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Nur die Toten kennen Brooklyn

Der Mensch lebt nicht, der Brooklyn durch und durch kennt, denn man braucht 'n ganzes Leben, um in der verflixten Stadt Bescheid zu wissen.

Das behaupte ich, ich warte auf meine Stadtbahn, da steht da so ein Großer, und da ist überhaupt das erstemal, daß ich ihn zu Gesicht kriege. Nun, verstehn Se, wild sieht er schon aus; ich merke, daß er tüchtig geladen hat, aber was vertragen kann; er spricht noch ordentlich und beim Gehn hält er sich gerade genug. Dieser Große geht auf so 'nen Kleinen zu, der auch da steht, und fragt: »Wie fährt man nach Eighteenth Avenue and Sixty-seventh Street?« Das fragt er.

»Herrje! Da ham Se mich erwischt, Chef«, sagt der Kleine. »Ich bin selber noch nicht lang hier. Wo soll's denn sein? Draußen in Flatbush?« fragt der Kleine.

»Nöh«, sagt der Große. »Draußen in Bensonhurst. Bin nie dort gewesen. Wie fährt man hin?«

»Herrje!« sagt der Kleine und kratzt sich am Kopf. Verstehn Se, man konnte merken, daß er keinen Bescheid wußte. »Da ham Se mich erwischt, Chef«, sagt er. »Ich hab' nie davon gehört. Weiß es vielleicht jemand von Ihnen?« sagt er zu mir.

»Sicher«, sag' ich. »Es ist draußen in Bensonhurst. Sie nehmen den Fourth Avenue Express zur Fifty-ninth Street, steigen dort in den Sea Bach Local um, fahren zur Eighteenth Avenue and Sixty-third Street und gehn dann die vier Blocks zu Fuß 'runter. Das ist alles«, sag' ich.

»Gehn Se fort!« piepst da einer 'rein, den ich nie gesehn habe. So'n Siebengescheiter, verstehn Se. »Wovon reden Se denn da?« sagt er. »Sie sind ja irre! – Ich sag' Ihnen, wie Se fahren«, sagt er zu dem Großen. »An der Thirty-sixth Street steigen Se in die West End Line um«, erzählt er ihm, »fahren bis zur New Utrecht and Sixteenth Avenue, und dann gehn Se zwei Blocks 'rüber und vier Blocks 'rauf, und dann sin' Se da.« Na, verstehn Se, ein Siebengescheiter.

»Ei ja?« sag' ich. »Wer hat Ihnen denn das erzählt?« Der Kerl ärgerte mich, weil er so gescheit sein wollte. »Wie lang wohnen Se denn hier?« frag' ich.

»Schon immer«, sagt er. »Ich bin in Williamsburg geboren und kann Ihnen Sachen von dieser Stadt erzählen, von denen Se nie gehört hab'n«, sagt er.

»Ja?« sag' ich.

»Ja«, sagt er.

»Na, dann können Se Sachen von dieser Stadt erzählen, von denen auch sonst niemand gehört hat. Die denken Se sich wohl abends vorm Schlafengehn aus, so, wie man sich Papierpuppen oder sonst was ausschneidet«, sag' ich.

»O ja?« sagt er. »Sie sind wohl 'n ganz Kluger, was?«

»Ah, nicht daß ich wüßte«, sag' ich. »Bisher ham die Vögel meinen Kopf noch nich' mit'm Lincolndenkmal verwechselt! Aber 'n Quatschkasten kenn' ich schon, wenn ich einen vor mir sehe«, sag' ich.

»Ja?« sagt er. »'n ganz Kluger, was? Na, so klug sind Se, daß Ihnen Einer eines Tags in die Schnauze haut. So klug sin Se«, sagt er.

Na, mein Zug fuhr grad ein, sonst hätt' ich ihm da und dann eine gelangt, aber als ich meinen Zug kommen sah, sagte ich ihm bloß: »Schon recht, Sie Anfänger! Tut mir leid, daß ich mich Ihrer nicht annehmen kann. Aber ich werd' Se ja wiedersehn, und um Ihretwillen hoff ich, draußen auf dem Friedhof.« So. Und zu dem Großen, der die ganze Zeit dabeigestanden war, sag' ich: »Kommen Se mit!« Dann im Zug frag' ich ihn: »Wo woll'n Se denn genau hin draußen in Bensonhurst? Straße und Hausnummer mein' ich.« Ich fragte ihn das, verstehn Se, weil ich dachte, wenn er mir die Adresse sagt, kann ich ihm vielleicht aushelfen.

»Oh«, sagt er. »Ich will niemand aufsuchen. Ich kenne niemanden da draußen.«

»Warum fahr'n Se denn da 'raus?« frag' ich.

»Oh«, sagt er da, »ich möcht' mir Bensonhurst 'mal ansehn. Mir gefällt der Name, verstehn Se, Bensonhurst klingt so schön, und deswegen dacht' ich, ich fahr' mal 'raus und seh' mir's an.«

»Was woll'n Se mir aushändigen?« frag' ich. »Sie woll'n mich wohl zum Besten hab'n?« Verstehn Se, ich dachte, der Kerl will mich was weismachen.

»Nöh«, sagt er. »Ich sag' Ihnen die Wahrheit. Ich fahr' gern mal 'raus und seh' mir Orte mit so netten Namen an. Ich geh' überhaupt gern in alle möglichen Vorstädte«, sagt er.

»Aber«, sag' ich, »wie wußten Se denn, daß es so'n Ort gibt, wenn Se nie davon gehört haben?«

»Oh, ich hab' 'nen Plan«, sagt er.

»'nen Plan?« frag' ich.

»Sicher«, sagt er. »Ich hab' 'nen Plan, auf dem alle diese Orte draufstehn. Wenn ich so wo 'rausfahre, hab' ich ihn immer dabei.«

Und herrje! Da zieht er ihn auch schon aus der Tasche. Wahrhaftiger Gott! Er hat ihn wirklich, er hat die Wahrheit gesagt, er hat 'nen großen Plan von der ganzen verflixten Stadt, und all die verschiednen Stadtteile sind drauf, – Canarsie und East New York und Flatbush, Bensonhurst, South Brooklyn, die Heights, Bay Ridge, Greenpoint, – die ganze gottverdammte Anlage steht richtig auf dem Plan.

»Sin Se da schon viel 'rumgekommen?« frag' ich.

»Sicher«, sagt er. »Ziemlich viel. Grad gestern abend erst war ich drunten in Red Hook«, sagt er.

»Herrje! Red Hook!« sag' ich. »Was ham Se denn da gemacht?«

»Oh«, sagt er, »nich' viel. Bißchen 'rumgelaufen. War in 'n paar Kneipen und trank was. Aber die meiste Zeit bin ich einfach 'rumgelaufen.«

»Einfach 'rumgelaufen?« frag' ich.

»Sicher«, sagt er. »Mir die Sache angesehn, verstehn Se.«

»Wo sin' Se denn hingegangen?« erkundigte ich mich.

»Oh«, sagt er, »wie der Ort heißt, weiß ich nicht, aber den Weg konnte ich auf meinem Plan finden. Ich bin da über'n großes Feld gegangen, wo keine Häuser stehn, aber drüben konnte ich lauter hellerleuchtete Schiffe sehn. Da wurde verladen. So bin ich denn übers Feld auf die Schiffe zu gegangen«, sagt er.

»Sicher«, sag' ich. »Ich weiß, wo Sie waren. Sie war'n drunten am Erie Basin.«

»Ja«, sagt er, »das wird's wohl gewesen sein. Da wurden Schiffe verladen. Mit großen Lastaufzügen und Hebekranen. Und ein paar Schiffe lagen im Trockendock. Alles war hellerleuchtet, und so bin ich eben hingegangen«, sagt er.

»Und was ham Se dann gemacht?« frag' ich.

»Oh, nicht viel«, sagt er. »Ich ging nach einiger Zeit wieder übers Feld zurück und war dann in 'n paar Kneipen und trank was.«

»Und ist dort nichts losgewesen?« frag' ich.

»Nöh, nich' viel«, sagt er. »In einer Kneipe waren ein paar Kerle besoffen und wollten Krach anfangen. Wurden aber 'rausgeschmissen. Einer von den Besoffnen wollte dann wieder 'reinkommen, aber der Bartender holte seinen Baseballschläger unterm Schanktisch hervor, und da hat sich der Kerl verdrückt«, sagt er.

»Herrje!« sag' ich. »Red Hook!«

»Sicher«, sagt er. »Stimmt schon, da war's.«

»Na, dort gehn Se besser nicht wieder hin«, sag' ich. »Besser nicht wieder.«

»Warum?« fragt er. »Was soll denn dort unrecht sein?«

»Ei«, sag' ich, »das is' eben so'n schöner Platz, wo man besser nicht hingeht. So'n schöner Platz, wo man besser wegbleibt. Das ist alles.«

»Warum?« fragt er. »Warum denn?«

Herrje! Was soll man mit 'nem Menschen anfangen, der so blöde ist? Ich merkte, daß es zwecklos war, ihm was zu erklären. Er hätt's ja doch nicht eingesehn. Und so sag' ich ihm bloß: »Man kann dort verlorengehn, das ist alles.«

»Verloren?« fragt er. »Nöh, ich würde nicht verlorengehn. Ich hab' doch den Plan dabei.«

Den Plan! In Red Hook! Herrje!

Dann fängt also der Kerl an und fragt mich alle möglichen verschrobnen Fragen, –: wie groß Brooklyn wäre, und ob ich dort überall Bescheid wüßte, und wie lange man wohl brauchte, um sich in der Stadt auszukeimen.

»Hör'n Se mal!« sag' ich. »Den Gedanken schlagen Se sich gleich aus'm Kopf! Brooklyn werden Se nie richtig kennenlernen. In hundert Jahren nicht! Ich hab' mein ganzes Leben hier gelebt und kenn' noch nicht alles, was es hier gibt, und wie wollen Sie dann die Stadt durch und durch kennen, nachdem Se nich' mal hier wohnen.«

»Ja«, sagt er. »Aber ich hab doch den Plan. Dann ist's doch leichter.«

»Plan oder keinen Plan«, sag' ich. »Brooklyn können Se mit keinem Plan kennenlernen.«

»Können Se schwimmen?« fragt er mich da. Einfach so. Herrje! Mittlerweile, verstehn Se, hart' ich ja eingesehn, daß der Kerl irgendwie verschroben war. Freilich, er hatte tüchtig geladen, aber er hatte so 'nen irren Blick in den Augen, der mir nich' gefiel. Also: »Können Se schwimmen?« fragt er.

»Sicher«, sag' ich. »Sie nicht?«

»Nöh«, sagt er. »Höchstens ein paar Stöße. Hab's nie richtig gelernt.«

»Na«, sag' ich. »Das ist doch leicht. Alles, was man dazu braucht, ist ein bißchen Selbstvertrauen. Ich hab's mit acht Jahren gelernt, als mich eines Tags mein älterer Bruder vom Dock runter ins Wasser stieß. ›Jetz schwimmste!‹ hat er gesagt. Ich hatte Kleider un' alles an. ›Jetz schwimmste oder Du ersäufst!‹ hat er gesagt. Und glaub'n Se mir! Ich schwamm! Wenn man weiß, daß man muß, kann man. Alles, was man dazu braucht, ist 'n bißchen Selbstvertraun. Und wenn man's erst mal gelernt hat, braucht man sich weiter keine Gedanken drum zu machen. Man verlernt's nie. Das ist so was, was einem einfach lebenslänglich bleibt«, sag' ich.

»Können Se gut schwimmen?« fragt er.

»Wie'n Fisch!« erzähl ich ihm. »Regelrecht wie'n Fisch im Wasser. Hab's an den Docks dort gelernt mit all den andern kleinen Jungen.«

»Was täten Se eigentlich, wenn Sie sähen, daß 'n Mensch ertrinkt?« fragt mich der Kerl.

»Was ich täte? Ei! Reinspringen und ihn 'rausziehn«, sag ich. »Das tät ich.«

»Ham Se mal 'n Menschen ertrinken sehn?« fragt er.

»Sicher«, sag ich. »Zweimal. Beide Male in Coney Island. Die Kerle hatten sich zu weit 'rausgewagt und konnten nicht gut genug schwimmen. So ertranken sie, eh ihnen noch jemand zu Hilfe kommen konnte.«

»Was wird aus den Leuten, die hier draußen ertrunken sind?« fragt er.

»Wo ertrunken?« frag ich.

»Hier draußen in Brooklyn.«

»Ich weiß nich', was Sie da meinen«, sag ich. »Ich hab noch nie von jemand gehört, der hier in Brooklyn ertrunken sein soll. Höchstens in 'nem Schwimmbecken. Man kann doch nicht in Brooklyn ertrinken«, sag ich. »Ertrinken kann man doch bloß, wo Wasser ist, im Ozean.«

»Ertrinken«, sagt der Kerl und starrt seinen Plan an. »Ertrinken«, sagt er. Da merkte ich, daß er wirklich irgendwie verrückt war. Er hatte so 'nen irren Ausdruck in den Augen, wenn er einen ansah. Und man kann doch nie wissen, wessen so ein Mensch fähig ist. Und so, als der Zug hielt, stieg ich aus, obschon 's nicht meine Station war, und wartete auf den nächsten Zug.

»Also: wiederschaun, Chef!« sag ich. »Nehmen Se's nich' so ernst!«

»Ertrinken«, sagt er. »Ertrinken.« Und starrt seinen Plan an.

Herrje! Seit der Zeit hab ich tausendmal an den Kerl gedacht und mich gefragt, was mit ihm los war. Fährt nach Bensonhurst 'raus, weil ihm der Name gefällt! Läuft nachts in Red Hook 'rum und guckt auf seinem Plan nach! Fragt mich, wieviele Leute ich hier draußen in Brooklyn ertrinken sah! Und wie lang einer braucht, bis er alles weiß, was man von Brooklyn wissen kann!

Herrje! Der hatte 'nen Sparren! Und trotzdem, ich frag mich, wie's ihm ergangen sein mag. Ob ihm einer den Hirnkasten eingeschlagen hat, oder ob er noch immer mitten in der Nacht mit seinem Stadtplänchen 'rumläuft. Der arme Kerl! Und obendrein, sag ich Ihnen, muß ich lachen, wenn ich an ihn denk. Vielleicht hat er mittlerweile 'rausgefunden, daß er sicher nicht lang genug leben wird, um ganz Brooklyn zu kennen. Um Brooklyn durch und durch zu kennen, braucht man 'n ganzes Leben. Und selbst dann kennt man noch nicht alles.


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