die Frau, fehllos auf der Höhe reifer, strahlender Schönheit, durchdrungen von Leben und Gesundheit bis in die letzte Röte und Runde der Lippe, war ein Wunder an Lieblichkeit, und die Elemente des Schönen verbanden sich in ihr zu einem Bild von so erlesenen Ebenmaßen und mit einer so rhythmischen Ausgewogenheit, daß man seinen Augen kaum traute, wenn man sie ansah. So wirkte sie, die nicht übergroß war, manchmal prangend und von königinnenhafter Gestalt, und dann, wenn sie sich im nächsten Augenblick innig-traut an ihren Begleiter anschmiegte, erschien sie einem wieder fast untersetzt und klein. Auch war es, als hätte ihre Figur nichts von der biegsamen Schlankheit der Jungmädchenjahre eingebüßt, und doch stand sie verschwenderisch hold und üppig reif in der Vollentfaltung ihres Frauentums, und jede ihrer Bewegungen war von berückender Anmut.
Die Frau war elegant angezogen. Ein kleiner, bäffchenartiger, schmalrandiger Hut, vom Scheitel in die Stirn heruntergezogen, saß schmiegsam und festangepaßt auf dem kupfrig-rötlichen Haar und verschattete Augen, die eigentlich verhangen und rauchblau waren, sich aber bis ins beinah Schwarze verdunkeln und überhaupt im Ausdruck jeder, auch der schnellsten, übers Gesicht huschenden Regung verwandeln konnten. Die Frau sprach leis und zärtlich auf den Mann ein, blickte ihn wollüstig und vage lächelnd an; sie redete ihm zu, begierig, ernsthaft und lustig, und von Zeit zu Zeit brach sie in ein kleines Lachen aus, das dunkel-üppig und sinnlich zart aus der Kehle aufwallte.
Die beiden gingen vor dem Wagen auf und ab, sie hängte sich bei ihm ein, schmiegte sich eng an ihn an und legte manchmal kuschelnd den schönen, blumenhaft stolzen, blumenhaft anmutigen Kopf an den Ärmel seines schweren Wintermantels. Dann blieben die beiden einen Augenblick stehn und sahen einander fest an. Sie tat im Scherz so, als mache sie ihm Vorwürfe und verwiese ihm etwas, sie packte ihn an den Ärmeln und schüttelte ihn zärtlich, zog dann den schweren Pelzbesatz seines Mantelkragens zusammen und drohte ihm verspielt mit dem Zeigefinger ihrer kleinen, behandschuhten Hand.
Der Mann sagte wenig, er sah die Frau einfach an. Seine großen, dunklen Augen, die von den Feuergluten des Todes brannten, hingen an ihr mit Blicken, die sie mit unersättlich heißhungriger Liebeszärtlichkeit geradezu körperlich auffraßen. Er war Jude, ein langer, dürrer Mensch, leichenhaft und so ausgezehrt von einer Krankheit, daß seine Gestalt, verschlungen von einer Hülle teurer Kleidungsstücke, gleichsam verloren und vergessen wirkte.
Sein schmales, weißes Gesicht, fast vollkommen vom Fleisch gefallen, beinah nur noch Haut und Knochen, lief in eine ungeheuer große Hakennase aus. Es wirkte wie ein von zwei grellen, verzehrenden Augen erhellter, von zwei brennendroten Flammen beflankter, großer Totenschnabel, und war trotz all der Häßlichkeit von Kränke und Auszehrung ein sonderbar denkwürdiges und ergreifendes Gesicht, ein irgendwie tragisch-edles, vom Tod gezeichnetes Antlitz.
Aber nun war es Zeit zum Abschiednehmen geworden. Über den ganzen Bahnsteig hin riefen die Beamten aus, die Fahrgäste sollten einsteigen, und sofort kam mehr Bewegung – schnelles Gedräng, eiliges Gestrudel – in die wartenden Freundesgruppen. Man sah Leute einander umarmen, sich küssen, sich innig die Hände drücken, weinen, lachen, sich schnell noch einmal zu einem letzten Kuß umdrehen und dann hastig in den Wagen klettern. Und der junge Ausländer hörte nun in der ihm fremden Sprache Ausrufe, Gelübde und Versprechungen, hörte Spaße und flüchtige Anspielungen, wie sie überall einzelnen Menschengruppen geheim und teuer sind und hier lautes Gelächter hervorriefen, hörte Lebwohlworte, wie sie auf der ganzen Welt die gleichen sind.
– – »Otto! Otto! Hast Du das, was ich Dir mitgab? Fühl mal nach, ob Du's noch hast!« Er betappte seine Tasche, er hatte es noch, die ganze Gruppe lachte schallend.
»Wirst Du Else besuchen?«
»Wie bitte? Versteh nicht ...« rief er zurück, hielt die Hand als Schallbecher ans Ohr und wandte mit verlegnem Gesicht den Kopf seitwärts.
»Ob Du Else besuchen wirst?!!« schallte es laut über den Lärm der Menge hinweg durch das Sprachrohr zweier, an den Mund gelegter Hände.
»Ja. Ich hoffe doch. Wir wollen uns in Sankt Moritz treffen.«
»Sag ihr, sie soll mal schreiben!«
»Wie? Versteh nicht ...« Dieselbe Pantomime wie zuvor.
»Sag ihr, sie soll mal schreiben!!!« Wiederum schallendes Gelächter der Gruppe.
»O ja! Ja!!« Er nickte schnell, lächelte. »Wird ausgerichtet!«
»Oder ich werde böse auf sie!«
»Wie? Versteh kein Wort bei diesem Radau.« Dasselbe Hin und Her wie zuvor.
»Sag ihr, ich werd' bös' auf sie, wenn sie nicht schreibt!!« Langsam, Wort für Wort mit aller Lungenkraft herausgeschrien.
Ein Mann aus der Gruppe, der einer Frau, die vor unterdrücktem Lachen bebte, etwas listig Lustiges zugeflüstert hatte, wandte sich nun grinsend an den Abreisenden, um diesem etwas zuzurufen, wurde aber von der Frau zurückgehalten, die ihn am Arm packte und ein hysterisches »Nein! Nein!« jappste. Aber der grinsende Mann hielt die Hände an den Mund und brüllte:
»Sag Onkel Walter, er soll seine – –«
»Wie? Versteh nicht ...« Wie zuvor wandte der Abreisende den Kopf seitwärts und hielt die Hand ans Ohr.
»Sag Onkel Walter – –« begann der andre langsamer und lauter.
»Nein! Nein! Nein! Psst!« jappste die Frau empört und zog ihn am Arm.
»– – er soll seine wollenen – –«
»Nein! Nein! Nein! Heinrich! Psst!« quietschte die Frau.
»– – die dicken, in die ihm Tante Bertha seine Anfangsbuchstaben gestickt hat!« fuhr der Mann unentwegt fort.
Die Männer aus der Gruppe brüllten, die Frauen aber kreischten vor Lachen und quietschten: »Aber nein! Nein!« und zischten laut: »Psst! Psst!«
»Ja! Wird bestimmt ausgerichtet!« rief der grinsende Fahrgast zurück, sobald sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte. »Aber vielleicht hat er sie nicht mehr!« brüllte er, beglückt über den Einfall, nachträglich hinterdrein. »Vielleicht hat ein Fräulein dort ihm sie – – –« Das Lachen erstickte ihm die Stimme, er rang nach Luft.
»Otto!« kreischten die Frauen. »Psst!«
»– weggenommen!« keuchte der Fahrgast lachend.
»O-o-o-otto! ... Schäm Dich! Psst!« kam es von den Frauen.
»Souvenir an München!« brüllte nun der Witzbold auf dem Bahnsteig dem Abreisenden zu, und die ganze Gruppe wurde wieder vom Lachen geschüttelt.
Als das Gelächter ein wenig nachließ, begann ein andrer Mann, schwerschnaufend, sich die tränenden Augen wischend, zu stammeln:
»Sag Else – –« Die Stimme blieb ihm aus, er quiekte leis und wischte sich wieder die strömenden Augen.
»Was denn?« rief der Fahrgast zurück.
»Sag Else, daß Tante Bertha – –« begann der Mann mit starker Stimme und stöhnte dann: »Ach Gott!«, als ihm die Luft abermals ausblieb. Das Lachen schüttelte ihn so, daß er nicht weitersprechen konnte. Er wischte sich die Augen und brachte kein Wort hervor.
»Was denn? Ei was denn? Was soll ich Else denn sagen?« rief der grinsende Fahrgast und legte die hohle Hand ans Ohr.
»Sag Else, daß Tante Bertha ihr das Rezept für Schwarzwäldertorte schickt!« kreischte der Mann nun, ganz so, als gälte es, die Bemerkung unbedingt noch herauszubringen, ehe er vom Lachen bezwungen, ohnmächtig zusammenbräche. Die Wirkung, die diese scheinbar bedeutungslose Erwähnung von Tante Berthas Schwarzwäldertorte hervorbrachte, war erstaunlich. Keine der vorhergegangnen Bemerkungen hatte eine so heftig krampfhafte Heiterkeit bei diesem kleinen Freundeskreis ausgelöst. Es war einfach so, als müßten sich diese Leute lahm und krank lachen, es war, als wäre die Fallsucht mit Lachschaudern in sie gefahren. Sie taumelten wie Betrunkne, hielten sich aneinander fest, um nicht umzusinken, lachten Tränen, die ihnen in wahren Strömen aus den geschwollnen Augen quollen, und aus ihren aufgesperrten Mündern kamen gelegentlich matte, halberstickte Keuch-, Japp- und Röchellaute, die Frauen quietschten und schnappten nach Luft, – es war ein allgemeiner Heiterkeitskrampf, der endlich in ein allgemeines hilfloses Schlucksern überging.
Jemand, der diesem Freundeskreis nicht angehörte, hätte zwar unmöglich schließen können, was es eigentlich mit diesem erwähnten Tortenrezept auf sich hatte, aber trotzdem wirkte das Gelächter der Gruppe ansteckend auf die Umstehenden, die nun ebenfalls grinsten oder lachten oder einander, erheitert die Köpfe schüttelnd, ansahen. Und allenthalben auf dem Bahnsteig war Leben, standen Leute, die gesetzt, heiter, traurig, ernst, jung, alt, gleichmütig oder erregt waren, Leute, die in Geschäften reisten und Leute, die zum Vergnügen fortfuhren, Leute, die mit jedem Wort, jeder Gebärde verrieten, daß das Reisen sie freudig bewegte und Hoffnungen in ihnen weckte, und Leute, die angemüdet und gleichgültig dreinblickten, es sich auf ihren Plätzen bequem machten und kein weiteres Interesse an den Ereignissen der Abfahrt nahmen. Das ist überall so. Die Menschen sprachen die Weltsprache des Abschieds, – jene Sprache, die oft aus Gemeinplätzen besteht, nichtssagend ist und keinen Sinn hat, einen aber so eigenartig ergreift, weil sie dazu herhält, tiefere Regungen des Menschenherzens zu verbergen, die innere Leere, die beim Gedanken des Scheidens aufkommt, auszufüllen, weil sie zum Schild dient oder als Maske, die das wahre Empfinden verhehlt.
Aus diesem Grunde ward die Zeremonie des Abschieds für den jungen Mann, – den ortsfremden, hergereisten Ausländer, – zu einem erregenden und eindringlichen Erlebnis. Was er sah, war vertrautes Gebaren, was er hörte, vertrautes Wort, – Gebaren, wie er es sein Lebtag zu Haus an Menschen beobachtet hatte, Wort, das hinter der Maske der Fremdsprache dem Wort gleichkam, das er von Kind auf kannte, – und so empfand er plötzlich wie nie zuvor das Alleinsein vor Vertrautem, und spürte jene Wesensgleichheit, die alle Völker der Welt so eigenartig einigt und im Daseinsgefüge wurzelt mit Wurzeln, die tiefer hinabreichen als die der Sprache, die einer spricht, der Rasse, der einer angehört.
Die schöne Frau und der vom Tod gezeichnete Mann standen umschlungen, sie blickten sich mit seltsam verzehrender Zärtlichkeit an, und nun, in der Minute des Abschieds, sprachen sie nichts. Sie umarmten sich, ihre Arme umfingen ihn, ihr lebensvoller, wollüstiger Leib schmiegte sich eng an ihn an, ihre roten Lippen hingen an seinem Munde, als wolle sie ihn nie gehen lassen. Schließlich riß sie sich heftig von ihm los, schob ihn mit beiden Händen verzweifelt von sich fort und sagte: »Geh jetzt, geh! Höchste Zeit!«
Die Vogelscheuche wandte sich um und stieg schnell in den Wagen, ein vorbeikommender Beamter schmiß knallend die Tür zu, der Zug zockelte ab. Der Mann kam an ein Gangfenster, lehnte sich hinaus und blickte die Frau an, die neben dem Zug herging und den Mann, solang es ihr möglich war, im Auge behielt. Der Zug kam stärker in Fahrt, die Frau verlangsamte ihren Schritt, sie blieb stehn, Tränen traten ihr in die Augen, ihre Lippen murmelten etwas Unverständliches, und im letzten Augenblick rief sie laut: »Auf Wiedersehn!« und warf dem Mann eine Kußhand zu.
Der junge Ausländer, der ein Stück der Strecke mit dem gespenstischen Menschen zusammenreisen sollte, stand ebenfalls am Fenster. Er blickte am Zug entlang auf die hochgewölbte Stationshalle zu, ganz so, als sähe er den Leuten auf dem Bahnsteig nach, obschon er in Wirklichkeit nichts sah außer der holden, hohen Gestalt der Frau. Die Frau ging langsam, den Kopf gesenkt, mit einem langen, behutsamen Schritt von unvergleichlicher Anmut, wogender Üppigkeit. Einmal blieb sie stehn und blickte zurück, dann drehte sie sich um und ging weiter, langsam wie zuvor.
Plötzlich hielt sie inne. Aus der Menge auf dem Bahnsteig hatte sich ihr jemand genaht. Es war ein junger Mann. Die Frau blieb überrascht stehn, hob abweisend eine behandschuhte Hand und wollte weitergehn. Im nächsten Augenblick aber hielten die beiden sich heftig umschlungen und küßten sich leidenschaftlich.
Als der junge Ausländer seinen Platz im Abteil aufsuchte, war der vom Tod gezeichnete Mensch bereits vom Gang hereingekommen und hatte sich heiser atmend ins Polster fallen lassen. Nun sah er etwas beruhigter und weniger erschöpft aus. Der junge Mann blickte gespannt in das schnabelartige Gesicht mit den müden, geschlossenen Lidern und fragte sich, ob dieser Sterbende jene Begegnung auf dem Bahnsteig mitangesehn habe, und was ihm wohl das Wissen um diesen Vorfall bedeuten könne. Aber diese Totenmaske war rätselhaft und unerschließlich, und der junge Mensch fand nichts, was er lesen und deuten konnte. Ein mattes, seltsam lichtes Lächeln spielte um die Ecken des dünnlippigen Mundes. Dann schlug der Mann die tiefeingesunkenen Augen auf, und sein brennender Blick schien nun aus unsäglichen Tiefen auf etwas Fernes gerichtet. Eine kleine Weile später sagte er mit tiefer, zärtlicher Stimme – auf Englisch mit deutschem Akzent:
»Das war meine Frau. Nun im Winter muß ich allein fortfahren, denn so ist es am besten. Aber im Frühling, wenn's mir besser geht, kommt sie zu mir.«
Den ganzen Winternachmittag über brauste der Zug durch Bayern. Er kam schnell und mächtig in Fahrt, ließ die verstreut umherliegenden Außenposten der Stadt hinter sich und sauste über die Hochebne, auf der München liegt. Der Tag war grau unter einem undurchdringlich verhangenen Himmel, etwas schwer zwar, aber doch herb, scharf und kräftig von der freudigen Frische reiner, kalter Hochgebirgsluft. Nach einer Stunde schon hatte der Zug die alpine Landschaft erreicht, – da waren Berge und Täler und die Sensation vom unvermittelten Nahesein ragender Hochgebirgsketten, – und da war die dunkle Verwunschenheit der Wälder Deutschlands, jener Wälder, die etwas mehr bedeuten als baren Baumbestand, nämlich Bann, Zauber und Berückung, wie sie den Menschen (besonders aber Fremden, die diesem Land blutmäßig verbunden sind) zu Herzen dringen mit dunkler Musik und heimsucherischen Erinnerungen, die sich nie ganz einfangen lassen.
Es ist dies ein überwältigendes Gefühl unmittelbarer, nahe bevorstehender Entdeckung, etwa dem zu vergleichen, was ein Mann empfinden mag, wenn er zum erstenmal in die Heimat seines Vaters kommt. Es ist so, als kämen wir in das unbekannte Land, nach dem sich unsre Seele in der Jugend so leidenschaftlich sehnte, in das Bruderland und Ergänzungsland zu dem, das wir in der Kindheit erlebten. Und dies offenbart sich uns inständig im Augenblick, in dem wir das Land sehn, mit einer mächtigen Regung des vollkommenen Erkennens und Nichtglaubenkönnens in jener Traumwirklichkeit, die Gesichten und allen Bezauberungen eignet.
Was ist es, dies Wildheftige aus Lust und Weh, das uns die Herzen schwellt? Diese Erinnerung, die wir nicht in Sätzen ausdrücken können? Dieses augenblicklich-inständige Erkennen, für das uns Worte fehlen? Wir können es nicht sagen, haben keine Möglichkeit, es zu äußern, keinen ordentlichen Beweis, es zu belegen, und spöttischer Stolz kann uns abergläubischer Albernheit zeihen. Und doch: wir kennen das dunkle Land im ersten Augenblick der Ankunft, und obschon uns Zunge, Beweis und Äußerung fehlen, wir haben, was wir haben, wissen, was wir wissen, sind, was wir sind.
Und was sind wir? Wir sind die nackten Menschen, die verlornen Amerikaner. Ungeheure und einsame Himmel wölben sich über uns, und zehntausend Menschen gehn uns im Blut um. Wo kommt es her, dieses eigne Gefühl augenblicklicher Erkenntnis, traumhaft heimsucherischer, beinah eingefangner Erinnerung? Woher kommen sie, dieser ständige Hunger, diese reißende Gier und diese Musik, dunkel, feierlich und zaubrisch, die durch den Wald erschallt? Woher kommt es, daß dieser junge Amerikaner dieses Land beim ersten Anblick sofort gekannt hat?
Woher kam es, daß er seit seinem ersten Abend in einer deutschen Stadt die nie zuvor gehörte Sprache verstand, daß er selber sofort sprach und alles, was er zu sagen begehrte, in einer fremden Sprache, die er gar nicht sprechen konnte, sagte, – sich in einem wunderlichen Kauderwelsch, das weder seine Sprache, noch die Sprache des Landes war, ausdrückte, und zwar so, daß er sich dessen gar nicht bewußt wurde, so sehr vermochte er es augenblicklich aus dem Geist, nicht dem Wortstand der Sprache heraus zu reden, – und daß er auf diese Weise sofort von jedem, mit dem er sprach, verstanden wurde?
Nein, beweisen konnte er es nicht, und doch wußte er, diese selbstverständliche Bekanntschaft mit diesem Land und dem Volk seines Vaters war da und lag ihm tief im Blute. Er spürte die tragische und unauflösliche Beimischung der Rasse, er wußte um die furchtbare Verbindung von Bestie und Geist, er kannte die namenlose Angst vor dem alten barbarischen Wald, kannte den Kreis barbarischer Gestalten, deren düstre, geisterhafte Runde ihn einschloß, kannte dieses Gefühl des Ertrinkens im blinden Urwaldentsetzen barbarischer Zeit. Er trug das alles in sich selbst herum, die träge Freßsucht und Gier des unersättlichen Schweins sowohl, als auch die seltsame, mächtige Musik der Seele.
Er kannte den Haß und Abscheu vor der nimmersatten Bestie, der Bestie mit dem Schweinsgesicht und dem unstillbaren Durst, dem unaufhörlichen Hunger, der dicken, trägen, reißenden Hand, die mit glosend-unersättlicher Gier tappt. Und er haßte diese große Bestie mit dem Haß auf Hölle und Mord, weil er sie in sich selber spürte und wußte und selber das Opfer ihrer reißenden, unstillbaren, geilen Gierden war. Ströme trinkbaren Weins, ganze Ochsen, die am Bratspieß gedreht werden, und durch den düstern Wald, den brüllenden Wall aus riesigen Bestienleibern und barbarischen Lauten ringsum – das üppige Fleisch großer, blonder Weiber zu der rohen Orgie des allverschlingenden, nimmersatten Schoßschlunds, der Orgie, die nie endet und keinen Überdruß bringt, ... das alles war ihm ins Blut, in den Geist, ins Leben gemischt. Es war aus dem dunklen Zeitschauder des uralten Walds irgendwie auf ihn gekommen zusammen mit all dem, was magisch, glorreich, seltsam und schön war: – den heiseren Hornklängen, die leis und elfenhaft durch die Wälder hallen, der unendlich sonderbaren Versponnenheit und der drängerisch dichten Wandelbarkeit im Weben der altgermanischen Seele. Wie grausam, verworren, eigenartig und schmerzlich das Rätsel der Rasse war! Diese Kraft und Stärke des unverderblichen, hochfliegenden Geists, der aus der mächtigen, verderbten Bestie in so strahlender Reinheit aufstieg, und die Zaubergewalt großer Musik und edler Dichtung, so schmerzlich unabänderlich verwoben und durchzogen mit all dem blinden, rohen Hunger des Bauchs und der Bestie Mensch!
Das alles war sein eigen, das alles war in seinem eignen Wesen enthalten und konnte, das wußte er, ihm nie entnommen werden, so wenig wie einer aus seinem Leib und Leben das Blut seines Vaters, das uralte, unwandelbare Gewebe der dunklen Zeit heraussondern kann. Und aus diesem Grund spürte er nun, als er zum Zugfenster hinaus auf das einsame, verschneite Alpenland mit seinen dunklen, verwunschnen Wäldern hinausblickte, sofort das unbändige Gefühl vertrauten Wiedererkennens, und deswegen war ihm zumute, als hätte er diese Gegend schon immer gekannt und sei hier zu Hause. Und etwas Dunkles, Wildes, Jubelhaftes und Seltsames schwellte ihm im Gemüt und durchwallte ihn wie eine große, heimsucherische, wie in Träumen gehörte Musik.
Nun, nachdem eine freundliche Bekanntschaft angebahnt war, begann das Gespenst mit der unersättlichen, besitzerischen Neugier seiner Rasse, den Mitreisenden mit Fragen zu zwicken, Fragen, die sich auf das Leben, die Heimat, und die Europareise des jungen Amerikaners und auf den Grund zu dieser Europareise bezogen. Der junge Mensch antwortete bereitwillig, er empfand es nicht belästigend. Er war sich zwar bewußt, daß er mitleidslos ausgepumpt wurde, aber die spukhafte Flüsterstimme war so verführerisch, freundlich und liebenswürdig, die Art zu fragen so höflich, gütig und eingängig, das matte, angenehm resignierte Lächeln so licht und gewinnend, daß die Fragen sich schier von selber beantworteten.
Der junge Mann war Amerikaner, nicht wahr? Ja. Und wie lange schon in Europa? Zwei Monate? Ein Vierteljahr? Nein? Fast ein volles Jahr! So lange! Nun, dann gefiele ihm wohl Europa, ja? War dies seine erste Reise? Nein? Schon die vierte? Das Gespenst rückte ausdrücklich staunend die Augenbrauen hoch und lächelte das feine, zynisch-müde Lächeln, das die ganze Zeit um den dünnlippigen, sensitiven Mund spielte.
Schließlich war der junge Mann trocken gepumpt, das Gespenst wußte Bescheid, blickte ihn eine Weile matt-, licht-, spöttisch-fein und doch gütig-lächelnd an und sagte schließlich müd und geduldig mit jener ruhigen Endgültigkeit, die Lebenserfahrung und Todeswissen einem Menschen verleihen können:
»Sie sind sehr jung. Ja. Nun möchten Sie alles haben, alles sehen, ... und Sie haben nichts. Stimmt das, ja?« fragte der Mann und lächelte bestrickend. »Das wird sich alles ändern. Eines Tags werden Sie nur wenig begehren, aber dann werden Sie vielleicht auch ein wenig haben.« Wieder spielte das lichte, gewinnende Lächeln. »Und das ist besser. Glauben Sie nicht auch?« Er lächelte wieder und sagte müde: »Ich weiß, ich weiß. Ich bin überall hingefahren, ganz wie Sie, hab' alles haben wollen und hab' nichts gehabt. Nun geh' ich nirgends mehr hin. Es ist überall dasselbe«, sagte er müde, blickte zum Fenster hinaus und machte eine entlassende Gebärde mit der schmalen, weißen Hand. »Felder, Hügel, Berge, Flüsse, Städte, Menschen ... Sie möchten sie alle kennen. Ein Feld, ein Hügel, ein Fluß aber, das ist genug«, flüsterte er.
Er schloß auf eine kleine Weile die Augen. Als er wieder sprach, war es ein fast unhörbares Flüstern: »... Ein Leben, ein Ort, eine Zeit.«
Es wurde dunkel, in den Abteilen ging das Licht an. Und wieder drang das Wispern des schwindenden Lebens angelegentlich liebenswürdig zu dem jungen Mann mit einer unabweislichen Bitte. Der Schwerkranke fragte, ob es recht sei, wenn er das Licht lösche und sich, um auszuruhn, auf dem Polster ausstrecke. Der junge Mensch war bereitwillig einverstanden, er löschte sogar sehr gern das Licht. Sein eignes Reiseziel war nicht mehr weit, und draußen leuchtete der frühaufgegangne Mond mit seltsam strahlendem Zauberglanz auf Alpenwälder und Schnee, so daß ein Schein des geheimnisvollen Geisterlichts ins nun verdunkelte Abteil hereinfiel.
Das Gespenst hatte die Augen geschlossen und lag ruhig ausgestreckt auf dem Sitzpolster. Das ausgezehrte Gesicht, auf dem – hochrot nun – die Wangenflecken brannten, wirkte in diesem magischen Licht wie der Schnabel eines fremden, gräßlichen Riesenvogels. Der Mann rührte sich nicht und schien kaum zu atmen, und im Abteil war kein Laut zu vernehmen außer dem rhythmischen Räderstoß auf den Schienen, dem ledrigen Ächzen und Knirschen des Wagens und der ganzen fremdvertrauten Symphonie des fahrenden Zugs, jenem hohen, symphonischen Monoton, das der Laut der Stille und des Immerdar ist.
Vom Bann des magischen Lichts und der Zeit festgehalten, saß der junge Mensch eine Weile still da und blickte zum Fenster hinaus auf die verwunschne Schwarzweißwelt, die großartig und eigen im phantomischen Mondglast vorüberfegte. Schließlich aber stand er auf, trat, die Tür vorsichtig schließend, hinaus in den Korridor und ging durch die schmale Passage rückwärts, Wagen um Wagen, durch den schlingernden Zug, bis er in den Speisewagen kam.
Dort war alles Glanz, Bewegung, Luxus, Sinnenwärme und Heiterkeit, und das ganze Leben des Zugs schien sich nun auf diesen Raum konzentriert zu haben. Die Kellner, sicheren Fußes und gewandt, gingen flink hin und her auf dem Mittelgang des ruckelnden Wagens und brachten große Platten und Auftragbretter mit wohlzubereiteten Speisen an jeden Tisch. Hinter ihnen drein kam der ›Sommelier‹ und entkorkte hohe, beschlagne Rheinweinflaschen; er nahm die Flasche zwischen die Knie, zog an, und mit einem ergötzlichen Plopplaut kam der Korken heraus, den er dann in ein kleines Körbchen fallen ließ.
Eine verführerisch-schöne Frau speiste an einem Tische mit einem verlebt aussehenden, alten Mann. An einem andern saß stattlich und stämmig ein Deutscher – kahlgeschorner Kopf, Stehkragen mit Flügelecken, großes Schweinsgesicht mit einer edlen, einsamen Denkerstirn –, starrte mit einem konzentrierten Blick bestialischer Gefräßigkeit auf die Fleischplatte, von der ihm der Kellner vorlegte, und sagte, die Worte in der Kehle lautend, in einem gelüstigen Ton: »Ja! ... Gut! ... Und etwas von diesem hier auch! ...«
Das Bild, das sich hier bot, war ein Bild von Reichtum, Macht und Luxus und löste jene Empfindungen aus, die das Reisen auf erstklassigen europäischen Zügen auslöst, Empfindungen, die anders sind als jene, die man auf amerikanischen Zügen hat. In Amerika verspürt man im Zug ein Gefühl wilder und einsamer Freude, eine Sensation, die einen andringt aus der ungebändigten, uneingezäunten, unendlichen Wildnis, durch die der Zug dahinbraust, und dazu eine wortlose, nicht auszusagende Hoffnung, die in einem aufkommt bei dem Gedanken an die verzauberte Weltstadt, der man entgegeneilt, und an die ungekannten, fabelhaften Verheißungen des Lebens, das man dort finden wird. In Europa ist das Gefühl von Freude und Vergnügen wirklicher und stets gegenwärtig. Die luxuriösen Züge, die gediegen-vornehme Einrichtung, das tiefe Kastanienbraun und das Dunkelblau, die frischen, lebhaften Farben im Wageninnern, das gute Essen, der funkelnde, zu Kopf steigende Wein und das weltmännische, wohlhäbige, kosmopolitische Aussehen der Reisenden – das alles erfüllt einen mit mächtiger Sinnenfreude und dem Gefühl soeben wahrwerdender Erwartung. In ein paar Stunden fährt man von einem Land ins andre, durch Jahrhunderte der Geschichte, durch eine von Menschen beschwärmte Welt gedrängter Kultur und volkreicher Nationen, von einer namhaften, viel Vergnügen bietenden Stadt zur andern.
Und statt der wilden Freude und namenlosen Hoffnung, die man empfindet, wenn man in Amerika zum Zugfenster hinausblickt, empfindet man hier in Europa eine unglaubliche Freude am Verwirklichten, eine unmittelbare Befriedigung der Sinne, ein Gefühl, so, als gäbe es auf Erden nichts außer Wohlstand, Macht, Luxus und Liebe, – ein Leben, das man mit all seinen unendlich abwechslungsvollen Vergnügungen immer leben und genießen könnte.
Als der junge Mann fertig gespeist und seine Rechnung beglichen hatte, ging er einen Korridor nach dem andern die ganze Länge durch den schlingernden Zug zu seinem Wagen zurück. Als er in sein Abteil eintrat, sah er die Spukgestalt ganz wie zuvor auf dem Polster ausgestreckt daliegen, und das schimmernde Mondlicht schien noch immer auf das große Schnabelgesicht.
Zwar lag der Mann um keinen Zoll anders da, aber dem jungen Menschen wurde sofort bewußt, daß hier eine feine, verhängnisvolle, ihm unerklärliche Verwandlung vorgegangen war. Was war es? Der junge Mensch nahm seinen Platz gegenüber wieder ein und musterte prüfenden Blicks die stille, gespenstische Erscheinung. Atmete der Mann nicht? Der junge Mensch glaubte, er sähe, wie die ausgezehrte Brust sich im Atemgang hob und senkte, er war beinah gewiß, aber ganz gewiß war er nicht. Was er aber deutlich sah, war eine hochrote, im Mondlicht dunkel abgeschattete Laufspur aus einer Ecke des festgeschlossnen Munds und einen großen, roten Flecken auf dem Fußboden.
Was sollte er tun? Was überhaupt ließ sich da tun? Das Geisterlicht des fatalen Monds schiene seine Seele dunkel eingetaucht zu haben in eine Verhextheit, in den Bann einer maßlosen, stumpfen Ruhe. Zudem verlangsamte der Zug bereits seine Fahrgeschwindigkeit, die ersten Lichter der Stadt erschienen, der junge Mann war am Ziel seiner Reise.
Und nun bremste der Zug. Draußen blitzten Schienen, grellten scharf in der Dunkelheit kleine, helle, harte Signallichter, grün, gelb und rot, und auf Nebengeleisen standen die Wagenreihen kleiner Güterzüge und verdunkelter Personenzüge, leer, unerleuchtet und in sonderbarer Bereitschaft des Lebens gewärtig, dem sie vor kurzem noch gedient hatten.
Dann begannen die langen Bahnsteige langsam unterm Fenster in Sicht zu gleiten, stämmige Gepäckträger, wie Ziegenböcke aussehend, kamen gesprungen, grüßten begierig, riefen, sprachen mit Leuten im Zug, die sich bereits anschickten, ihnen Koffer durchs Fenster herauszureichen.
Der junge Mann nahm leis Mantel und Handtasche aus dem Gepäcknetz und trat hinaus in den engen Gang. Ruhig schloß er die Schiebetür des Abteils hinter sich. Dann, auf einen Augenblick noch, noch immer ungewiß, blieb er stehen und blickte zurück. Im Halbdunkel auf dem Polster lag die spukhafte Leichengestalt und rührte sich nicht.
War es am Ende nicht wohlgetan, alles so im Stillschweigen zu belassen, wie er es vorgefunden hatte? Mochte es nicht so sein, daß es in diesem großen Traum von der Zeit, in dem wir leben und dessen bewegende Gestalten wir selber sind, wohlgetan ist, wenn wir, nachdem wir uns getroffen, miteinander gesprochen und einander eine kleine Weile gekannt haben, während wir irgendwo auf dieser Erde zwischen zwei Zeitpunkten durchs Dunkel vorwärtsgeschleudert wurden, uns damit zufrieden geben, so voneinander zu scheiden, wie wir uns trafen, und jeden seinem gesetzten Ziel entgegengehen lassen – nur dieser einen Sache gewiß, nur dieser einen Sache bedürftig, daß dort für uns alle Stillschweigen sein wird, nur Stillschweigen, nichts als Stillschweigen am Ende?
Der Zug stand. Der junge Mensch ging durch den Korridor zum Ende des Wagens, und einen Augenblick später, erschreckt und erfrischt von der Kälte, die lebhafte, schneekühle Luft einatmend, schritt er den Bahnsteig hinunter, einer unter hundert andern Leuten, die alle in gleicher Richtung gingen, die einen auf eine Gewißheit und ein Heim zu, die andren einem Neuland entgegen, der Hoffnung und dem Hunger, den schwallhaften Freudenahnungen und den Verheißungen einer strahlenden Stadt. Er wußte, daß er wieder heimkehren würde.