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Die Wendung in meinem Leben, die mich vor neue große Aufgaben stellte, trat rascher ein, als ich erwartet hatte. Mein Freund Alfred Woltmann, für dessen Geschichte der Malerei ich den ersten, die Malerei der Alten Welt behandelnden Teil geschrieben hatte, war am 6. Februar 1880 in Mentone, wo er vergebens Heilung gesucht hatte, seinem Leiden erlegen. In Straßburg, dessen Universität ihn im Herbst 1878 aus Prag berufen, konnte er nur in dem darauffolgenden Winter seine Vorlesungen halten. Seit dem Mai 1879 siechte er langsam dahin. Von seiner großen Geschichte der Malerei war der erste Band, der, außer meinem Anteil, die Geschichte der Malerei des Mittelalters enthielt, 1879 erschienen. Für den zweiten Band hatte Woltmann die Geschichte der niederländischen und der deutschen Malerei des 15. Jahrhunderts bereits druckfertig vollendet, aber auch die der italienischen Malerei dieses Zeitraums zum größten Teile bereits geschrieben, als seine Krankheit ihm die Feder entwand. Es fehlten nur noch die letzten Kapitel der oberitalienischen Schulen der Frührenaissancezeit. Diese vollendete, dem Wunsche des Verstorbenen entsprechend, unser gemeinsamer Freund Hubert Janitschek, der ebenfalls früh verstorbene, seinerzeit berühmte Kunsthistoriker, der nachmals Anton Springers Nachfolger in Leipzig wurde.
Mir übertrug der Verleger E. A. Seemann in Leipzig die weitere Fortsetzung und Vollendung des ganzen Werkes. Von der Geschichte der Malerei des 15. Jahrhunderts fehlte außer dem italienischen Schlußkapitel, das die Schulen von Verona, Vicenza, Mailand und den kleineren oberitalienischen Städten behandelte, nur noch der kurze Abschnitt über die spanische und portugiesische Malerei dieses Zeitraums. Dann ging es ins große, blühende 16. Jahrhundert hinein.
Selbstverständlich war es mir eine große Freude und Genugtuung, mit der Vollendung des Werkes beauftragt zu sein, das damals durch Woltmanns meisterhafte Beherrschung des Stoffes und der Sprache alle Blicke auf sich gezogen hatte und strenge Wissenschaftlichkeit mit allgemeinverständlicher Klarheit und leichtflüssiger Darstellung in einer Weise verband, wie nur wenig andere Bücher dieser Art. Ebenso selbstverständlich aber war ich mir, nicht ganz ohne Bangen, der großen Verantwortung bewußt, die ich mit der Fortsetzung dieses Werkes übernommen hatte. Vor allen Dingen mußte ich mir über die wissenschaftlichen Grundsätze klar werden, denen ich folgen wollte. Gerade das Jahr 1880 war der Ausgangspunkt neuer Anschauungen in dieser Beziehung. Daß die Kunstgeschichte von der Renaissance an, d. h. von der Zeit an, in der große, fest umrissene Künstlergestalten in den Vordergrund traten, sich auf der Künstlergeschichte aufbauen müsse, wurde damals noch nicht bezweifelt, sondern als selbstverständlich angesehen. Da das Wesen der großen Künstler aber vielfach durch die Unsicherheit der ihnen mit Recht zuzuschreibenden Bilder verdunkelt und verwirrt wurde, so galt es in höherem Maße als bisher, die Kunstwerke zu sondern und zu sichten, um die künstlerischen Persönlichkeiten klarer und sicherer herausarbeiten zu können.
Das Lebenswerk jedes Meisters von den vielen ihm fälschlich zugeschriebenen Bildern zu reinigen und durch ihm irrtümlich vorenthaltene Werke zu ergänzen, erschien damals als eine nächstgelegene Aufgabe der kunstgeschichtlichen Forschung. Was Kenner wie mein Landsmann, der alte G. F. Waagen in Berlin, der 1869 gestorben war, namentlich für die deutschen und niederländischen Schulen, wie Crowe und Cavalcaselle namentlich für die italienischen Schulen geleistet hatten und jüngere Kenner, von denen nur Wilhelm Bode in Berlin genannt sei, erfolgreich weiterführten, erschien einigen Forschern plötzlich als zu »intuitiv« und nicht erfahrungsmäßig begründet genug.
Mit den Mitteln der exakten Naturwissenschaften glaubte namentlich der treffliche Doktor der Medizin und italienische Reichssenator Giovanni Morelli, der unter dem russischen Namen Iwan Lermolieff in deutscher Sprache schrieb, eine neue Methode des vergleichenden Bilderstudiums – wie ich zuerst es meines Wissens nach dem Vorbilde des »vergleichenden Sprachstudiums« genannt habe – begründen zu können. Sein Buch »Die Werke der italienischen Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin«, das 1880 erschien, wirkte in manchen Beziehungen umstürzlerisch. Wesentlicher noch als die urkundliche, schriftstellerische und selbst die inschriftliche Beglaubigung alter Bilder, der er als Ausgangspunkt seiner »Bestimmungen« freilich doch nicht entraten konnte, erschien dem italienischen Forscher ihre Beglaubigung durch scharfe Beobachtung naturwissenschaftlich greifbarer Einzelheiten. An ihrer einmal angenommenen Art, Nasen, Lippen, Augen, Füße, Hände, Zehen, Finger, Gewandfalten und Haare zu gestalten, pflegten die Meister wenigstens in den gleichen Zeiträumen ihres Lebens festzuhalten. Vor allem an diesen Einzelheiten lehrte Morelli die Meister erkennen, wie die Vögel an ihren Federn. Daß seine Methode, sowenig sie sich als unfehlbar erwies, die Bilderforschung wesentlich gefördert hat, wird noch heute anerkannt werden müssen. Daß Morelli, der von Haus aus die Liebenswürdigkeit selbst war, sich im Bewußtsein der wirklichen oder vermeintlichen Überlegenheit seiner Methode in nicht immer liebenswürdiger, oft sarkastischer Weise, die die Lacher auf seine Seite zu ziehen suchte, an Kennern wie Crowe und Cavalcaselle und wie Bode zu reiben liebte, werden diese ihm längst verziehen haben.
Am Ende aber traf Morelli selbst nur deshalb in vielen Fällen das Richtige, weil er die malerische Handschrift der ihm vertrauten Meister beim ersten Anblick erkannte, wie wir alle die Briefaufschriften unserer Freunde erkennen, ohne erst ihre Einzelheiten mit anderen zu vergleichen. Aber freilich gibt es auch im Handschriftenvergleich Streitfälle, die die Sachverständigen nur durch solches Eingehen auf Einzelzüge entscheiden. Unzweifelhaft sind manche Bilderbestimmungen Morellis nur deshalb so überzeugend, weil sie durch die scharfe Vergleichung aller Einzelheiten bewiesen werden. Ebenso unzweifelhaft aber erscheinen andere seiner Aufstellungen gerade deshalb als verfehlt, weil er, anstatt den Blick aufs Ganze zu richten, ihn zu sehr an den Einzelheiten haften ließ. Jedenfalls wäre Morelli auch ohne seine Methode einer der besten Kenner Europas gewesen.
Da ich, wie erwähnt, noch einen Teil der oberitalienischen Schulen für den zweiten Band der Geschichte der Malerei zu behandeln hatte und mich damals von Morellis Methode, seinem Stil und seiner literarischen Persönlichkeit mächtig angezogen fühlte, setzte ich mich, nachdem ich seine Bestimmungen zunächst in der Berliner Galerie verglichen, brieflich mit ihm in Verbindung und erhielt von ihm selbst schon für diese Kapitel noch manche Hinweise. Persönlich lernte ich ihn erst später in Dresden kennen und lieben und suchte ihn auch wiederholt in Mailand auf, wo er wohnte. Nicht groß von Gestalt, fiel er durch seinen schönen, lebhaften italienischen Kopf mit ergrauendem Knebelbart auf. Er war eine der umgänglichsten und anregendsten Persönlichkeiten, die mir begegnet sind. Solange er lebte, blieben wir brieflich und persönlich in freundschaftlichem Verkehr.
Was der reife Italiener für die italienischen Maler, hatte gleichzeitig ein junger Deutscher zunächst für die niederländischen und deutschen Maler des 15. und 16. Jahrhunderts in Angriff genommen. In demselben Jahre 1880, in dem Lermolieff-Morellis grundlegendes Buch erschien, wurde als Bonner Doktordissertation Ludwig Scheiblers Schrift über die Kölner Meister des 15. und 16. Jahrhunderts gedruckt, die sich, wenn auch nicht so einseitig wie Morellis Buch, auf dem gleichen Boden streng naturwissenschaftlicher Beobachtung bewegte. Scheibler, der einer bekannten rheinischen Fabrikantenfamilie in Düren angehörte, war Schüler Karl Justis in Bonn gewesen und wohl unabhängig von Morelli zu ähnlichen Überzeugungen gekommen wie dieser. Persönlich war er, trotz seiner schwarzen Augen und Haare, ein starkknochig niederdeutscher Geselle, aber auch ein prächtiger, wegen seiner unbedingten Wahrhaftigkeit und Selbstlosigkeit durchaus liebenswerter Sonderling. Wie und wo ich ihn zum ersten Male gesehen, ist mir entfallen. Bonn ist ja so nahe an Düsseldorf. Nachdem Ende 1881, mit der Jahreszahl 1882, der zweite Band von Woltmanns und meiner Geschichte der Malerei erschienen war und Scheibler aus meiner Behandlung der letzten Kapitel gesehen hatte, daß ich im Sinne Morellis, der auch der seine war, eine richtige Zusammenstellung der echten Werke jedes Meisters für die notwendige Grundlage einer neuen Kunstgeschichtschreibung hielt, setzte er sich brieflich mit mir in Verbindung, um mir seine Unterstützung anzubieten, die ich natürlich dankbar annahm.
Für sich selbst hat Scheibler nur wenig mehr veröffentlicht; doch zog Bode ihn für eine gemeinsame Arbeit über Bernhard Strigel, den großen Oberdeutschen des 16. Jahrhunderts, und für die Mitbearbeitung des mustergültigen wissenschaftlichen Verzeichnisses der Berliner Gemäldegalerie heran; Scheiblers Hauptwerk, die Geschichte der Kölner Malerschule, das er mit Karl Aldenhoven, dem Direktor des Kölner Museums, schrieb, erschien aber erst 1902. Seine eingehenden Untersuchungen der Lebenswerke der übrigen deutschen und niederländischen Meister des 15. und 16. Jahrhunderts, die er in allen Galerien Europas gemacht hatte, selbst zu verarbeiten, lag ihm nicht. Uneigennützig in seltenem Maße, war er vollkommen befriedigt, wenn andere sie der Kunstgeschichte zuführten.
Scheibler stellte mir für meine Weiterarbeit an meiner Geschichte der Malerei, die sich zunächst den deutschen und niederländischen Malern der großen ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zuzuwenden hatte, sein gesamtes handschriftliches und photographisches Material zur Verfügung, mit dem in der Hand ich, um mir durch vergleichende Nachprüfung vor den Bildern ein eigenes Urteil zu bilden, noch von Düsseldorf aus die wichtigsten deutschen, belgischen und holländischen Galerien wiederbesuchte. Scheibler wurde auf diesem Gebiete mein eigentlicher Lehrer. Ich nahm Scheiblers Uneigennützigkeit mit aufrichtigem Dankgefühl, aber, wie mir heute scheint, immer noch als selbstverständlicher an, als sie war. Ich fühle heute deutlicher als je, wieviel ich ihm schuldig bin.
Für die deutsche Kunstgeschichte des 16. Jahrhunderts, in der mein Anteil mit der zweiten Hälfte des zweiten Bandes begann, brachten meine mit Scheiblers Aufzeichnungen und Abbildungen durchgeführten eigenen Untersuchungen eine Fülle neuer Ansichten und Anschauungen. Neu war z. B. meine Darstellung der Jugendentwickelung Lukas Cranachs des Älteren, die zugleich die »Pseudogrünewaldfrage« aufrollte. Mit Scheibler hatte ich erkannt, daß zahlreiche Bilder, die früher, als man noch keine Ahnung von der eigenartigen Größe des echten Matthias Grünewald und seiner leidenschaftlichen Ausdruckskunst hatte, diesem großen Meister zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit teils eigenhändige Jugendwerke Cranachs, teils Bilder aus seiner Werkstatt seien. Wenngleich in den letzten Jahren schon eine Reihe anderer Kenner, einschließlich Woltmanns, unserer Ansicht vorgearbeitet hatten, erregten meine Ausführungen in dem Buche hier und da lauten Widerspruch. Namentlich Friedrich Niedermayer, der zusammenhanglose, von Archivstudien ausgegangene archäologische Funde für beweiskräftiger hielt als jeden Bildervergleich, tat sich viel auf die Entdeckung eines bis dahin unbekannten Meisters Simon von Aschaffenburg zugute, den er, da einige der fraglichen Bilder für Aschaffenburg gemalt waren, mit großer Lebhaftigkeit für den Pseudogrünewald erklärte.
Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich mich in einen wissenschaftlichen Streit verwickelte, mich angegriffen sah und zu verteidigen hatte. Ich glaube, Scheiblers und meine Ansicht in einem eingehenden Aufsatze, der Anfang 1882 in der Kunstchronik erschien, entscheidend verteidigt zu haben. Als aber später ein so bedeutender Forscher wie Hubert Janitschek in seiner großen Geschichte der deutschen Malerei der Ansicht Niedermayers wieder teilweise zustimmte, war ich genötigt, nochmals ausführlich auf die Pseudogrünewaldfrage einzugehen, und nun schlossen sich nach und nach alle Kenner unserer Ansicht an. Über einzelne Bilder wird sich natürlich immer streiten lassen. Daß Eduard Flechsig, der sich später gründlich mit der sächsischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts befaßte, eine Reihe der Pseudogrünewaldbilder auf Lukas Cranachs früh verstorbenen Sohn Hans Cranach zurückführte, widersprach unserer Ansicht nicht, die sich, wie es scheint, endgültig behauptet hat.
Auch meine eigenen früheren Sonderforschungen über die Geschichte der Landschaftsmalerei kamen gleich den ersten Abschnitten meines Buches zugute. Als vorteilhaft erwies sich namentlich, daß ich mich, noch unabhängig von Scheibler, eingehend mit Patinir und mit Bles beschäftigt hatte. Erst später, in den Abschnitten des 17. Jahrhunderts, des klassischen Zeitalters der neueren Landschaftsmalerei, kamen dann meine gründlichen eigenen Studien zur Geschichte dieses Kunstzweigs in größerem Umfang zur Geltung. Daß die neue weitergehende Aufgabe, die ich übernommen hatte, meine frühere Absicht, eine besondere Geschichte der neueren Landschaftsmalerei zu schreiben, vereitelte oder vielmehr völlig in sich aufsog, verstand sich eigentlich ebenso von selbst, wie daß gerade die Abschnitte über die Landschaftsmalerei in meiner Gesamtgeschichte der Malerei am meisten Neues und Selbständiges brachten.
Tiefer noch als der Tod Alfred Woltmanns griff ein anderer Todesfall des Jahres 1880, wenn nicht gerade in mein wissenschaftliches, so doch in mein gesamtes übriges Leben ein. Am 25. Juli dieses Jahres starb mein Vater in seinem Landhause an der Elbe. Schon im Februar, wenige Tage nachdem ich die Nachricht von Woltmanns Hinscheiden erhalten, wurden wir durch die Mitteilung, mein Vater habe einen Schlaganfall erlitten, nach Hamburg gerufen. »Ich bin ja erst 67 Jahre alt, und es heißt: Des Menschen Leben währet 70 Jahre«, sagte er mir damals nach der ersten schmerzlichen Begrüßung. Anscheinend erholte er sich wieder. Als ein zweiter Anfall im Frühling erfolgte, aber mußte er endgültig seiner rastlosen Tätigkeit in zahllosen Ehrenämtern der Stadt Hamburg und in dem eigenen großen Handelshause entsagen. Der größte Kummer, der während der letzten Jahre an seinem Leben gezehrt hatte, war die lange Krankheit meines Bruders Adolph gewesen, der zwei Jahre, von 1877 bis 1879, fest gelegen, sich aber durch seine eigene eiserne Energie von einem Übel, das mehr mechanischer als innerlicher Art war, befreit hatte. Daß mein Bruder seit dem Herbst 1879 seine Stellung im Geschäft wieder in vollem Umfang ausfüllen konnte, war meines Vaters letzte große Freude gewesen und jetzt sein Trost bei dem Gedanken, der ihm rasch klar wurde, sein Lebenswerk selbst nicht weiterführen zu können.
Den März und April verbrachten meine Eltern, dem Rate der Ärzte entsprechend, in Wiesbaden, wohin sie während der Osterferien meine Frau und mich einluden. Es waren schöne, durch halb wehmütiges Zusammenleben geheiligte, aber noch durch Hoffnung verklärte Wochen, die wir damals, von duftendem Frühlingsweben umwogt, mit meinen Eltern in dem schön gelegenen deutschen Badeorte verbrachten. Sie hatten sich dort mit allen Behaglichkeiten umgeben, und mein Vater war noch frisch genug, die Reize der landschaftlichen Umgebung auf Wagenfahrten und selbst kleinen Spaziergängen genießen zu können, auch warmen Anteil an meinem schriftstellerischen Schaffen zu nehmen, dem ich mich dort sozusagen unter seinen Augen hingab. Ich feilte und beschnitt damals in Wiesbaden die beiden Bände meines Reisetagebuches, das herauszugeben, ehe ich die Arbeit an dem Woltmannschen Werke begann, ich mir vorbehalten hatte.
Ich bin seit dieser Zeit mein Leben lang nicht ohne schriftstellerische Verpflichtungen, die ich übernommen hatte, gewesen; und es machte meinem Vater Freude, Zeuge dieser Tätigkeit zu sein. Mir aber ist es ein Trost, daß mir damals noch vergönnt gewesen, in nahem Zusammenleben mit ihm mich des hohen Wertes seiner festen, klaren, weitsichtigen und großherzigen Persönlichkeit noch einmal voll bewußt zu werden. Den Mai und Juni verbrachten meine Eltern, Heilung für den Kranken suchend, in Reichenhall. Anstatt sich zu verbessern, verschlimmerte sein Zustand sich dort. Nach Neumühlen zurückgekehrt, lebte mein Vater hier nur noch wenige Wochen. Ein dritter Schlaganfall bereitete ihm ein rasches Ende.
Ganz Hamburg nahm lebhaften Anteil an seinem Hinscheiden. Ein Wagenzug von ungeheurer Länge begleitete ihn von seinem Landhause an der Elbe zu seinem schlichten Grabe auf dem Sankt-Petri-Kirchhof in Hamburg, von dem er später nach der schönen Ruhestätte übergeführt wurde, die die Familie auf dem neuen Ohlsdorfer Parkfriedhof erworben hatte.
Was mich innerlich bewegte, mußte ich mein Leben lang in Versen gestalten. Woltmann widmete ich einen Nachruf in zwei Sonetten, die in den »Grenzboten« (1880, S. 472) gedruckt wurden. Was ich bei meines Vaters Tode empfand, gestaltete sich in einem Sonett, das ich selbstverständlich nicht sofort hätte veröffentlichen mögen. Es wurde erst in den nächsten Band meiner Gedichte aufgenommen.
Ein Mann der Tat! Im großen Weltverkehre
Der Besten einer, wie in Amt und Würden.
Er trug zu Hause willig alle Bürden;
Doch seine Flagge trugen alle Meere.
Ein Mann der Tat! Zugleich ein Mann der Ehre,
Die Ritter ihm und Fürsten neiden würden;
Sein Banner trug zu schwarzer Wilden Hürden
Der Menschlichkeit und der Gesittung Lehre.
Ein Mann wie Gold, ganz ohne Falsch befunden;
Der Selbstsucht Feind, der feilen Heuchler Schrecken,
Der Waisen Tröster und der Witwen Rater!
Sein Tod schlägt viele hundert Herzenswunden.
Mich aber will das Weh zu Boden strecken;
Denn, ach, der Vielgeliebte war mein Vater.
Die Reederei meines Vaters, die nach wie vor zunächst seiner eigenen Warenaus- und -einfuhr diente, hatte in den letzten Jahren aus 12 großen, jetzt großenteils bereits eisernen Segelschiffen bestanden. Aber namentlich seine Beziehungen zu Westafrika, wo er auch größere Pflanzungen erworben hatte, nahmen, obgleich das junge Deutsche Reich sich noch nicht entschlossen hatte, hier oder sonstwo Kolonien zu gründen, einen solchen Umfang an, daß die Segelschiffahrt nicht mehr ausreichte, sie aufrechtzuerhalten. Mein Vater entschloß sich 1879, zur Dampfschiffreederei überzugehen. Mit einem Küstendampfer, der den Verkehr zwischen seinen afrikanischen Niederlassungen vermittelte, hatte er schon 1878 begonnen. Das erste große Dampfschiff, das für regelmäßige Fahrten zwischen Hamburg und der afrikanischen Westküste bestimmt war, hatte er 1879 bis 1880 noch selbst bauen lassen. Es nahm seine Fahrten aber erst nach seinem Tode auf.
Hatte mein Vater dieses erste große Dampfschiff nach unserer zweiten Mutter Aline Woermann genannt, so nannte mein Bruder Adolph, der nun an die Spitze des Geschäftes trat und bald auch außerhalb seiner Vaterstadt die Blicke auf sich lenkte, das zweite Dampfschiff nach unserem Vater Carl Woermann; das dritte, zu dessen Taufe meine Frau und ich zu Anfang April 1882 nach Hamburg berufen wurde, erhielt nach mir den Namen Professor Woermann. Diese Schiffstaufen waren eigentlich eine merkwürdige Zeremonie. Der Gevatter hielt eine Taufrede und ließ dann eine mit einem Stricke an Bord befestigte Flasche Schaumwein an den Eisenrippen des Täuflings zerschellen. Es wurde ganz ernst genommen; und ich glaube, mich meiner Aufgabe damals auch mit dem nötigen Ernst entledigt zu haben. Die Schiffe haben ihre Schicksale. Ein hohes Alter erreichen die wenigsten. Dem ersten »Professor Woermann« folgte ein zweiter, folgte 1911 ein dritter, den die Woermannlinie, in die damals die Privatreederei der alten Firma übergegangen war, mit besonderer Pracht ausstattete. Dieser mußte nach dem Weltkriege den Feinden ausgeliefert werden, wurde dann aber von einer anderen deutschen Reederei zurückgekauft und durchfurcht heute unter fremdem Namen die alten Ozeane.
Die Trauer um meinen Vater hatte natürlich unserem großen und ziemlich geräuschvollen geselligen Leben in Düsseldorf ein jähes Ende bereitet. Den Winter von 1880 auf 1881 verlebten wir in wohltuender Ruhe, stiller Arbeit und besinnlicher Häuslichkeit. Im Frühling und Sommer 1881 unternahmen wir größere Kunststudienreisen für die große Geschichte der Malerei: die schönste, die auf Oberitalien ausgedehnt wurde, in den großen Herbstferien. Da ich mir Hochtouren zu Fuß versagen mußte, gehörten Alpenfahrten, so hoch sie zu Wagen gemacht werden konnten, zu den größten Naturgenüssen meines Lebens. Damals fuhren wir im vierspännigen Landauer über das von frischen Alpenlüften umhauchte Stilfser Joch nach Italien hinein und ebenso über den Sankt Gotthard wieder zurück. Schöneres gab es nicht.
Der Winter 1881 auf 1882 bildete dann den Höhepunkt meiner Tätigkeit an der Akademie, die mich in ihr Direktorium berufen und mir auch die Leitung der akademischen Sammlungen übertragen hatte, der Sommer 1882 aber auch den Höhepunkt unseres Lebens mit und auf dem Rheine, zu dem mir als Mitglied des Rudervereins alle Wege geebnet waren. Um weitere Ausflüge mit Freunden und Freundinnen in bequemerem Boot als den schmalen flachen Sportbooten machen zu können, ließ ich mir von der Alster ein behagliches Boot kommen, das nach meiner Frau »Ada« genannt wurde. Die Freundschaft mit Ernst von Pfeffer und Walter von Diest, den leidenschaftlichen Ruderern, machten Fahrten in dem neuen Boote zugleich zu Freundschaftsfeiern.
Konnte es etwas Herrlicheres geben, als das Leben, das wir jungen Eheleute damals in Düsseldorf, der in allen heiteren und geschmackvollen Lebensfreuden schon großstädtisch werdenden Rheinstadt führten, von Freunden umgeben, von allen Künsten umschmeichelt, von den Wogen meiner Wissenschaft wie von denen des Rheinstroms getragen? Ja, es war eine schöne Zeit. Dennoch aber sehnte ich mich oft genug ganz im stillen nach großzügigeren, vielseitiger angeregten Verhältnissen, nach umfangreicherer Tätigkeit und nach unmittelbarerem Verkehr mit machtvolleren Kunstschätzen. War dieses anmutige, alles in allem aber doch ziemlich provinzielle Leben wirklich das, wofür ich meinen juristischen Beruf in Hamburg aufgegeben, meine beiden großen Kunstreisen unternommen und schon eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten geschaffen hatte? Mußte ich mich nicht, wenn auch nicht nach einem anderen Leben, so doch nach einem anspruchsvolleren Wirkungskreise sehnen? Ganz leise und verschwiegene Hoffnungen hatte ich mir wohl gemacht, an Woltmanns Stelle nach Straßburg berufen zu werden. Aber bei näherer Überlegung mußte ich mir selbst sagen, daß dies noch ausgeschlossen war. Dort handelte es sich um den Lehrstuhl für neuere Kunstgeschichte. Ich galt in den strengen Gelehrtenkreisen aber als Archäologe. Auf dem Gebiete der Archäologie lagen bisher meine selbständigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Meine »Kunst- und Naturskizzen« hatte Woltmann selbst als nicht geeignet bezeichnet, mir Aussicht auf eine Universitätsprofessur zu eröffnen. Meine Fortsetzung der Woltmannschen Geschichte der Malerei aber hatte erst eben eingesetzt. Das von ihr bis dahin Erschienene genügte noch nicht, mich auch zu Woltmanns Nachfolger in Straßburg zu bestimmen.
Ich selbst hatte mich nicht um meine Düsseldorfer Stellung beworben – und war auch zu stolz dazu, mich um irgendeine andere Stellung zu bewerben. Aber die Zeit war gekommen, daß man von selbst an mich dachte.
In Dresden war am 29. Mai 1882 Hermann Hettner, der ebenso vielseitige und gründliche wie geistreiche Kunst- und Literaturgeschichtschreiber gestorben, der Professor der Kunstgeschichte an der dortigen Kunstakademie und der dortigen Technischen Hochschule, zugleich Direktor der Antikensammlung, der Sammlung der Gipsabgüsse und des Historischen Museums gewesen war, an der Kunstakademie aber auch die Vorlesungen über Dichtkunst gehalten hatte. Hettner war eine der ausgesprochensten und angesehensten Persönlichkeiten des geistigen Deutschlands jener Tage. Dreiundzwanzig Jahre älter als ich, hatte er in einigen Beziehungen eine ähnliche Entwickelung durchgemacht wie ich. Von philosophischen und philologischen Studien ausgegangen, hatte er sich, nachdem er die Jahre von 1844 bis 1848 in Italien zugebracht hatte, von der abstrakten der konkreten Ästhetik, der Geschichte der bildenden Künste und der Literaturgeschichte zugewandt. Sein erstes Buch, die »Vorschule zur bildenden Kunst der Alten«, das 1848 herauskam, ließ ihn zunächst als Archäologen erscheinen; schon 1850 aber folgte sein Buch über die romantische Schule in ihrem Zusammenhang mit Goethe und Schiller, 1853, nachdem er mit dem Landschaftsmaler Ludwig Preller dem Älteren eine Reise nach Griechenland unternommen, erschienen seine »Griechischen Reiseskizzen«. Von Heidelberg, wo er drei Jahre Privatdozent der Universität gewesen war, 1851 als außerordentlicher Professor der Ästhetik, der Kunst- und der Literaturgeschichte nach Jena berufen, wandte er sich hier zunächst ganz der Geschichte der Dichtkunst zu. Seine vielbändige »Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts«, deren einzelne Teile, wie die Geschichte der englischen, der französischen und der deutschen Literatur jenes Zeitraums, jeder für sich zahlreiche Auflagen erlebte, wurde allgemein als eines der besten Werke anerkannt, die in deutscher Sprache geschrieben worden. In Dresden, wohin er im Frühling 1855 berufen worden war, wandte er sich im Anschluß an die Sammlungen, die er leitete und deren wissenschaftliche Kataloge er schrieb, wieder mehr den bildenden Künsten, und zwar zunächst denen der Griechen zu. Doch fanden auch seine »Italienischen Studien«, die 1879 erschienen, Zustimmung und Beifall.
Hettners wissenschaftlicher und literarischer entsprach auch seine menschliche Persönlichkeit. Aus dem glattrasierten Charakterkopf strahlten durchdringende helle Augen hervor; und was er sagte und wie er es sagte, war nicht minder anziehend und anregend als was er schrieb. Ich hatte ihn 1878 mit meiner jungen Frau in Dresden aufgesucht; und wir bewahrten die angenehmsten Erinnerungen an ihn und seine Gattin, eine Tochter des seinerzeit geschätzten Miniaturmalers August Grahl (1791-1868), der, durch eine reiche Heirat hierzu imstande, sein Haus in Dresden zu einem Mittelpunkt einer großen und geistreichen Geselligkeit gemacht hatte.
Für die Nachfolge Hettners hatte man in Dresden an mich gedacht. Wie es bei solchen Berufungen in manchen Fällen üblich war, ließ man durch einen ordentlichen Professor der Technischen Hochschule unter der Hand bei mir anfragen, ob ich eine Berufung an Hettners Stelle annehmen würde, wenn man sie mir anböte. Nach reiflicher Überlegung lehnte ich ab. Das Schwergewicht lag bei den fünf verschiedenen Ämtern, die Hettner nach und nach in seiner Hand vereinigt hatte, doch auf seiner Leitung der Antikensammlung. Ich hatte mich aber durch die Übernahme der Fortsetzung der großen Geschichte der Malerei bereits zu sehr auf diese eingestellt, als daß ich der antiken Bildhauerei, so sehr auch diese mir ans Herz gewachsen war, meine amtliche Haupttätigkeit zuwenden gekonnt hätte. Auch waren es mir der Nebenämter zu viele, die ich übernehmen sollte; und meine Frau hatte gar keine besondere Neigung, ihre Vaterstadt gegen Dresden einzutauschen. Welch ein Glück aber auch für die plastischen Sammlungen Dresdens, daß statt meiner Georg Treu, der Olympianer, der Entdecker des Hermes des Praxiteles, ihr Direktor wurde, der sie zu hoher Blüte brachte.
Bald darauf erhielt ich, ebenfalls unter der Hand, die Anfrage, ob ich eine außerordentliche Professur der Kunstgeschichte an der Breslauer Universität annehmen würde. Wenngleich ein außerordentlicher Mensch höher eingeschätzt wird als ein ordentlicher, so ist bei den Lehrstühlen unserer Hochschulen bekanntlich das Gegenteil der Fall. Wäre es eine ordentliche Professur gewesen, so hätte ich mich keinen Augenblick besonnen. So bat ich mir Bedenkzeit aus. Man stellte mir die Umwandlung der außerordentlichen in eine ordentliche Professur in absehbarer Zeit in Aussicht. Aber das genügte mir nicht.
Aus dem Zwiespalt erlöste mich noch vor dem Abschluß meines außeramtlichen Briefwechsels mit Breslau eine von Anfang an amtliche Berufung in eine Stellung, die kein Kunstschriftsteller der Welt ausgeschlagen hätte. Der sächsische Kultusminister von Gerber trug mir an, an Julius Hübners Stelle, der in den Ruhestand getreten war, Direktor der berühmten Gemäldegalerie und zugleich an Ludwig Gruners Stelle, der gestorben war, Direktor des Kupferstichkabinetts und der Sammlung der Handzeichnungen in Dresden zu werden. Dieses Mal besann ich mich keinen Augenblick; auch meine Frau überwand sofort ihre leisen Einwände gegen Dresden. Nachdem einige Bedenken, die ich in Einzelfragen geltend machte, zu meiner Zufriedenheit behoben worden, wurde meine Berufung glatt vollzogen.
Meine erste Begegnung mit meinem neuen Minister und seiner Familie fand im Bade Oeynhausen statt, wo er die Kur gebrauchte. Wir trafen uns, einander von selbst erkennend, auf dem Bahnsteig. Vor und nach dem Mittagessen, zu dem er mich eingeladen hatte, hatten wir Zeit genug, uns auszusprechen. Karl Friedrich von Gerber (1823-91) war Professor des deutschen Rechtes und des Staatsrechtes in Erlangen, Tübingen, Jena und Leipzig gewesen, als König Johann, der Danteübersetzer, ihn 1871 als Kultusminister nach Dresden berief. Er war eine nicht eben große, aber kräftig gebaute Erscheinung mit frischem, bartlosem, rundem Kopfe, von dem man eigentlich nur die klugen lebhaften und wohlwollenden braunen Augen sah. Da er aus seiner Gesinnung keinen Hehl machte, kamen wir einander rasch näher. Daß er von Kunst nicht viel verstand, wurde mir sofort klar; auch später in Dresden erschrak ich manchmal geradezu, wenn er die glattesten, süßlichsten und kindlichsten Bilder bevorzugte. Aber er verlangte in dieser Beziehung keine Berücksichtigung seines persönlichen Geschmackes und hatte auf anderen Gebieten so gesunde und oft sogar frische Ansichten, daß man sich keinen besseren Kultusminister wünschen konnte. Mir gefiel gleich damals, daß er als die drei großen Deutschen, die er als seine Leitsterne ansähe, Luther, Goethe und Bismarck nannte. Im übrigen unterrichtete er mich von den Einrichtungen, denen ich mich in Dresden einzuordnen habe. Keineswegs angenehm war mir seine Mitteilung, daß der König gerade jetzt befohlen habe, ein Prinz des königlichen Hauses, der Prinz Georg, sollte als stimmberechtigtes Mitglied und als Ehrenvorsitzender in die Galeriekommission eintreten, die nach den ihr gegebenen Satzungen nicht nur über Bildereinkäufe, wie in wohl allen Galerien, sondern auch über die Bilderrestaurationen und Bilderhängungen mit zu entscheiden hatte. Ich erlangte wenigstens die Zusicherung, die mir auch schriftlich gegeben wurde, daß ich die Hängung der Bilder selbständig vorzunehmen berechtigt sei. Im übrigen war ich zu wenig höfisch, ja monarchisch eingestellt, um die Beteiligung eines königlichen Prinzen an meinen Aufgaben als ein besonderes Glück anzusehen. Aber, um es gleich zu sagen, dank der Einsicht und dem Taktgefühl der in die Kommission berufenen Prinzen sind mir Schwierigkeiten aus ihrer Mitarbeit niemals erwachsen.
Im August fuhr ich mit meiner Frau nach Dresden, um dort eine Wohnung zu suchen, die wir in dem Erdgeschoß eines schönen Hauses der Wiener Straße fanden, aber auch, um mich mit dem vortragenden Rat der Generaldirektion der Sammlungen, meinem Vorgänger in Düsseldorf, Wilhelm Roßmann, den wir schon früher einmal in Dresden besucht hatten, auszusprechen und um meinen Dresdener Vorgänger, dem Maler Julius Hübner, unsere Aufwartung zu machen. Hübner empfing uns sehr freundlich, verbarg aber seine Mißstimmung darüber nicht, daß man ihm, wie er sich ausdrückte, »den Stuhl vor die Tür gesetzt habe«. Nun, da er bereits seinen 75. Geburtstag gefeiert hatte, wäre das nach heutiger Ansicht längst selbstverständlich gewesen. Es war damals hier aber auch mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit der Streit darüber entbrannt, ob Maler oder Kunstgelehrte geeigneter seien, Gemäldegalerien zu verwalten; und die öffentliche Meinung, die eben angefangen hatte, sich für die Leitung der Gemäldegalerien durch gelehrte Vertreter der Kunstgeschichte zu entscheiden, hatte sich hierfür gerade auf einige unglückliche Ankäufe Hübners für die Dresdner Galerie und eine Reihe unverständlicher, auch von Lermolieff-Morelli verspotteter Bilderbenennungen seines Galeriekatalogs berufen.
Daß die Galerie unter Hübners Leitung auch solche Meisterwerke, wie Mantegnas heilige Familie und Antonelli da Messinas heiligen Sebastian erworben hatte, und daß sein Katalog für seine Zeit immerhin eine Leistung gewesen, übersah man. Aber natürlich war auch ich, ohne es dem klugen und vielseitig begabten alten Herrn ins Gesicht zu sagen, der Ansicht, daß es die höchste Zeit gewesen sei, Meister seiner Art durch Kenner zu ersetzen, die sich berufsmäßig mit dem vergleichenden Bilderstudium befaßt hatten. Wir schieden damals als gute Freunde, beide von dem besten Willen beseelt, einander das Leben nicht zu verbittern. Doch starb er schon einen Monat, nachdem ich am 1. Oktober 1882 meine Ämter in Dresden angetreten hatte.
Der Abschied von Düsseldorf wurde uns, als es Ernst wurde, doch schwer. Meine Frau war ja durch hundert Familien- und Jugendfreundschaftsbande mit ihrer feinen Vaterstadt verknüpft, und sie sollte jetzt erst endgültig ihr Elternhaus, in dem wir gewohnt hatten, verlassen. Ich sollte von einer mir lieb gewordenen Tätigkeit, von zahlreichen treuen und teuren Freunden und vom Rhein, dem damals wirklich noch »freien deutschen Rhein« scheiden, dessen Wogen mir mehr gewesen waren als manchem anderen. Mein Boot freilich nahm ich mit nach Dresden. Daß ich wieder an einen der großen deutschen Ströme versetzt wurde, war mir ein Trost. Der Gedanke, in eine Stadt ziehen zu müssen, in der es keine Wasserfahrten zu machen gab, wäre mir hart gewesen; und daß der Strom, an den ich zog, derselbe war, an dem ich geboren und aufgewachsen war, verlieh ihm selbst dem Rhein gegenüber für mich einen gewissen Eigenwert. Am 22. Oktober warf ich einen Herbstveilchenstrauß von der Mitte der alten Dresdner Brücke in den Fluß und schrieb meiner teuren alten Großmutter, deren neunzigster Geburtstag an diesem Tag war, das Sträußchen solle, stromabwärts treibend, ihr in ihrem Landhause an der Elbe geradeswegs unsere Grüße überbringen.
Berichtigungen des 1. Bandes stehen am Ende des 2. Bandes. Berichtigungen hier eingepflegt. Re für Gutenberg