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Die vier verlornen Männer

Plötzlich, im grünen Herzen des Juni, hörte ich meines Vaters Stimme wieder. In jenem Jahr war ich sechzehn, ich ging schon auf die Universität und war die Woche zuvor zum erstenmal in Ferien heimgekehrt, und der hohe Schauer und die Drohung des Kriegs, in den wir Amerikaner vor zwei Monaten eingetreten waren, hatten unsre Herzen erfüllt. Und Krieg schenkt den Menschen Leben sowohl, als auch Tod. Er erfüllt die Herzen junger Männer mit Jubel und wildem Gesang, er macht, daß ihnen in großsterniger Nacht all ihr Schmerz und all ihre Lust zu unbändigem Schreien die Kehlen schwellt, er durchdringt sie mit wortloser Wahrsagung, nicht des Todes, sondern des Lebens, denn er spricht zu ihnen von neuen Landen, Siegesgepräng und Entdeckung, von heldischen Taten, dem Ruhm und der Kameradschaft der Helden und von der Liebe herrlicher, unbekannter Frauen, – von strahlendem Triumph und großem Erfolg in einer heldischen Welt, von einem Leben, das schicksalsschöner und glückseliger ist, als sie es gekannt haben.

Jenes Jahr ging's uns allen so. Schwebend über der unermeßlichen, brütenden Erde hing mit stetem Pochen, stetem Gelöbnis der Krieg. Man spürte ihn in den kleinen Städten im Morgengrauen, in den ruhigen, beiläufigen, äußerst vertrauten Ereignissen des beginnenden Lebens; spürte, daß er in den Zeitungsjungen gefahren war, der geschickt das zum leichten Block gefaltete Morgenblatt auf die Vorveranda schleuderte, spürte ihn im Gebaren des Manns, der in Hemdsärmeln auf die Veranda heraustrat und sich nach der Zeitung bückte, spürte ihn im langsamen Hufgeklapper des Milchgauls in der stillen Straße, im Rollen und Glasgeklirr des Milchwagens, im plötzlichen Halt, in den schnellen Schritten des Milchmanns und dem Geklinker der Flaschen, abermals im Hufgeklapper und Rädergerassel, dann in der Morgenstille und der Reinheit des Lichts und dem tausüßen Vogelsang, der in der Straße anhob.

In all diesen althergebrachten, ewigneuen, wandellosen, immer zaubrischen Ereignissen von Leben, Licht und Morgen spürte man die hehre Gegenwart und Nähe des Kriegs. Und man spürte ihn in der berückenden Mittagsstille, im Klingen der Eiszangen drunten auf der Straße, im kühlen Weinen der summenden Eissägen, die durch dampfende Stangenblöcke schnitten, spürte ihn in Laub, Halm und Blume, im Teergeruch, in der plötzlichen, heimsucherischen, grüngoldsommerlichen Abwesenheit eines Straßenbahnwagens, der davongefahren war.

Der Krieg war in alles eingedrungen. In den Dingen, die sich bewegen, war er und in den Dingen, die stillhalten, im lebendigen roten Schweigen einer alten Backsteinmauer sowohl, als auch im Gedräng und Fahrverkehr der Straße. Er war in den Gesichtern der Vorübergehenden und in zehntausend vertrauten Augenblicken aus dem tätigen Alltag der Menschen.

Und einsam, wild und geisterhaft, uns immerdar rufend mit fernem, verschollenem Hornsignal, war er in die zeitgebannte Einsamkeit der verwunschnen Berge, die uns umgaben, gedrungen und lag auf den Grünmassen der Wildnis und all den jähen, wilden, einsamen Lichtern, die dort kamen, vorüberhuschten und entschwanden.

Der Krieg war in fernen Rufen und zerschellten Lauten und im Klang der Kuhglocken, den ein Windstoß herwehte, war mit Weh und Lust im weithinhallenden, klagenden Pfiff eines Eisenbahnzugs, der abfuhr, ostwärts, meerwärts, kriegwärts, brauste durch ein Tal in den Südstaaten, das im Grünbann und Goldzauber des vollen Juni lag, war in den Häusern, in denen Menschen wohnten, im schnellen Aufflammen und Aufflackern der von innen abgeblendeten Fensterscheiben.

Und er war in den Feldern, den Schluchten und den Dällen, im süßen Grün der verdämmernden Täler, im uralten Abendrot auf den Hängen, im schrägeinfallenden letzten Licht, das schnell in die kühle Verschattung der Steilen, das dunkelviolette Schweigen an den Bergflanken, einging. Er war im ganzen erhabnen Geheimnis der Erde, die nach dem staubaufwirbelnden Tumult des Tages mit einer so unsterblichen Stille sich der Leisheit, der Freude und dem Kummer der kommenden Nacht hingeben konnte.

 

Der Krieg war in alle Laute und Geheimnisse gedrungen, in das Leid, die Sehnsucht und die Lust, in die Heimlichkeit und Verschwiegenheit, den Hunger und die wilde Freude, die aus dem Herzen der hochbrüstigen, duftigen, allumarmenden Nacht drangen. Er war im traulich süßen Rauschen des Laubs der sommerlichen Alleen, im Hall von Tritten, wenn jemand ruhig, langsam und allein die dunkle, baumbestandne Straße entlang kam, im Klang der zugeschlagnen Fliegendrahttür an einer Küche, im Schweigen, im Gebell eines Hunds, im gedämpften Lärm und fernen Gelächter einer Gesellschaft, in einer leisen, pochenden Tanzmusik und in all den beiläufigen und zufälligen Nachtstimmen, den fernen und seltsam nahen und höchstvertrauten und durchaus bekannten Stimmen der Nacht.

Und plötzlich, als ich so dasaß, berückt vom stolzen und rätselhaften Geheimnis der erhaben besternten, sammetbrüstigen Nacht und von der Vorveranda des Hauses meines Vaters mächtige Stimme wieder dröhnen hörte, da spürte ich den Krieg mit einer wilden, unerträglichen Einsamkeit aus Verzückung und Verlangen im jähen Pochen eines anlaufenden Kraftwagenmotors, in einem Vorstellungsbild von kühler, süßer Dunkelheit auf dem Berghang und weißem Fleisch zärtlich sich hingebender Frauen. Und gerade als ich daran dachte, hörte ich das üppig-sinnliche Strudeln einer Frauenstimme, wollüstig, leis und zärtlich, von einer dunklen Veranda auf der andern Seite der Straße.

Was hatte der Krieg verwandelt, was uns angetan, welches Wunder der Umformung an uns vollbracht? Verwandelt hatte er nichts; er hatte das ganze altvertraute Dasein erhöht, hatte es heftiger, hatte es herrlich gemacht, hatte Hoffnung zu Hoffnung gebracht, Freude zu Freude gespendet, Leben zu Leben gegeben, er hatte uns mit einem Zauberstab berührt und geweckt und uns so aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung errettet und gemacht, daß wir, die wir uns für verloren gehalten hatten, wieder lebten.

Es war so, als hätte der Krieg die tausend stummverhaltnen Wahrbilder von Freude, Kraft und Überschwang in uns zu einem einzigen Wahrbild von Freude, Kraft und stolzgesammelter Macht verdichtet, und so, als könnten wir übers Gefild der schweigsam geheimnisvollen Nacht den Marschtritt der Nationen hören, als hörten wir wie leisen Donner die millionenfüßige Einheit marschierender Heere, – und jenes einzige Bild von allgesammelter Freude, Einheit und Macht hatte uns allen neues Leben, neue Hoffnung geschenkt.

Mein Vater war alt und schwerkrank am Krebs; das schlimme Gewächs wucherte ständig in seinen Eingeweiden und zehrte die zähe Faser seines Lebens täglich mehr aus, und es gab keine Hoffnung und keine Heilung für ihn, und wir wußten, daß er vom Tod gezeichnet war. Und doch: unterm Zauberbann des Krieges schien auch sein Leben wieder herausgetreten zu sein aus dem Bezirk, wo Gram und Schmerz wohnen, wo alle Freude tot ist und nur der Kummer unwiderruflichen Gedenkens weilt, und eine Zeitlang schien es uns, als stünde er wieder in der Blüte seiner Jahre, und wir waren sofort erlöst vom finstern Todesschrecken, der über seinem Haupte geschwebt, vom Albdruck des Entsetzens, das uns seit Jahren gedroht hatte, sofort freigesprochen von der Furchtbarkeit seines Todes-im-Leben, der grauenhafter war, als es sein tatsächlicher Tod hätte sein können, und sofort war auch mit dem jähen Wiederaufflackern des Lebens und der Freude unterm zaubrischen Einfluß des Kriegs das gute Leben, das uns mein Vater kraft seiner Daseinsfülle bereitet hatte, in allen Farben prangend und sieghaft prächtig wiedergekommen, jenes goldne, jubelnde Leben der Kindheit, das wir für so unwiderbringlich verloren gehalten hatten, daß es uns beim Drandenken traumhaft fremd vorgekommen war. Und daher glaubten wir eine Zeitlang, daß für uns alle alles wieder so werden würde, wie es gewesen war, daß mein Vater nicht sterben könne, sondern aufimmerdar leben würde, und daß Sommerzeit, Obsthag und Morgenhelle uns unsterblich zu eigen sein sollten.

Und nun konnte ich meinen Vater hören. Ich hörte ihn von früheren Kriegen und den Unruhen von einst sprechen, hörte, wie er die Gegenwart und ihre Führer anklagte und restlos verdammte mit seiner Rede, die gewaltig, schwungvoll, heulend, auf- und abwogend, breit dahinströmend war und bis in die letzten Winkel der Dunkelheit schallte mit jener unverhüllten Eindringlichkeit, die seine Stimme in den alten Tagen gehabt hatte, wenn er im Sommerdunkel auf der Terrasse vor seinem Haus saß und redete, während ihm die ganze Nachbarschaft zuhörte und still war.

Nun, als mein Vater redete, konnte ich feststellen, daß ihm die Boardinghouse-Gäste auf der Vorveranda auf die gleiche Weise zuhörten: – dann und wann das verstohlne Knarren eines Schaukelstuhls, ein leise eingeworfnes Wort der Frage, des Protests, der Zustimmung und dann wieder die hungrige, gefräßige Stille und Aufmerksamkeit, wenn mein Vater sprach. Er sprach von dem, was er an Krieg und Unruhe im Lande erlebt hatte, erzählte wie er, »ein barfüßiger Farmerbub«, an einer staubigen Landstraße zwölf Meilen von Gettysburg gestanden war und gesehen hatte, wie die zerlumpten Truppen der Aufständischen vorübermarschierten in die Schlacht, in den Tod, dem Schiffbruch ihrer Hoffnungen entgegen.

Er sprach von dem leisen, unheilkündenden Beben des Geschützdonners durch die heiße, brütende Stille, die über der Landschaft lag, erzählte, wie Stummheit, Verwunderung und unausgesprochne Fragen die Herzen aller Leute erfüllten, und daß die Farmer ganz wie jeden Tag aufs Feld zur Arbeit gingen. Er sprach von den Nachkriegsjahren, erzählte, daß er damals in Baltimore als Lehrling und Gesell bei einem Steinmetzen gelernt und gearbeitet hatte, erzählte von alten Freuden und Plagen, vergeßnen Vorfällen und geschichtlich bewahrten Ereignissen, und dann sprach er mit der Vertrautheit der Erinnerung von den verlornen Amerikanern, – den fremden, verlornen, zeitfernen, toten Amerikanern, von den entrückten, stummen, bärtigen Gesichtern jener großen Amerikaner, die für mich verlorner waren als Altägypten, ferner als die Küsten der Tatarei, heimsucherisch fremder als Cipango oder die verlornen Antlitze jener Könige aus der Ersten Dynastie, die die Pyramiden bauten, – den verlornen Amerikanern, die er gesehn, gehört, gekannt und deren Wesen er als selbstverständlich empfunden hatte, als sein Puls noch voll und leidenschaftlich pochte in der stolzen Herrlichkeit seiner Jugend, – von den verlornen, zeitfernen, stummen Gesichtern der Buchanan, Johnson, Douglas, Blaine, – von den stolzen, leeren, zeitfremden, bärtigen Gesichtern der Garfield, Arthur, Harrison und Hayes.

 

»Herrgott!« sagte mein Vater. »Herrgott!« Seine Stimme schallte in der Dunkelheit wie ein Gong. »Herrgott! Ich hab' sie alle gekannt, die Präsidenten, von James Buchanan an, denn ich war sechs im Jahr seiner Amtsübernahme.« Er machte eine kurze Pause, schwang heftig nach vorn im Schaukelstuhl und spuckte säuberlich einen Kautabakspritzer über das Terrassengeländer in die lehmige Erde, den nachtsüßen Duft des Geranienbeets. »Ja, ja«, sagte er nachdrücklich-gewichtig und schaukelte wieder nach rückwärts, während die aufmerksam-hungrigen Boardinghouse-Gäste stumm in der lebendigen Dunkelheit warteten, »ich entsinne mich an sie alle seit Buchanan, und die meisten, die nach Lincoln kamen, hab ich selber gesehn. Herrgott!« Er hielt einen Augenblick inne und schüttelte sein ernstes Haupt traurig in die Dunkelheit. »Wie gut denkt mir der Tag«, fuhr er fort, »als ich auf einer Straße in Baltimore stand, – armer Waisenknabe, der ich war ...«, flocht er kummervoll ein, eine Behauptung, die nicht völlig den Tatsachen entsprach, denn seine Mutter, meine Großmutter, war zu jener Zeit noch am Leben gewesen, hatte sich auf ihrer kleinen Farm in Pennsylvanien der besten Gesundheit erfreut, und so war es nachher noch fast volle fünfzig Jahre geblieben, »... armer Waisenknabe, der ich war, ein Farmerbub von sechzehn Jahren, ohne Mittel, allein und ohne Freund in der großen Stadt, in die ich als Lehrling gekommen war, um mein Handwerk zu lernen, – und Andrew Jackson hörte, den damaligen Präsidenten unsrer großen Nation, als er von einem Pferdefuhrwerk herunter sprach und so besoffen war, ... ja, so besoffen«, heulte mein Vater, »so besoffen, er, der Präsident dieser Staaten, daß an jeder Seite von ihm ein Mann stehen mußte, um ihn festzuhalten, als er seine Rede hielt, denn sonst wäre er kopfüber in die Gosse gestürzt!« Hier hielt mein Vater inne, leckte kurz seinen großen Daumen, räusperte sich mit beträchtlicher Befriedigung, schwang sich wieder heftig nach vorn in seinem Schaukelstuhl und spuckte kräftig ein helles Kautabakklümpchen in das dunkle, duftige, lehmige Geranienbeet.

»Als ich zum erstenmal bei einer Präsidentschaftswahl mitwählte«, fuhr mein Vater fort und schwang sich mit einem Ruck nach rückwärts, »da gab ich – es war 1872 in Baltimore – meine Stimme ab für Ulysses S. Grant, jenen großen Mann, jenen tapferen Soldaten. Und seitdem hab ich bei jedem Wahlgang für den Kandidaten der Republikanischen Partei gestimmt. Ich stimmte im Jahre 1876 für Rutherford Hayes aus Ohio, ... damals, wie Sie wohl wissen, war die große Hayes-Tilden-Kontroverse ... dann im Jahre 1880 für James Abram Garfield, diesen großen, guten Mann«, erklärte mein Vater leidenschaftlich, »der ruchlos von feiger Mörderhand gemeuchelt ward.« Er hielt inne, leckte seinen Daumen, schnaufte schwer, schaukelte mit einem Ruck nach vorn und spuckte. »Im Jahre 1884 stimmte ich für James G. Blaine, ... Grover Cleveland, schlug ihn ...« erläuterte er bündig, »und 1892 für Benjamin Harrison, in jenem Wahlgang, in dem Grover Cleveland zum zweitenmal gewählt wurde, und an diese Zeit werden wir alle, die wir sie erlebt haben, bis zu unserm Todestage denken«, erklärte mein Vater grimmig, »denn die Demokratische Partei war am Ruder und wir hatten Suppenküchen, ... und denken Sie an meine Worte«, heulte er, »es wird wieder so weit kommen, daß die brotlosen Scharen von der öffentlichen Hand gespeist werden müssen, und daß Ihnen der leere Magen um die Wirbelknochen schlappert wie ein Sack um einen Stecken, ... so sicher wie ein Gott im Himmel ist, es wird wieder so weit kommen, ehe die vier gegenwärtigen Verwaltungsjahre herum sind und dieses fürchterliche, dieses entsetzliche, dieses grausame, unmenschliche und blutdürstige Ungeheuer, das – –«, mein Vater sagte es im bissigsten Hohn, »– – unsren Eintritt in den Weltkrieg verhindert hat, sein Spiel mit Ihnen zu Ende gespielt hat, denn Hölle und Verderben, Elend und Verdammnis setzen ein, jedesmal, wenn die Demokraten ans Ruder kommen, dessen können Sie in Ruhe versichert bleiben!« Er räusperte sich, leckte seinen großen Daumen, schwang mit einem heftigen Ruck nach vorn und spuckte. Und auf eine Weile ward es still, und die Boardinghouse-Gäste warteten.

»Herrgott!« sagte mein Vater schließlich. Und nun sagte er es traurig-düster und fast unhörbar leis. Und plötzlich war all das alte Leben mit der heulenden Wucht seines Redeschwalls von ihm gewichen, und er war wieder ein alter Mann, siech, gleichgültig, todkrank, und auch seine Stimme klang wieder alt und verbraucht und schauderhaft müd.

»Herrgott!« murmelte er betrübt und schüttelte wehmütig den Kopf ins Dunkel. »Ich hab sie alle erlebt ... hab sie drankommen und abgehen gesehn ... Garfield, Arthur, Harrison und Hayes ... und sie alle, alle, alle sind tot ... Ich bin der einzige, der noch übrig ist«, behauptete er unlogischerweise, »und bald werd auch ich nicht mehr da sein.« Er schwieg einen Augenblick. »Ziemlich sonderbar ist es schon, wenn man's bedenkt, bei Gott, ziemlich sonderbar«, murmelte er und verstummte. Und Dunkelheit, Geheimnis und Nacht umgaben uns ganz.

Garfield, Arthur, Harrison und Hayes – Zeit von meines Vaters Zeit, Blut von seinem Blute, Leben von seinem Leben – waren lebendige, wirkliche, tatsächliche Menschen gewesen, und mein Vater hatte sie erlebt mit der ganzen Macht und Leidenschaftlichkeit seines jugendlichen Gefühls. Und für mich waren sie die verlornen Amerikaner. Ihre bärtigen, vor lauter Gesetztheit leeren Gesichter vermischten sich, zergingen und flössen durcheinander in den Meerestiefen einer Vergangenheit, die mir so unantastbar, unermeßbar und unerforschlich war wie die verschüttete Stadt Persepolis.

Und sie waren verloren.

 

Denn: wer war Garfield, der Blutzeuge, und wer hatte ihn auf den Straßen des Lebens wandeln sehn? Wer konnte glauben, daß sein Tritt je auf einsamem Pflaster hallte? Wer hatte die Stimme des Chester Arthur gehört, wenn dieser selbstverständliche, beiläufige, vertraute Worte sagte? Und wo war Harrison? Wo Hayes? Welcher hatte die Backenkrause, welcher den Knebelbart? Welcher war welcher?

Waren sie nicht verloren?

In ihre Ohren wie in unsre hallte das Getös von vergeßnen Menschenmengen, in ihren Hirnen wie in unsern hafteten die Millionen Eindrücke verlorner Zeit, und sterbend erlebten sie brechenden Blicks plötzlich das bittre Weh und die Freude von ein paar todhellen, beständigen und vergänglichen Erinnerungen: – das Gezettel eines Blatts an einem Zweig, das Schleifen einer Radfelge am Rinnstein, den langen, fernen, dahinrollenden Donner eines Zugs auf den Schienen.

Garfield, Hayes und Harrison waren aus Ohio, aber nur Garfields Name glänzte kraft seiner Blutzeugenschaft. Und doch: hatten sie nicht alle nachts das Heulen des sinnlosen Winds gehört und den Schutt scharf zu Boden prasselnder Eicheln? Waren sie nicht alle in Winternächten auf einsamen Wegen gegangen und hatten ein Licht gesehn und gewußt, dort wären sie zu Haus? Hatten sie nicht alle die Wildnis gekannt?

Hatten sie nicht alle den Geruch von alten Kalblederbänden gekannt, überhaupt den Geruch von abgegriffnem und abgenutztem Leder? All die Gerüche, die einem Yankee-Rechtsanwalt vertraut sind, den starken Geruch von Kautabakspritze und Pissoirs im Amtsgericht, den Geruch von Pferden, Geschirr, Heu und schwitzenden Bauern, den Geruch von Gerichtssälen und Geschwornenzimmern, den starken, männlichen Geruch der Gerechtigkeit in den Gerichtshöfen der County-Hauptstädte? Und gehört, wie in dunklen Korridoren ein Wasserhahn im Dunkel tropfte mit der pünktlichen, sich steigernden Eintönigkeit der Zeit, der dunklen Zeit?

Waren nicht Garfield, Hayes und Harrison in rechtswissenschaftlichen Büchern lesend in Anwaltstuben gesessen, in denen es dunkelbraun roch? Und waren nicht unterm Fenster, Staubschwaden aufwirbelnd, Pferde vorübergetrappelt auf Straßen, auf denen wahllos da und dort grobgezimmerte Holzhäuser standen neben Backsteinbauten mit aufgedonnerten, sandsteinernen Schauseiten? Und hatten sie nicht von drunten die Stimmen der Müßiggänger gehört, saumselig heraufdringend in der trägen Hitze? Hatten sie nicht die beiläufig klingenden, volltönigen, mattheulenden Stimmen der ländlichen Mundart gehört und das Rauschen eines Frauenrocks und abwartende Stille und den schlau-verstohlnen Ton unzüchtiger Anspielung dann und großes Gebrüll, hohes, üppiges, ersticktes Gelächter und das Klatschen derber Hände auf feiste Schenkel? Und in der staubigen, dösigen Hitze, in der Zeit, die langsam summte wie eine Fliege, hatten dann Garfield, Arthur, Harrison und Hayes nicht den Fluß gerochen, die Feuchte, die feine Frische und die leichte Fauligkeit des Flusses, und dann am Ufer an weißes Frauenfleisch gedacht und eine langsam-dranghafte Leidenschaft in ihren Geweiden gespürt und eine schwere, reißende Kraft in den Händen?

Dann waren Garfield, Arthur, Harrison und Hayes in den Krieg gezogen; sie waren alle bärtige Männer, und jeder von ihnen wurde Brigadekommandeur oder Generalmajor. Sie sahen leuchtende Blutspritzer auf Halmen, sie hörten, wie Soldaten im Dunkeln vom Essen und von Weibern sprachen. Sie hielten im hellen Staub den Brückenkopf an Orten, wie sie Wilson's Mill und Spanglers Run heißen, und ihre Mannschaften brachen behutsam vor durch dichtes Unterholz. Und nach der Schlacht hörten sie die Flüche der Chirurgen und das kleine Raspeln der Sägen. Sie sahen junge Männer, die hilflos ihre herausquellenden Gedärme in den Händen hielten, junge Burschen, die mit angsthellen, flehentlichen Augen fragten: »Ist's schlimm, General? Glauben Sie, daß es schlimm ist?«

Die Kartätschenkugel machte ein fetziges Loch. Sie ratschte durch dichtlaubiges Gestrüpp und fuhr manchmal piff-päng in einen Baumstamm. Manchmal, wenn sie einen Mann traf, riß sie ihm das Schädeldach ab, – fetzige Wunde, so, daß das Hirn auf einen Fußbreit Wildnis schäumte und das Blut schwarz ward und gerann und der Mann in seiner dicken, plumpen Uniform, einen Geruch von Urin in der Wolle, liegen blieb, wie er gerade lag, linkisch, unausgereckt, mitten in einer unvollendeten Bewegung und in der Haltung des plötzlichen Todes. Und als Garfield, Arthur, Harrison und Hayes diese Dinge sahen, da sahen sie, daß es nicht so war, wie sie es sich als Knaben vorgestellt hatten, nicht so, wie in den Werken von Walter Scott und William Gilmore Sims, und daß da kein sauberes kleines Loch war mitten auf der Stirn, und auch, daß das Feld nicht grün war, noch eingefenzt, noch auch abgemäht, denn über der weiten, unerinnerlichen Erde lag das heiße, flirrende Licht des Mittags, ein Feld dehnte sich rüde den Hang hinauf bis an einen zackigen, aufragenden Wald, und so ging es weiter, Feld um Feld, Wasserrinnen, Schlüfte, Geländefalten in rüder, süßer, grenzenloser Entfaltung.

Garfield, Arthur, Harrison und Hayes blieben am Brückenkopf eine Weile stehn. Sie schwiegen, als sie das leuchtende Blut im Mittagslicht auf einem Weizenfeld sahen, sie schwiegen, als sie spürten, wie sich um sechs Uhr nachmittags die brütende Leisigkeit auf die Felder legte, über die bei Tagesanbruch die stürmenden Truppen vorgegangen waren, sie schwiegen, als sie sahen, wie eine ruppige Ranfthecke sich über die staubige Landstraße neigte, wie die rauhen Flurgräser und die trocknen, heißen Gänseblümchen vom Rain auf die Ackerscholle übergegriffen hatten, wie in der Schluft das felshelle Wasser des Flüßchens strudelte im süßen, kühlen Schatten überhängender Uferbäume.

Sie blieben am Brückenkopf stehn und blickten ins Wasser. Sie sahen die starren, leeren Wandflächen der alten, roten Mühle, – ein Anblick, der sie schmerzlich-freudvoll berührte wie Sonnenuntergang und Kühle. Und sie sahen in die Gesichter der Gefallenen, die im Weizenfeld lagen, die allerschlichtest vertrauten, im Tod fremd gewordnen Gesichter der toten Amerikaner. Sie standen eine Weile da und dachten, spürten und dachten, wortlose Verwundrung im Herzen:

... »Als wir an der Schwelle des Abends standen, gelehnt an den Rahmen der wunderbaren Türen, als wir in die Stille aufgenommen wurden an den Flanken des Abhangs im schrägeinfallenden Licht, als wir die seltsamen, leisen Schatten kommen sahen, von denen die Fernen verstummten, und um alle Dinge wußten, – was konnten wir dann sagen außer diesem, daß ringsum alle unsre Kameraden ruhig hingestreckt lagen und daß der Mittag fern war?

Was können wir nun sagen von dem einsamen Land, was von den todlosen Formen und Gehalten, was können wir sagen, wir, die wir hier leben mit unserm Leben, unserm Blut, Gebein und Hirn und all unsern stummen, zungenlosen Sprachen und auf so mancher Straße die schlicht-vertrauten Stimmen von Amerikanern hören, wir, die wir morgen in der Erde begraben werden und wissen, die Felder werden sich in Schweigen hüllen, das schräge Licht wird noch schräger auf die Hügel fallen, und Friede und Abend werden wiederkommen nach uns, die wir dann eins sind mit den Millionen Formen und dem einzigen Gehalt unsres Landes, eins mit dem Abend, dem Frieden, mit der riesig einherschreitenden, anwogenden Nacht, eins auch mit dem Morgen?

Stille, nimm uns auf, Feld des Friedens, Leisigkeit des unermeßlichen Lands, der unverminderten Entfernungen; Wesen des einen einzigen Gehalts und der Millionen Formen, fülle uns wieder auf, stelle uns wieder her und mache uns eins mit Deinen weiten Wahrbildern von Ruhe und Freude; komm schnell nun, hereinwogende Nacht, hülle uns ein, Stummheit, in Dein großsterniges Geheimnis, sprich unsern Herzen vom Stillesein, denn wir haben keine Sprache, um mehr zu sagen als dies!

Da ist die Brücke, über die wir kamen, die Mühle, in der wir nächtigten, die Rinne, in der das Flüßchen zieht. Da ist ein Weizenfeld, eine Hecke, eine staubige Landstraße, ein Apfelgarten, und dort auf jenem Hügel der süße, wildverworrne Wald. Da liegt um sechs wieder das Feierabendlicht auf den Fluren, nun und immer, ganz wie es aufimmerdar sein wird bis ans Ende der Welt. Und ein paar von uns sind in der Früh beim Vorgehen über dieses Feld gefallen, – und das war Zeit, Zeit, Zeit. Wir werden nicht wiederkommen, wir werden nie wieder zurückkommen, wir werden nie wieder auf dieser Landstraße hierher zurückkommen, so wie wir es einmal, wie wir es diesen Morgen taten, und darum, Brüder, laßt uns, eh wir weitergehn, noch einmal alles betrachten ... Da ist die Mühle, da ist die Hecke, da schießt das felshelle Wasser im Schluchtbett des Flüßchens, und da ist die süße und sehr trauliche Kühle unter den Uferbäumen. Und bestimmt, Brüder, wir sind zuvor schon einmal hierhergekommen!« riefen sie aus.

»O bestimmt, Brüder, wir sind vor der Mühle auf der Brücke gesessen und haben zusammen gesungen beim felshellen Wasser des Flüßchens, wir sind zuvor schon am Morgen über das Weizenfeld gekommen und haben den tausüßen Vogelsang aus der Hecke gehört! O Du einfache, allervertrauteste, allerschlichteste Erde, stolze Erde dieses erhaben unsäglichen Lands, stolze, edelschwellende Erde mit all Deiner Zarte und Wildheit, Deiner Unbändigkeit und Deinem Schrecken, – großartige Erde in all Deiner Schönheit, Einsamkeit und wilden Freudigkeit, furchtbare Erde in all Deiner grenzenlosen Fruchtbarkeit, die Du mit unendlichen Falten und Windungen, immerdar in den Westen reichend, schwillst – amerikanische Erde – Brücke, Hecke, Fluß und staubige Landstraße, Du schlichtes, ungeheures Gedicht von Wilsons Mill, wo heut morgen junge Soldaten gefallen sind im Weizenfeld – Du unsäglich fern-nahe, fremd vertraute, schlichte Erde der Bezaubrung, für die ein Wort genügte, wenn wir es finden könnten, für die ein Wort genügte, wenn wir sie beim Namen anrufen könnten, für die nur ein Wort genügt, das nie gesprochen und nie vergessen werden kann, das nie offenbart werden wird, – o Du stolze, vertraute, edelschwellende Erde, uns ist, als müßten wir Dich zuvor gekannt haben! Uns ist, als müßten wir Dich schon immer gekannt haben, aber alles, was wir gewiß wissen, ist, daß wir einmal im Morgen auf dieser Landstraße herkamen, und nun hat unser Blut den Weizen gefärbt, und nun bist Du unser und wir sind Dein auf immerdar, – und da ist etwas, dessen wir uns nie erinnern werden, und da ist etwas, das wir nie vergessen werden.« ...

 

Waren Garfield, Arthur, Harrison und Hayes jung gewesen? Oder wurden sie etwa alle als Männer geboren, Männer mit Knebel- oder Backenbärten und steifen, flügeleckigen Stehkragen, Männer, die, noch in Mutterarmen gewiegt, bereits die gesetzten, edlen, leeren Sonoritäten weitsichtiger Staatsmannschaft verkündeten? Das konnte nicht sein. Waren sie nicht jung gewesen in den dreißiger, vierziger, fünfziger Jahren? Haben sie nicht wie wir nachts auf einsamen Wegen in den Wind geschrien? Und ist nicht, in ihnen wie in uns, Jubel und Verzücktheit gewesen, als sich das volle Maß ihres Lebenshungers, ihrer mächtigen, anfänglichen Hoffnungen in diesem einzigen, wortlosen Schrei ausschrie?

Sind sie nicht wie wir in ihrer Jugend in dunklen Nachtstunden auf und ab geschlichen und sahen das bleiche Licht flackern und zucken in den Gaslaternen an den Ecken von alten, gepflasterten Straßen, in denen Sandsteinhäuser standen? Haben sie nicht trappelndes Hufgeklapper und das Gerumpel zweirädriger Mietskutschen auf jenen schnöden Holpersteinen gehört und im Dunkel zitternd gewartet, bis die Kutsche vorbeigefahren und der einsame, leiser werdende Hall der klingenden Hufe verhallt und nicht mehr zu hören war?

Und hatten Garfield, Arthur, Harrison und Hayes dann nicht in der Nachtstille, auf der einsamen gepflasterten Straße leise auf und ab schleichend, gewartet, mit bebenden Lippen, benommenen Eingeweiden und pochendem Herzen gewartet? Hatten sie nicht die Zähne zusammengebissen und jähe, unschlüssige Bewegungen gemacht, und Schrecken, Freude und die lähmende, nahe Ekstase gespürt und dann gewartet, – gewartet worauf? Hatten sie nicht die heiser zischenden Puffstöße aus den Schornsteinen kleiner Lokomotiven gehört? Als sie warteten, hatten sie da nicht den heftigen, einsammachenden Lebenshunger der Jugend in sich und ringsum die maßlos bewegte Schlafstille mit den Herzschlägen von zehntausend Schläfern gespürt, als sie warteten, warteten in der Nacht?

Hatten sie nicht wie wir den Blick aufwärts gewandt und das hehre, besternte Antlitz der Nacht gesehn und die ungeheure, fliederfarbne Dunkelheit, die im April auf Amerika liegt? Hatten sie nicht den jähen, schrillen Schreipfiff abfahrender Züge gehört? Hatten sie nicht, von Gefühlen und Gedanken bewegt, wartend den unermeßlichen, geheimnisvollen Kontinent der Nacht gesehn, die wilde und lyrische Erde, so beiläufig hingebreitet, süß und fremdvertraut in all ihrer Weite, Wüstheit und Freudigkeit, mit ihrem Geheimnis und ihrem Entsetzen, grenzenlos und rüd aufgerollt in ihrer Zartheit und unbezähmten Fruchtbarkeit? Hatten sie nicht Gesichte gesehn von Ebnen, Gebirgen und durchs Dunkel ziehenden Strömen, Gesichte vom ungeheuren Gefüge der immerdar dauernden Erde und der allverschlingenden Wildnis Amerikas?

Hatten sie nicht wie wir im Dunkel wartend die einsam-große Erde der Nachtzeit und Amerikas gespürt, über die hingestreut zehntausend einsam-kleine, schlafende Städtchen liegen? Hatten sie nicht, Überland gelegt, das zerbrechliche Netzwerk aus hellen, klappernden, schlechtgenieteten Schienen gesehn, auf dem einsame, kleine Züge durchs Dunkel sausten, eine Handvoll verlorner Echos ans Flußufer werfend, ein dröhnendes Echo an die Klippe des Felseinschnitts, – und dann nicht gesehn, wie die kleinen, einsamen Züge von der großen, einsamen Nacht verschlungen wurden, von der über allem brütenden, alles verschlingenden Nacht? Hatten sie nicht wie wir um die wild-innige Freude, ums heilige Rätsel der immerdar dauernden Erde gewußt, um das fliederfarbne Dunkel und um die unbezähmte, stumme, alles besitzende Wildnis, die einrückte in den Umkreis von zehntausend einsam-kleinen Städtchen, den Umkreis von zehn Millionen verlornen, einsamen Schläfern, und abwartend stille hielt und aufimmerdar dablieb und schwieg?!

Hatten nicht Garfield, Arthur, Harrison und Hayes dann gewartet und unbändige Freude und Kummer im Herzen gespürt und wüsten Hunger und Verlangen, – eine Flamme, ein Feuer, eine Furie, – als sie so heftig und hager und einsam brannten in der Nacht, brannten, immerdar brannten, während die Schläfer schliefen? Haben sie nicht gebrannt, gebrannt, gebrannt, ganz so wie wir gebrannt haben? Brannten Garfield, Arthur, Harrison und Hayes nicht in der Nacht? Brannten sie nicht nachts in der Kleinstadtstille mit all dem heftigen Hunger, all der wüsten Leidenschaft, all dem grenzenlosen Verlangen, das junge Männer in diesem Land immerdar verspürt haben und verspüren?

Waren also Garfield, Arthur, Harrison und Hayes nicht gleich uns wartend mit benommenen Lippen, pochendem Herzen und Furcht, Lust, starke Freudigkeit und Entsetzen in den sich regenden Eingeweiden in der stillen Straße vor einem Haus gestanden, stolz, schlimm, üppig, gewiß, heimlich und allein? Und als sie die Hufe und Räder, als sie den jähen Zugpfiff hörten, und dann, als sie wieder in die unheimliche Schlafstille der Stadt lauschten, hatten sie da nicht im Dunkel wartend gedacht: –

»Oh, es gibt Neulande, den Morgen und eine strahlende Stadt! Bald, bald, bald!«

Empfanden Garfield, Arthur, Harrison und Hayes, diese heftigen, jubelnden, jungen Männer, die in der schnöden, stummen Gasse gewartet haben wie wir mit bebenden Lippen, benommenen Händen und dem lebendigen Gerege aus Entsetzen, wüster Freude und heftiger Raublust im Eingeweide, – empfanden sie nicht dasselbe wie wir, als sie im Dunkeln den Warnpfiff des abfahrenden Zugs hörten und den Rumpeldonner der Räder am Flußufer? Empfanden sie nicht wie wir, als sie da warteten auf der unerträglich holden, wilden, geheimnisvollen, schreckhaften Erde, auf der süßen Erde im Monat April, und sich allein wußten, lebendig und jung und verrückt vor Verlangen und Hunger und heimlich in der großen Schlafstille der Nacht, – empfanden sie nicht die verhängnishafte, grausame Verheißung dieses Landes, das dem Menschen alles verspricht? Wurden sie nicht von hartem Weh und wortloser Lust zerrissen, von der Natter der Zeit gestochen, vom Dorn des Frühlings durchbohrt, vom jähen, zügellosen Schrei schier zersprengt? Sagten sie nicht:

»Oh, Frauen gibt es im Osten, ... und Neulande, den Morgen und eine strahlende Stadt, ... vergeßnes Gekräusel aus hellem Rauch über Manhattan, den Wald der Masten um die volkreiche Insel, die stolze Kielspur abfahren der Schiffe, die Wabe der ragenden Stadt, den flughaften Schwung und die Freudigkeit der großen Brücke ... und Männer mit runden, steifen Hüten, die über die Brücke kommen und uns grüßen ...? Kommt, Brüder, laßt uns gehn und das alles finden! Denn: – das große Raunen vom Leben in der millionenfüßigen Stadt, fern wie Bienengesumm, schläfernd, fremd wie die Zeit, ist heimsucherisch uns zu Ohr gedrungen mit all seinen goldnen Wahrsagungen von Freude und Sieg, schönem Geschick und Glückseligkeit und Liebe, wie Männer sie nie zuvor gekannt haben. O Brüder, in der Weltstadt, im weithinstrahlenden, herrlichen, zeitgebannten Zauberglanz der fabulösen Weltstadt werden wir große Männer und liebliche Frauen finden und unaufhörlich zehntausend neue Wonnen und tausend magische Abenteuer! Wir werden morgens erwachen in unsern üppig braunen Zimmern und wiederum Hufschlag und Rädergerassel auf den Straßen hören und die frische, halbfaulige Feuchte des Hafens riechen und den Gürtel der hellen Meeresgezeiten sehn und das Gehn und Kommen stolzer, seetüchtiger Schiffe und die Reinheit und Freudigkeit des tanzenden Morgengolds auf den Wellen!«

»Straße am Tag!« riefen sie. »Straße mit dem unaufhörlichen Gelöbnis Deines millionenfüßigen Lebens, wir kommen zu Dir! Straße voll Räderdonner im Mittag, Straße der großen Propagandaumzüge (– die Männer marschieren, die schmetternden Trompeten kommen näher, das Banner wird tapfer geschwenkt, so, daß es wie die Strudelstreifen in einer Zuckerstange aussieht –), Straße der Schreie und Rufe, der schwärmenden Füße, der holpernden Kutschen, der klingenden Hufe, der Pferdefuhrwerke mit dem Schellengeschirr (– der Gaul links vom Leitgaul neigt ständig nickend das traurige Haupt seinem hagern, geduldigen Kameraden zu –), große Straße des wütig bewegten Lebens, des Mittags und der freudvollen Arbeit ... Dein Wahrbild brennt auf immer in unsern Herzen, und wir kommen!«

»Straße am Morgen, Straße der Hoffnung!« riefen sie. »Straße der Kühle und des schrägeinfallenden Lichts, der klippenhaften Häuserstirnen und der Schluchten aus steilen Blauschatten! Das Morgengold tanzt auf den Wassern sprühender Gezeiten, am rostigen, wetterbeschlagnen Leitseil kommt das stumpfnasige Fährboot angeschäumt mit dem Wall kleiner, weißer, starrender Gesichter, die alle voll Spannung Dir zugewandt sind, stolze Straße! Straße voll vom kräftigen, schwiemeligen Geruch von frischgemahlnem Kaffee, vom guten, grünen Geruch des Gelds, von frischen, halbfauligen Hafengerüchen, die den Wald der Masten, den Schwarm der Schiffe heraufbeschwören, große Straße! Straße der alten Gebäude, üppig-schmierig vom warmen, mürben Schmutz des Handels, Straße der Millionen Füße, die alle immer in der gleichen Richtung eilen, stolze Straße von Hoffnung, Freude, Verlangen, in Deinen steilen Schiliften werden wir den Wohlstand, den Ruhm, die Macht und die Achtung erringen, die unsrer Begabung gebühren!«

»Straße bei Nacht!« riefen sie. »Große Straße voll Geheimnis und Spannung, Schreck und Entzücken, Begierde und Hoffnung, Straße, ständig berammt von der dunklen Drohung verhangener Freude, einer unbekannten Glücksal und der Erfüllung, Straße des Vergnügens, der Wärme und des Übels, Straße der großen Hotels, der schwelgerischen Bars und Speisehäuser, mit dem sanftgoldnen Glühn, den abklingenden Lichtern und der Blütenblätterweiße von tausend stummen, dürstenden Gesichtern in vollbesetzten Theatern, Straße mit den Flutzeiten der Gesichter von Menschen, die, von Millionen Lichtern begrellt, sich unermüdlich und ungestillt auf ihrer unersättlichen Vergnügungssuche drängen, Straße der Verliebten, die langsamen Schrittes daherkommen, die Gesichter einander zugewandt mit der Selbstvergessenheit der Liebe, verloren im dauernden Durcheinanderweben der Menge, Straße des fahlen Gesichts, des geschminkten Munds, des Einladung funkelnden Augs, – o Straße bei Nacht mit all Deinem Geheimnis, Deiner Freudigkeit und Deinem Schrecken, – wir haben an Dich gedacht, stolze Straße!«

»Und abends werden wir auf lautlosen, tiefen, prächtigen Teppichen gehn, durch all die erleuchteten, von Vergnügen, Wärme und Glückseligkeit strahlenden, von leisem Geklimper und sehnsüchtigen Geigen durchhallten, nächtlichen Säle, wo die lieblichsten und begehrenswertesten Frauen der Welt (die beliebten Töchter der Großkaufleute, der Bankiers, der Millionäre, oder reiche junge Witwen, schön, liebend und allein) einhergehen mit langsamem, stolzfließendem Gang, einen Ausdruck von tiefenloser Zärtlichkeit auf den zerbrechlich feinen, lieblichen Gesichtern. Und die lieblichste von allen«, riefen sie, »soll unser sein, soll aufimmerdar unser sein, wenn wir sie mögen! Denn, Brüder: in der Weltstadt, in der weithinstrahlenden Weltstadt, der magischen und goldnen, werden wir mit großen Männern und herrlichen Frauen verkehren und nichts anders kennen als starke Freude und dauernde Seligkeit und im schicksalsschönsten, glückhaftesten Leben, das jemals Menschen gegönnt war, den höchsten, ehrenvollsten Platz einnehmen, wenn wir nur gewillt sind, hinzugehn und uns dies alles zu eigen zu machen.«

Also –: haben sie, die in der Schlaf stille der Nacht auf stummen Straßen wie wir gedacht, empfunden und gewartet, wie wir den gellenden Warnpfiff und den Rumpeldonner des Zugs am Ufer gehört, wie wir das Geheimnis der Nachtzeit und des April gespürt haben, die ungeheure, dranghafte Gegenwart und das wilde, innige Gelöbnis der unbändigen, einsamen, immerdar dauernden Erde, die wie wir keine Tür zum Eintreten haben finden können, wie wir vom Dorn des Frühlings gestachelt und vom scharfen, wortlosen Schrei zerrissen wurden, – haben sie, diese jungen Männer der Vergangenheit, Garfield, Arthur, Harrison und Hayes, nicht ganz wie wir in ihrem kleinen Gehäus aus Gebein, Blut, Sehnen, Schweiß und Todesnot die unleidliche Last aus all dem Schmerz und der Lust, all der Hoffnung und dem wüsten Hunger getragen, wie sie ein Mann nur tragen kann, wie sie die Welt nur kennt?

Waren sie nicht verloren? Waren sie nicht verloren, verloren wie alle unter uns, die in Amerika jung gewesen sind und den Hunger der Jugend gelitten und nachts hager, verrückt und einsam gewartet und kein Ziel gefunden haben, keine Mauer, keine Wohnstatt und keine Tür?

 

Die Jahre fließen dahin wie Wasser, und eines Tags ist es wieder Frühling. Werden wir je wieder wie einst am Morgen zum Osttor hinausfahren und wieder wie damals Neulande suchen, die Verheißung von Krieg und Herrlichkeit, von Freude und Triumph und eine strahlende Stadt?

O Jugend, noch wund, lebendig, empfindsam in unaussprechlichem Weh, noch geschmerzt von unerträglichem Kummer, noch dürstend von unstillbarem Durst, – wo sollen wir suchen? Denn der wilde Sturm bricht herein über uns, die wilde Furie geißelt uns, der wilde Hunger zehrt an uns, und wir haben keine Wohnung und keine Tür, Linderung wird uns keine gereicht, wir sind immerdar Getriebene, und in unsern Hirnen haust Wahnsinn, und unsre Herzen sind wild und wortlos, und sprechen können wir nicht.


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